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Konrad Weiß: Deutschlands Morgenspiegel

Vorwort

Deutschlands Morgenspiegel, ein Buch vom Sinne von Deutschland, enthält die gedankliche Fassung von Reisen durch den größten Teil des nördlichen Deutschlands. Eine mehrfache freundschaftliche Fügung gab den Anlaß, und die Zeit verstärkte sowohl Anlaß als Sinnrichtung. Der Inhalt ist die Erfahrung der geschichtlichen deutschen Landschaft oder näherhin die Absicht, einen besonderen alt-kunstgeschichtlichen Sinn deutscher Landschaften sehend zu erwecken und auf diesem Grunde von unserem Mittelalter aus dem ganzen deutschen Wesen nachzufühlen. Mehrfache Zustimmungen, gerade auch von Norddeutschland, wo man sich durch diese noch wenig geübte Art einer Erfassung des mittelalterlichen Geistes im Landschaftsbilde angesprochen fand, schienen zu bestätigen, daß die Richtung auf eine solche Betrachtung möglich und zeitgemäß sei.

Der Versuch also, den Geist einer Landschaft oder seine geschichtliche Bedingung und zeitliche Ausbildung zu erkennen, war der treibende, wenn auch auf Reisewegen nur lose in eine Ordnung zu knüpfende Gedanke. Von Tag zu Tag sieht man ein anderes Stück Landschaft. Von Form zu Form vertieft oder ändert sich auch das Zeitbild. Die Zeugnisse, welche die Zeiten in den deutschen Landschaften erstellt haben, ergeben eine fast bis zum Gegensätzlichen breite Spanne im deutschen Wesen. Und also reist man durch die Wechselbilder vor allem der mittelalterlichen Formen und Räume, welche von Berufenen kunstgeschichtlich aufgenommen und verarbeitet sind. Der Sinn des Reisenden, dem die festgestellten Daten helfen müssen, will sich damit aber noch nicht zufrieden geben. Immer wollen für ihn die alten Formen ein Anstoß sein, um mit einem näheren Gefühl in das ganze, das geschichtliche und das doch bleibende deutsche Wesen hineinzureichen. Was ist der deutsche Sinn des alten Formgeschehens gewesen, oder wie wird aus den alten Sichtbarkeiten ein währendes Gefühl in uns noch immer gespeist? Oder, um es mit einer ganz unmittelbaren Frage zu sagen: ist denn zwischen dem Sinne des Mittelalters und einem neudeutschen Geiste, der sich etwa in einem dichterischen Wollen und Müssen wie bei Kleist offenbart, ein Zusammenhang? Sind wir noch die Deutschen, die wir damals waren, oder in welcher Weise gehen bestimmbare deutsche Wandlungen vor sich, indessen doch die Wesenheiten bleiben?

Diese Frage und dieser Zusammenhang ist so wenig kurz zu beantworten, so häufig und verschieden der Anstoß dazu dem bald nachdenklich und bald unbekümmert Reisenden in den Weg fallen muß. Bald dünkt die Beantwortung reizvoll und dem angeregten Spiel der Sinne leicht gegeben. Und um so mehr beglückt dann die Überzeugung, daß wir durch alle unsere Zeiten hindurch die gleiche und gebliebene Wesenheit der deutschen Menschen vor und in uns haben. Bald aber auch, und zwar um so mehr, je früher die Zeiten sind, die uns unser Erbe gaben, glauben wir, in Verhängnisse blickend, sagen zu müssen: was war, das ist nicht mehr. Und dennoch wollen wir es nicht aufgeben, einen Weg zu sehen, der durch unsere Frühe und durch unser Mittelalter ging, und der noch immer ein Weg des Zusammenhangs ist. Wir möchten den Trieb unseres Wesens in seiner Geschichte erkennen; und wir möchten wissen, wieso die Bildhaftigkeit und die Worthaftigkeit des deutschen Menschen, die offenbar für unsere Rasse eine eigene ist, wieso das Werdegesetz unseres Teiles der Kultur vor sich geht. Die Reisen also durch die Landschaften und besonders durch ihr Mittelalter geben dazu den fortwährenden Anstoß. Aber was wir als Antwort doch schließlich nicht geben können — denn wir können die Antwort nicht geben —, dafür soll wenigstens vom Zusammenhang dieser Landschaften her und aus der Folgeweise ihrer Sinnformen eine Richtung und Richtigkeit des Denkens in uns fühlbar und deutlich werden. Und dafür soll aber auch unser Bekenntnis zu einigen wesenhaften neudeutschen Dichtern wie Kleist oder auch Hebbel auf ihrem geschichtlichen Wege als ein Stück Antwort gelten. Dies letztere heißt allerdings das mehr Vordergründige oder — was wenigstens die Kunstgeschichte angeht — stilistisch Erklärbare mit etwas Hintergründigem beantworten und also die Spuren um den Mittelpunkt des Sinnes vermehren, den wir damit um so schwerer erfassen. Dies heißt auch die Antwort verschieben, so wie die Zeit sie immer verschiebt, die doch stets noch um dasselbe Wesen kreist.

War es nun Absicht, in den Beginn der Reisen ein Programm mitzunehmen, wie es in den Untertiteln für die einzelnen Reisen zum Vorschein kommt? War ein Sinngefüge für die deutschen Landschaften und damit auch in etwa für ihren Geschichtssinn geplant oder vorausgesehen? Oder will auch nur, was in dieser Richtung schließlich mit einigen Worten und Begriffen festzuhalten versucht wurde, über die eigene Angeregtheit des Reisenden und über die Anregung zu solchen Sinnfälligkeiten der Geschichtsdeutung hinaus Geltung verlangen? Weder dieses noch jenes; sondern der Sinn lebt von den Zufällen des Weges; und er darf nicht fruchtbarer oder eigensinniger sein wollen, als die uneinholbare Spanne der Geschichte es gestattet.

So geschah denn auch besonders der Beginn der Reisen mit Westfalen, wenn auch Naumburg zuvor im Plane stand, als ein glücklicher, freundschaftlicher Zufall. Entsprechend einem schweren Beginn unserer engeren Geschichte wollte dieser Zufall allerdings zu einem schwierigeren Versuche über das Gesetz der Geschichte selber Anlaß werden. Wenn dann ein weiterer glücklicher Zufall die Fahrten durch Mitteldeutschland ermöglichte, so mochte es um so mehr erfreuen, für diese zum Teil weniger besuchten Landschaften einen eigenen Sinn oder ein Band des Erkennens zu entwickeln. Der Norden mit Schleswig-Holstein, Mecklenburg, Pommern und mit den preußischen Landen mußte für den Süddeutschen schon an sich lockend sein. Dafür ließ sich die gedankliche Fassung allgemeiner halten oder so, wie sie unmittelbarer auf den nationalen Wuchs zuführt. Was aber mit Hessen vom Westen noch hereinkam, davon ein Stück Frankentum mit Aachen, das bringt den Sinn wieder zu den Schwierigkeiten unseres ersten Ansatzes. Es müßte seine sinngemäße Fortsetzung im Rheinland und weiter in den südlichen Landschaften finden, die einst den Römern zugänglich geworden waren.

Die Reichweite unserer Reisen aber war nicht dieser älteste Boden von Deutschland, sondern sozusagen Neudeutschland oder jenes Deutschland, dessen Wesen mit seinen geschichtlichen Sichtbarkeiten außerhalb des Limes aufgestanden ist. Hier wurde es allein die eigene spätere Geschichte, die den Boden fruchtbar und sinnreich gemacht hat. Hier kann sich auch der besondere Gedanke noch ansetzen, inwiefern der frühere oder spätere Anteil an der Geschichte überhaupt einen Sinn unterbaut hat oder weiterbildet oder freiläßt.

Reiselust müßte das erste Gebot eines Buches wie des vorliegenden sein. Denn es ist ja so, daß jeder neue und schöne Morgen den Sinn des vergangenen Tages, wenn nicht verleugnet, so doch gerne vergißt, um seinem eigenen Sinne offen zu werden. Mit jedem neuen Blicke trennen die Tage wieder auseinander, was die Gedanken verknüpft haben, und jeder Tag hilft so jenem fruchtbarsten Gesetze, das sich nie abschließen will. Immer leben wir ja mitten in der Geschichte. Die Politik trägt die Handlungen, die Geschichte zeichnet die Sichtbarkeiten auf, der Sinn hat die Nachlese zu halten; und er muß sich sagen lassen, daß er, wiewohl er auch die Anstrengung des Erkennens im Worte leisten will, eine beschauliche Vergnügung bleiben sollte. Dies gilt für die Vergangenheit. Freier und beständiger aber als alle Beschaulichkeit wirkt das deutsche Wesen weiter.