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Konrad Weiß: Zum geschichtlichen Gethsemane

Eugène Delacroix

Das Problem des romantischen Genies

Das Genie kommt in der Fülle seiner Zeit; aber es kommt nicht aus Freiheit, sondern aus Verhängnis. Es ist keine zeitliche Erfüllung; denn das wäre das Ende der Zeit, wie auch Christus Mensch wurde, um die Zeit nicht zu beenden. Das Genie ist nur die zeitmögliche Bewußtheit, zu der sich die Menschengeschichte immer wieder verdichten muß, um ihre ewige Richtung nicht zu verlieren, der Knoten, den der Halm sich setzt, um sich zu stärken.

Scheinbar kommt das Genie aus persönlicher Überfülle, aus eigener Freiheit, „als die Blüte und der reine Ertrag des Daseins“, sagt Schopmhauer. Es erscheint als die Frucht der Humanität, das Ziel der zentralen Menschenbildung. Es ist seine eigene Schöpfung, die Absicht der Menschwerdung, höchste Freiheit. Aber gerade Goethe, auf den dieser klassische Begriff des Genies am besten paßt, war gezwungen, seinen Faust, diesen Geist des echten Triebes nach einem falschen Ziele, durch den Regenbogen einer mystischen Religiosität aus den Kreisen seiner mit bewußter Freiheit errichteten Lebensökonomie herauszuretten. Die anthropozentrische Weltbetrachtung schmeichelt dem Menschen mit einer die Geschichte überragenden, ihr nicht mehr verantwortlichen Überfülle an persönlichem Gehalt. Sie betont das Bewußtsein der Freiheit und übersieht, daß die scheinbare Überfülle tatsächlich nur gewonnen wurde durch eine Verengung des Gefäßes der Persönlichkeit, daß das Bewußtsein der Freiheit nur zustande kommt durch die endlichen Grenzen, die dieses Genie sich aus der Unendlichkeit als seinen zeitlichen Verwaltungsbezirk usurpatorisch abgesteckt bat. Der klassische, humanistische Geniebegriff ist faßbar, man kann ihn pflücken wie eine Blüte. Aber hat man damit das Wachstum gepflückt? Die einzelne Menschenblüte ist sterblich, das Wachstum der Menschheit aber kann von einem Menschen nicht abgerissen werden. An Goethe ist sterblich, was er mit Freiheit getan bat, weswegen er ein Genie genannt wird, unsterblich die Knoten, in denen er die Notwendigkeit geschürzt hat, derentwegen er ein Genie ist.

Über dem begrifflichen Bewußtsein der Freiheit steht das geschichtliche Bewußtsein der Notwendigkeit. Die Romantik war die Rückbesinnung auf dieses geschichtliche Bewußtsein. Ihrer fatalistischen Energie war Napoleon nicht mehr zu groß, ihn zu überwältigen, wie Goethe verzweifelt hatte. Sie riß die endlichen Grenzen der anthropozentrischen Geistesbezirke aus, sie wollte den ganzen Komplex des unendlichen Lebens umfassen, sie ging darin auf. Der große Mensch verliert sich an die noch größere Welt und Geschichte. Das Genie kreist aus in jene Exzentrizität, die den Weltlauf überrunden möchte, und findet ihn schon im nächsten Kleinleben uneinholbar vollendet. Daher jener fatalistische revolutionäre Wagemut und daher auch jene Bitterkeit und Ironie, die das romantische Genie kennzeichnen. Das Suchen nach dem verlorenen Schatten der Persönlichkeit macht die romantischen Schöpfungen unfruchtbar an faßbaren Werten. Das romantische Genie wächst nicht in einem Lebenswerk zusammen zu einem egoistischen Organismus, seine letzten Schöpfungen zehren von der gleichen ausströmenden Kraft wie seine ersten und darum vielfach stärkeren. Es ist kein Kristall, der eine Form mit endlichen und zeitlichen Grenzen bildet, indem er die unendlichen Wasser ausscheidet; es ist ein Tropfen unendlichen Wassers, der sich in ein Volumen der Zeitlichkeit einsaugt und es auflöst, der die Ideen befreit, sie zur Geschichte zerstörend. Das romantische Genie, sei es, zumal das deutsche, persönlich auch von einer empfindlichen Bekümmernis um sein Selbst umwittert, ist einfach das Symbol der Geschichte, das Stück Zeitlichkeit, das der Kreis des Bewußtseins von der ewigen Erfahrung abzuschneiden vermag, die Schnittpunkte offenbaren die schmerzliche Tragik des Ungenügens. Die romantischen Schöpfungen sind das Wellenkräuseln der Idee in der Geschichte[1]

Der Geniebegriff ist wesentlich ein Gedanke des 19. Jahrhunderts, daß heißt einer Menschheit, die den Zwiespalt zwischen Müssen und Können in einer besonders starken Abendstimmung der Kultur empfand; sie trauerte hinter dem Entschwinden des vermeintlich einzigen Ideals, der Klassik, her. Der Ertrag dieser Trauer, sei es in optimistisch reproduzierenden Persönlichkeiten wie Goethe, sei es in reflexiv schöpferischen wie Schiller oder Hölderlin, macht den spezifischen Gehalt dieses Geniebegriffs aus. Er setzt sich aus naiven oder sentimentalen Widerständen gegen die Notwendigkeit der Geschichte zusammen. Er ist freiheitlich und darum künstlich einheitlich. Wie sich diese Einheit als künstlerische Freiheit zu der überwältigenden Kraft der älteren größten Künstlerpersönlichkeiten verhält, deren Wucht man sich nicht entziehen kann, und die doch scheinbar nicht selten die Besonnenheit und den gestaltenden Geschmack vermissen lassen, diese Grundfrage der künstlerischen Entwicklungstatsachen hat Eugène Delacroix in seinem Tagebuch[2] oft beschäftigt. Sein Lösungsversuch läßt durch die Betonung des Instinktes die Notwendigkeit über der Freiheit ahnen: „Es gibt sicher unter den Großen feurige, indisziplinierte Genies, die, wenn sie korrekt zu sein glauben, nur dem Instinkte gehorchen, der sich zweifellos manchmal täuscht. Michelangelo, Shakespeare, Puget (Rembrandt wäre in seinem Sinne beizufügen) sind Leute, die ihr Genie nicht führen, sondern von ihm geführt werden.“ ... Solche Männer sind „die Anreger und die Hirten der Herde. Sie sind Denkmäler, die oft unförmig, aber ewig sind, und die in den Einöden herrschen wie mitten in den raffiniertesten Zivilisationen, deren Ausgangspunkt und zugleich deren Kritik sie durch die ewigen Schriftzüge ihrer Werke sind“ ... Wenn die Menschen dieser Art „sich umgestalten, methodisch verfahren wollen, so werden sie kalt und sind nicht mehr auf ihrer Höhe“. Delacroix, der erste große Maler der neueren französischen Kunst, dessen Werke nicht mehr Produkte eines verfeinertern, um den roi soleil Mensch kreisenden eklektischen Kulturgeschmacks, sondern in einer revolutionären Zeit Spiegelungen eines die Menschheit aus dem Moment in den Zusammenhang fortreißenden Rhythmus sind, dessen eigene Bilder der Phantasie Stöße geben, die sich jedesmal erneuen, so oft man die Augen auf sie richtet, um die Worte zu gebrauchen, mit denen er einmal bei Rubens die Bildwirkung charakterisiert, er, der stärkste französische Romantiker, zeigt in dem feinen geistigen Unterschied zwischen seinem Tagebuch und seinem malerischen Werk, der kritischen Besonnenheit und der bedingungslosen Hingabe an die Idealität der Wirkung den charakteristischen Zwiespalt des romantischen Genies, das sich dem Fluß des Geschehens hingibt, ohne doch den selbstgewissen Ruhepunkt der klassischen Humanität ganz aus den Augen lassen zu wollen oder andererseits die weltauflösende, das einfache Licht der Erkenntnis prismatisch färbende Subjektivität überwinden zu können. Das romantische Problem ist eben, zeitlich verengt und verschärft, das spezifisch künstlerische Problem, das Problem der tiefsten Gestaltungsmöglichkeit unter dem Konflikt zwischen Freiheit und Notwendigkeit. Ist es Delacroix in den Gedanken seines Tagebuches immer wieder bewußt und unruhig gewesen, so ist in seinem künstlerischen Werk dagegen eine reine Genialität der schöpferischen Unbedingtheit wirksam geworden, wenn sie sich auch unter dem Einfluß der Tradition, des nationalen Charakters und vor allem der Zeitstimmung nicht zur weltsicheren Gelassenheit eines Shakespeare oder zur Selbstentfremdung eines Rembrandt und vollends nicht zur gläubigen Zielsicherheit eines Dante ausreifen konnte.

Es gehört zum tiefsten Wesen der Romantik daß sie nicht ausreifen konnte, daß sie — und darum erscheint sie, menschlich betrachtet, geringer als die Klassik — immer etwas Jünglinghaftes behielt. Das romantische Genie ist eine Quelle, aus der die Ideen in die Geschichte sprudeln, kein Becken, darin sie sich sammeln; die ersten Wellen sind oft die stärksten. Schließlich bleibt vielleicht nur ein geschrundetes Bachbett mit glänzenden, aber trockenen Steinen wie bei Brentano. Auch Delacroix ist über seine ersten Schöpfungen nicht mehr extensiv, sondern nur intensiv hinausgewachsen, im Gegensatz etwa zu Goethe, der, wenn auch allerdings durch Angliederung wesensfernerer Elemente, bis zuletzt extensiv wuchs. Im Jahre 1856, auf der Höhe seines indes nach wie vor bekämpften Ruhmes, hat Delacroix einige Gedanken über das Meisterwerk niedergeschrieben: „Ohne Meisterwerk gibt es keinen großen Künstler. Aber deswegen sind die, welche in ihrem Leben nur ein einziges Meisterwerk geschaffen haben, noch keine großen Künstler. Die Meisterwerke dieser Art sind für gewöhnlich die frucht der Jugend. Eine gewisse frühreife Kraft, eine gewisse Wärme, die ebensosehr im Blute wie im Geiste liegt, haben manchmal ein merkwürdig schönes Werk hervorgebracht. Um unter die großen zu zählen, muß man das Vertrauen, das man durch seine ersten Leistungen erweckt hat, durch die Werke des reifen Alters, des Alters der wahren Kraft verdienen. Und das ist stets der Fall, wenn ein wirklich starkes Talent vorhanden ist.“ Man glaubt den Alten von Weimar zu hören und nicht den Romantiker, der zur selben Zeit das 1845 gemalte Bild des „Raubes der Rebekka“ durch einen Tempelherrn aus einer belagerten Burg, dieses typische aus Walter Scott entnommene Werk romantischen Gepräges zur Ausstellung brachte, der vorher zeitgenössische Historien, 1824 das „Blutbad auf Chios“, 1830 das Barrikaden- und Revolutionsbild „Die Freiheit führt das Volk“ gemalt hatte, sein weiteres Leben hindurch seinen künstlerischen Drang nach Werken des Kampfes, der Entladung aus romantisch gährenden, taterfüllten Poesien Walter Scotts, Byrons, Shakespeares, Goethes sättigte oder den Orient in künstlerischen Kreuzzügen durchpilgerte, das will sagen, der den Drang der Zeit in sich wiederholte in einer Laufbahn vom ideellen Revolutionär bis zum selbstenteigneten Geschöpf der Tragik des Daseins, der vom Philhellenen und Freiheitshelden zum Wallfahrer wurde, als sagenhafter Ritter kämpfte, im Tiere das Grausen der Feindschaft alles Geschaffenen anstaunte und den Tod der Ophelia starb, der aus dem Drama schied als ein Mensch, der seine Rolle erfüllt hatte und nicht mehr die Kraft des Alters brauchte, um sich reflektierend zu überleben. Sein Meisterwerk ist, da es nicht auf die Idealität des Menschen gebaut ist, sondern unter der Idealität des Verhängnisses entsteht, am Anfang so groß wie am Ende. Es erscheint aber am Anfang größer, da der Wille noch mit dem Schicksal ringt, und dieses Pathos den Ausdruck formal steigert. Und es schmeckt nach der Herbe der Unreife, da das romantische Genie die Früchte zu früh pflückt. Freilich alle Kunst ist ein zu frühes Pflücken von Früchten des Lebens, sonst wäre keine Kunst möglich. Die Reife erhält sie durch die Illusion einer persönlichklassischen (Goethe), einer zeitlich-ideellen Erfülltheit (die Gotik). Delacroix, das romantische Genie einer Nation, deren Romantik ganz Gegenwart, weiteste revolutionäre ideelle Auflösung und lebendigste, Europa stürmisch vorauseilende, demokratische Geschichtsbildung[3] ist, war zu sehr bewegt, selbst zu blind, um diese Illusion zu genießen.

Delacroix mag bei seiner Bemerkung über die frühreife Kraft, die ein merkwürdig schönes Werk hervorbringt, an seinen Freund Géricault gedacht haben, der durch sein Bild „Das Floß der Medusa“, eine Schilderung mit dem Tode ringender Schiffbrüchiger, im Jahre 1819 am Ende der stolzen Empireherrlichkeit äußerlich den ersten Stoß in der Richtung zur romantischen Malerei wagte, den nervigen Pferdemaler und kühnen Reiter, dessen Leben ein Sturz vom Pferde früh endete. Als ihn der Tod abrief, war seine künstlerische Sendung schon vollbracht. Er starb, wie es seinen Fähigkeiten vorgezeichnet war. Delacroix ist in seinem 1822 vollendeten Anfangswerk, die „Dantebarke“, von ihm angeregt; als das zweite große Frühwerk, „Das Blutbad von Chios“, im Jahre 1824, dem Todesjahre Géricaults, die öffentliche Meinung beschäftigte, stand seine Kunst schon unter einer zweiten, malerisch wichtigeren Patenschaft. Von Constable waren einige Landschaften durch Kauf nach Paris gekommen. Die gelöste malerische Technik des Engländers, des ersten modernen Landschafters, [über?] dessen Verfahren Delacroix später notiert: „Constable sagt, daß das Grün seiner Wiesen deswegen so viel besser sei, weil es aus einer Menge verschiedener Grün zusammengesetzt sei“, war für ihn eine Offenbarung. Sein fertiges Bild übermalte er noch einmal kurz vor der Ausstellung unter dem Eindruck der Malweise Constables. Die schnelle geistige Berührung mit dem Volksgenossen im ersten Augenblick der romantischen Periode, die technische Beeinflussung durch den Engländer sind Daten, die geistige Form Delacroix hängt mit ihnen zusammen, aber sie hängt nicht von ihnen ab. Sie sind kunsthistorisch interessant, aber für den eigentlichen Wert seiner Kunst gleichgültig. Auch die einzelnen Tatsachen, daß Delacroix, der am 7. Floreal des Jahres VI (26. April 1798), also in der Revolutionsperiode, geboren wurde, und dessen Jugend gerade die Zeit der napoleonischen Herrschaft, das Empire ausfüllt, gegenüber dem Klassizisten David und dem Pseudoromantiker Ingres der künstlerische Revolutionär und Vorkämpfer der romantischen Malerei ist, daß er sich auf einer Reise in England mit dem neben Constable ebenfalls für die neue französische Naturmalerei wichtigen Bonington Anregungen verschaffte, daß er 1832 durch eine kurze Reise in Marokko die Orientmalerei in ein neues echteres Stadium brachte, daß er fenner mit der erfolgreichen Schule des paysage intime entsprechend seinen andersartigen Idealen nur lose Beziehungen unterhielt, daß er zwischen sich und dem Realisten Courbet eine breite Kluft erkannte und überhaupt künstlerisch während seines ganzen Lebens in einem lebhaften Gegensatz zu seinen Zeitgenossen stand, selbst die Tatsache, daß Frankreich in ihm nach der im Rokoko verflatterten Blüte eines Watteau, Boucher und Fragonard zum ersten Mal wieder einen Künstler erhielt, der den französischen Geist durch flämisch-künstlerisch beeinflußte Energie über sich selbst hinaushob, würden als solche ihn nicht zu dem Genie machen, das in Frankreich auch von den folgenden Malern bis heute, obzwar im Malerischen teilweise übertroffen, im Geistigen noch nicht erreicht wurde und das auch in Deutschland im gleichen Jahrhundert trotz eines Cornelius, Feuerbach und Marées in seiner zeitgemäßen und tendenzlosen Unbedingtheit seinesgleichen nicht fand. Es ist das tiefste Geheimnis des Daseins und der Kern der Geschichte, daß nur der unbedingtesten und bewußtesten Zeitgemäßheit auch die stärkste Wirkung der Idealität beschieden ist. Was Delacroix sich als Ziel dachte, wenn er ein Bild von Jordaens kritisierte: „Das gänzliche Fehlen aller Idealität beleidigt mich hier trotz der meisterhaften Malerei“, das wurde in seinem Werk zum Ausdruck, mehr als er selber wußte. Denn die bewußte Arbeit wird von der Notwendigkeit durchdrungen. Das positiv Revolutionäre wird wahre Tradition, wie denn auch Delacroix, der Sohn eines hohen Staatsbeamten, geistig aus Facherkenntnis konservativ und ein Aristokrat war, der mit dem Revolutionär und Zerstörer der Vendômesäule Courbet keine geistige Verwandtschaft hatte. So ist auch die romantisch explosive Form seiner Bilder zwar kunsthistorisch eine Zerstörung der klassischen, statisch aufgebauten, linear bestimmten Bildstruktur und der Anfang einer malerischen Kunstentwicklung, die das weitere 19. Jahrhundert bis heute beherrscht, und aus der Delacroix auch malerisch schon ganz bestimmte Wirkungen Manets, Cézannes und van Goghs vorwegnahm; aber die Gültigkeit dieser neuen Farbenauffassung, die Anschauung, „daß die Farbe eine viel geheimnisvollere und vielleicht mächtigere Kraft besitzt“, daß sie sozusagen wirkt, „ohne daß wir es wissen“, die Gültigkeit der auf diese unbewußte Wirkung begründeten Form, die unter einem meist angst- oder schmerzvollen Bewußtseinsaugenblick stockende Rotation dieser vom ruhelosen, schon über die Romantik hinausdrängenden Geiste der neuen Menschheit umgetriebenen Bildelemente, dieser Bewußtseinsaugenblick, der die Form rollender Knäuel oder lethargischer Starre annimmt, ragt über die Persönlichkeit hinaus, ist größer als die Geschichte. Im Jahre 1853 hat Delacroix das Bild „Christus auf dem See Genesareth“ dreimal gemalt. Dieses Bild ist wie kein anderes das Symbol des angstvollen Aufruhrs um die Erkenntnis einer übermenschlichen Bewußtheit. Es ist das religiöse Zeitbild des 19. Jahrhunderts. Mehr oder weniger drücken alle Bilder Delacroixs den tragischen, weil für den Menschen höchsten und doch bloß menschlich notwendigen Kampf um die unerreichbare Bewußtseinsdauer aus, die alle Knäuel der Leidenschaften lösen und alle Form befreien soll. Die gestaltete Ahnung dieser Dauer gibt der Kunst ihren ewigen Wert.

Schon das große Jugendwerk, die „Dantebarke", enthält die ganze Fülle dieser tragischen Idee, um so deutlicher der Erkenntnis zugänglich, da sie künstlerisch noch jünglinghaft ideell, noch in epischer, von Dante nicht befreiter Zergliederung der dramatischen Intensität gelöst ist. Der Moment der Höllenfahrt, wo der Fährmann Phlegias den schaudernden Dichter und seinen vergeistigten, nicht mehr zu erschütternden Führer Virgil mit mächtigem Ruderstoß zur Stadt der Unterwelt Dis durch den Sumpf der Zornmütigen fährt, wo man sah

Leute, kot’ge, nackte,

Zugleich des Jammers Bilder und der Wut.

Man schlug sich nicht mit Fäusten nur, man hackte

Mit Haupt und Brust und Füßen auf sich ein,

Indem man wild sich mit den Zähnen packte,

und in dem die Blasen des Ächzens der Untergegangenen aufquollen, wird auf dem Bild zu einem Ausdruck schmerzlicher geistiger Entfesselung, die durch die Haltung der Arme Dantes eine blitzartige Spannung und Erschütterung erhält; durch die flächig monumental wirkende, ins Viereck gebrachte Stellung der beiden bekleideten Gestalten aber wird, indem die durch diese Elemente der Komposition und Bekleidung gewonnene abstrahierte Geistigkeit die ungestüm fortdrängende Ellipse der wälzenden nackten, ungeistigen Körper aufhält, eben die Ahnung der geistig überlegenen Sicherheit als eine wirkliche Befreiung ins Bewußtsein erlösend eingefügt. Der Rhythmus elliptischer Kurven, der die gewaltige Spannung einer inneren gebundenen Kraft ausdrückt, kehrt in vielen Bildern Delacroixs wieder; er ist der äußere Ausdruck seines Wesens. Wie sehr Delacroix überhaupt in Rhythmus aufging, das zeigt neben den zahlreichen, feinsten Bemerkungen in seinem Tagebuch über die Werke Mozarts, Beethovens und anderer ihm persönlich bekannter Musiker, wie Chopins, vor allem sein Bericht über die Wirkung, die das Orgelspiel in der Kirche St. Sulpice auf ihn während seiner Arbeit an dem dortigen Wandbild „Vertreibung Heliodors“ ausübte, und noch mehr die folgende Tagebuchnotiz: „Ich erinnere mich noch an meinen Enthusiasmus, als ich in St. Denis du Saint Sacrement malte und die Musik der Messe hörte. Der Sonntag war ein doppeltes Fest für mich. An diesem Tage hatte ich jedesmal eine gute Sitzung. Der beste Kopf auf meinem „Dante“ ist mit äußerster Schnelligkeit entstanden, während Pierret einen mir schon bekannten Gesang aus Dante vorlas, dem er durch den Akzent eine Energie einhauchte, die mich elektrisierte. Es ist das der Kopf des Mannes, der auf die Barke zu klettern versucht und schon seinen Arm über den Rand gelegt hat.„

Dieses Bild mit der ungeheuren Anstrengung der Formen, die Geistigkeit über dem- Aufruhr der Leidenschaften zu behaupten, ist das Bekenntnis eines tragischen Glaubens wie jedes weitere Bild, wenn auch die Tragik gelegentlich zu einer falalistischen, stillebenhaften Blumigkeit oder zu einer gelassenen, aber nie eigentlich heiteren Zuständlichkeit herabgestimmt ist. Die bewußte Rechenschaft, die sich Delacroix über diesen tragischen Glauben gab, klingt noch hoffnungsloser. „Seit dem sechzehnten Jahrhundert,dem Augenblick der Vollendung, sinken die Künste unaufhörlich tiefer und tiefer. Die Veränderung, die in den Geistern und den Sitten vorgegangen ist, ist mehr Schuld daran als der Mangel an großen Künstlern; denn weder im siebzehnten, noch achtzehnten, noch neunzehnten Jahrhundert fehlte es an großen Talenten. Der allgemeine Mangel an Geschmack, die Bereicherung der Mittelklassen, die zunehmende Autorität einer unfruchtbaren Kritik, deren Eigentümlichkeit es ist, die Mittelmäßigkeit zu ermutigen und die großen Talente zu bekämpfen; die Richtung der Geister nach den nützlichen Wissenschaften hin, die wachsende Aufklärung, vor der sich die Gebilde der Phantasie verflüchtigen; alle diese Ursachen wirken zusammen, um die Künste mehr und mehr der Laune der Mode zu unterwerfen und ihnen jeden höheren Flug zu rauben. Es gibt in jeder Zivilisation nur einen Augenblick, in dem es der menschlichen Intelligenz gegeben ist, ihre ganze Kraft zu zeigen. Es scheint, als ob es während dieser kurzen Augenblicke, die man mit einem Blitz an einem dunkeln Himmel vergleichen kann, fast keinen Zwischenraum gäbe zwischen der Morgenröte dieses glänzenden Lichtes und seinem letzten Strahl. Die Nacht, die darauf folgt, ist mehr oder weniger tief, aber die Rückkehr zum Lichte ist unmöglich. Es wäre eine Renaissance der Sitten nötig, um eine Renaissance der Künste hervorzurufen; dieser Punkt ist zwischen zwei Barbareien gelegen, einer, deren Ursache die Unwissenheit ist, und einer anderen noch unheilbareren, die vom Übermaß und dem Mißbrauch der Kenntnisse herrührt. Das Talent kämpft nutzlos gegen die Hindernisse, die ihm die allgemeine Gleichgültigkeit in den Weg legt.“

Diese bittere, trostlose Grundstimmung eines romantischen Geistes erscheint uns als französisch, als fremdrassig, da die deutsche Romantik in ihren echtesten Geistern von einer wenn auch nicht heiteren, da sie den gleichen, ihren Kräften und Neigungen überbürtigen Kampf für die sich weitende Seele gegen die verengende Humanität zu bestehen hatte, so doch vertrauenden, getröstet spielenden und selbst enthusiastischen, weil von Rasse unerschöpflichen Empfindung durchzogen wird. Die Romantik ist der Anfang einer neuen, zuerst noch quellenartig vereinzelten germanischen Geistesbewegung. Die französische Romantik nimmt daran einen geschichtlich mächtigen Anteil; sie ist aber weniger zugleich in einem günstigen Rassencharakter zukunftssicher begründet, als an eine stärkere Zeitgeschichte und Zeitstimmung gebunden. Delacroix zeigt daher als romantisches Genie weniger den Grundcharakter seiner ideellen Zuversicht als die Energie einer rastlosen Sehnsucht, die das klassische Ruheziel verlassen hat und doch kein anderes kennt. Das romantische Problem ist bei ihm nicht am tiefsten, aber formal am deutlichsten und geschichtlich am lebendigsten.

Es ist eine tiefe Notwendigkeit der Geistesgeschichte, daß sich der unzerstörbare künstlerische Glaube in diesem Zustand scheinbar unausweichlicher intellektueller Verzweiflung nach dem Orient wendet, nicht mehr nach dem klassischen Rom und nicht mehr nach Hellas. Immer öfter neigte sich die Kunst des neunzehnten Jahrhunderts nach dem Osten. Von Delacroix zu Manet zu Cézanne, von fatalistischer Energie zu agnostischer Fläche, zu einer fetischistischen Hieratik geht ein Wieg; in van Gogh wütet die fatalistische Energie von neuem. In seinem zweiten großen Bilde „Das Blutbad auf Chios“ — es ist das Bild, das er unter dem Eindruck Constables übermalte, und vor dem man also das Urteil gerade umkehren kann, das er einmal über Bonington fällt: „Seine Hand war so geschickt, daß sie dem Gedanken vorauseilte“ — nahm Delacroix den Stoff aus der Zeitgeschichte, aus dem griechischen Freiheitskampfe. Aber es ist nicht das Schicksal der Chioten, die der Rachgier der Türken zum Opfer fallen, was er darstellt. Bei allem wilden Detail der Szene und bei aller Zerrissenheit der Komposition hat das Bild eine erschreckende Ruhe. Vor einer weiten Ebene, in der das Toben verschwindet, unter einem ausgeleerten Himmel, erheben sich zwei Gruppen, eine aufgebäumte mit dem Türken, der ein Weib an den Schweif seines Rosses gebunden hat, und eine niedergeschlagene, mit den zusammengekauerten, hingesunkenen Opfern. Rechts davor eine alte Matrone mit dem Blick des Dante, aber erfahrener, ergebener. Es ist die Sibylle des Fatalismus. Sie kümmert sich um kein Schicksal mehr. Ihr Geist empfängt es nur noch als eine über sie verhängte Vision. Das ganze Menschenbild steigt aus dem Raum heraus, es verliert alles körperliche Wollen, zutiefst im Eindruck vermag sich kein Mensch mehr um den andern zu kümmern, nicht der Türke und nicht die Opfer. Das ist das Erschreckende. Aber in dem Blick der Sibylle liegt das Visionäre, zu dem sich die Komposition, den klassischen runden Gruppenrhythmus verlassend, flächig ausbildet. Das ist das Beruhigende der geahnten Überwindung. Die Fläche, die reine Anschauung ist die Überwindung der Geschichte; das ist das formpsychologische Problem dieses Bildes. Es ist aber von Unruhe zerrissen, noch nicht Überwindung, sondern erst Überwundenheit, das ist seine romantische Sonderart, allerdings zugleich viel mehr, da eine historische Geistesrichtung in ihren innersten Schöpfungen immer in das Urgefühl des Dualismus hinabreicht. Im Orient ist dieses Urgefühl am einfachsten und am stärksten, aber auch am wenigsten gelöst. Nicht bloß der Stoff, sondern die Form dieses Bildes hat sich am Orient inspiriert, hat dort etwas Wahlverwandtes gefunden.

Der Romantiker ist kein Sieger und kein Erlöser, er ist nur ein Held. Er ist ein Dienstmann der Geschichte, nicht ihr Organisator. Dies ist der Geist des romantischen Geschichtsbildes. Er hängt eng mit den geschichtlichen Ereignissen in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts zusammen, Völkerkriege und Barrikadenkämpfe, Revolutionen von oben und von unten, der einzelne Mensch ins Jahrhundert der Freiheit eingetreten und trotzdem der gleiche Spielball des Geschicks. Delacroix konnte für den Fortschritt der Geschichte in dem gärenden Frankreich seiner Tage nur ein blindes Ziel erkennen. „Ich meine, man kann nach den Erfahrungen des letzten Jahres (des Jahres 48) behaupten, daß jeder Fortschritt nicht etwa einen noch größeren Fortschritt, sondern schließlich Verneinung des Fortschritts, Rückkehr zum Ausgangspunkt herbeiführen muß. Die Geschichte der Menschheit kann uns als Beispiel dienen. Aber das blinde Vertrauen unserer und der vorhergehenden Generation auf das moderne Zeitalter, auf das Anbrechen einer neuen Ära in der Menschheit, die eine vollständige Änderung bedeuten soll, die aber, um eine Änderung in seinem Geschick hervorzubringen, zuerst die Natur des Menschen selbst umschaffen sollte; dies wunderliche Vertrauen also, das nichts in den vergangenen Jahrhunderten rechtfertigt, bleibt sicherlich die einzige Bürgschaft für die zukünftigen Erfolge, für die so heiß ersehnten Umwälzungen in der Gesellschaftsordnung. Es ist doch klar, daß der Fortschritt, das heißt die fortschreitende Entwicklung der Dinge nach der guten wie nach der schlechten Seite hin, die Gesellschaft augenblicklich an den Rand des Abgrunds gebracht hat, wo sie vielleicht hineinstürzen kann, um einer vollständigen Barbarei Platz zu machen. Und liegt nicht der Grund, der einzige Grund dafür in dem Gesetz, das alle andern auf Erden beherrscht, nämlich in der Notwendigkeit der Veränderung, wie sie auch beschaffen sei.“ Dieser verzweifelte Glaube hat den Künstler aber nicht zur Verdrossenheit geführt, sondern hat ihn für die Weite der romantischen Geschichtsidee empfänglich gemacht, hat seine Werke aber zugleich mit einer tiefen über das Persönliche hinausgehenden Trauer erfüllt. Während das 1827 entstandene Bild „Die Ermordung des Bischofs von Lüttich“ in einem hohen Saal bei großem Mahle nach einem Stoff von Walter Scott vor allem die Grandiosität des unter vielen Augen von wenigen vollbrachten Frevels ausdrückt und auf dem Revolutionsbild von 1830 „Die Freiheit führt das Volk auf die Barrikaden“ der Idealismus noch einen äußeren, durch die zu große Nähe des geschichtlichen Ereignisses mitbedingten Ausdruck in der Freiheitsheldin mit der Jakobinersmütze erhalten hat, ist in dem zehn Jahre später entstandenen Bild „Einzug der Kreuzfahrer in Konstantinopel“ die volle Idee des romantischen Geschichtsbildes verkörpert. Die fatalistische Starre des Chiosbildes ist wieder gelöst durch ein im Raum wogendes Gefühl. Die Reitergruppe der Kreuzfahrer verkörpert einen ideellen Sieg; aber so, wie sie auf der hohen Terrasse steht, umgeben von rechts über den Vordergrund nach links in die Höhe von einem Kranz von Besiegten, diese Siegesgirlande der Opfer ist wie der wiegende, ausweichende Rand einer Wagschale, die den Sieger wägt und den Sieg aufhebt. Der schnaubende Kopf des Rosses mit den geblähten Nüstern und den schreckhaften Augen ist der Instinkt, der das höhere Verhängnis fühlt, wo die Geschichte eben einen Sieg der menschlichen Kraft feiert. Das Pferd ist, wie so oft auf romantischen Bildern, z. B. auf einem Totentanzbild von Rethel — auch Feuerbach hat es noch zu ähnlicher Wirkung benutzt —, das Symbol einer urmenschlichen episch-dramatischen Empfindung. Diese Empfindung wird durch die nach der Mitte und Tiefe laufenden stockenden, fallenden Kurven, die von den Massen verschlungen und von den Gruppen aufgehalten werden, in Trauer verwandelt; der Sieg klingt nur nach in fernen Fanfaren gleich den dünnen Lanzen der Fahnen aus dem Bilde. Da ist nichts mehr von dem Stolz der Geschichte, nichts von dem Pomp eines Geschichtsbildes, den auch Rethel nicht vermeiden konnte. Wieder ist es die Bewußtheit eines Augenblicks, einer unabsehbaren geschichtlichen Großtat, die sich vor ihrer eigenen Notwendigkeit beugt. Daß diese Beugung so viel Ähnlichkeit bekommt mit den vorne knienden Frauengestalten, daß sie wie ein resigniertes Leiden aussieht, das macht der pessimistische Glaube Delacroix, der den romantischen Zwiespalt verschärft, weil vermenschlicht.

Die Geschichte bekam für den romantischen Geist, wenn er sich ihr überließ ohne ein anderes Steuer als seine tiefe Empfindung, wenn sie wie bei Delacroix so eng mit der Kunst verbunden wurde und ihr geistiger Kern nicht aus der Vergangenheit, sondern so unmittelbar aus der Gegenwart erlebt wurde, etwas von der willkürlich spielenden deutschen Romantik Verschiedenes, etwas Fatalistisches. Aber auch das germanische Gegenstück dieser fatalistischen Geschichtsauffassung, das Märchenhafte, hat Delacroix künstlerisch in sich aufgenommen, im Anschluß an die germanische alte und neue Dichtkunst. Durch die literarische Distanz wurde seine Phantasie freier. Aus der Gegenwart heraus rettet sich der Geist in den Faustgedanken. Das faustische Bemühen, die Welt zu verstehen und zu ordnen, tritt bei Delacroix aber zurück hinter dem faustischen Getriebensein, sie zu erleben. Er ist, wie die Romantik überhaupt, dem Faustproblem zugleich ferner und näher als Goethe; sein Fausteinpfinden ist zugleich moderner und mittelalterlicher. Er beherrscht es nicht wie Goethe, sondern es graut ihm davor oder er hat Humor darüber wie in dem Bild mit „Faust und Mephistopheles in der Studierstube“, das mit antiquarischer Laune maskeradisch inszeniert ist und in dem man den Holzwurm der hohlmachenden Wißbegierde klopfen hört, eine leichte Travestie, eine Don Quichotterie an Faust. Delacroix hat, wenn auch selten bei seinem auf formal und logisch vornehme Schönheit verpflichteten Rasseintellekt, ein Fünkchen deutschen Humors, mehr Empfindung noch für die grausige Abgründigkeit des Witzes in Shakespeares „Hamlet“, wenn er auch die scheinbare Fühllosigkeit des englischen Dichters in das flatternde Wehen des romantischen Schauders kleidet. Vor den Faustillustrationen fühlt Goethe seinen eigenen dunklen Jugenddrang erwachen, wenn er von einer französischen Prachtausgabe seines Faust, die ihm in der französischen Heiterkeit der Ausstattung den Eindruck des düsteren Elements dieses Gedichtes, den er in seinem Alter sonst noch genoß, verschwinden machte, 1828 schreibt: „Herr Delacroix scheint hier in einem wunderlichen Erzeugnis zwischen Himmel und Erde, Möglichem und Unmöglichem, Rohestem und Zartestem, und zwischen welchen Gegensätzen noch weiter Phantasie ihr verwegenes Spiel treiben mag, sich heimatlich gefühlt und wie in dem Seinigen ergangen zu haben. Dadurch wird denn jener Prachtglanz wieder gedämpft, der Geist vom klaren Buchstaben in eine düstere Welt geführt und die uralte Empfindung einer märchenhaften Erzählung wieder aufgeregt.“ Schon vorher, als er die ersten Steindrucke zu Gesicht bekam, äußerte Goethe zu Eckermann: „Die vollkommenere Einbildungskraft eines solchen Künstlers zwingt uns, die Situationen so gut zu denken, wie er sie selber gedacht hat. Und wenn ich nun gestehen muß, daß Herr Delacroix meine eigene Vorstellung bei Szenen übertroffen hat, die ich selber gemacht habe, um wie viel mehr werden nicht die Leser alles lebendig und über ihre Imagination hinausgehend finden.“ Die düstere Welt uralter Empfindung, in die ihm fast schon fremde der greise Olympier sich hier zurückversetzen ließ, ist so sehr ein unüberwindlicher Wesenszug des romantischen Geistes, daß auch der französische Künstler, der doch von Rasse aus und auf einer seit Jahrhunderten eklektischen Kultur fußend, einer viel begrifflicheren Empfindungsweise zugehört, und in dessen Tagebuchnotizen sein rastloses logisches Temperament an Goethe und Shakespeare als an zwei Mahlsteinen sich reibt, ihn mit Heftigteit und doch auch mit etwas behaglichem deutschem Grauen in sich einsog. Nur litt es ihn nicht, in dieser abgegrenzten und immerhin mehr genußreichen romantischen Enge zu bleiben, wie die gleichzeitigen deutschen Künstler. Der umfassende Geist leitet die engere Romantik aus ihren Grenzen, aus einer alles Leben etwas spielerisch in Kunst umsetzenden, schließlich zur Manier verurteilten Stimmung heraus.

Mit den dynamisch größten Künstlern, d. h. mit den Künstlern, die vor allem die Tragik des Seins gestaltet haben wie Michelangelo, hat Delacroix das gemeinsam, daß seine Kunst sich selber zerstört. Dieser Künstler, dem die Regelmäßigleit von Linien, die einfache Gerade „ungeheuerlich“ erschien, dem die Architektur mit ihren geraden Linien dem Ideal am nächsten kam, der sich glücklich geschätzt hätte, in der Musik gerade die logischen Elemente, Harmonie und Kontrapunkt zu erlernen, und der von da auf den künstlerischen Genuß in der Wissenschaft schloß, der sagte: „Das größte Genie ist eben nichts anderes als ein hervorragend vernünftiges Wesen“, und der den Geschmack als eine Klarheit des Geistes erklärte, „die in einem Augenblick das, was der Bewunderung würdig ist, von dem scheidet, was nur glänzende Fälschung ist, mit einem Wort die Reife des Geistes,“ der also immerfort die volle Bewußtheit und selbst das klassische Maß betonte, dieser Künstler vollendet sein ganzes Lebenswerk unter jener zehrenden Energie, die im Impressionismus der Bewußtheit noch weiter entzogen, bloß um ihrer selbst willen gestaltete. Von ihm, dessen Stoffgebiet Tiere und Menschen, Heilige und Rasende, Gegenwart, Geschichte und romantische Legende, Okzident und Orient gleichmäßig umfaßte, geht eine Überwindung des Stoffes aus, die zum Extremen führte. Denn seine Form, sei es nun eine Pietà, ein Christus auf dem See, eine Barke des Dante oder des Don Juan, ein Schlachtenbild, ein gefallener Reiter, ein Löwenkampf, die ertrunkene Ophelia, wird durch die gesteigerte Intensität jedes einzelnen Bildteilchens immer mehr eine Auflösung des Raumes. Die geistige Unruhe löst die alten festen Bildelemente auf. Die Farbe quillt und rinnt in flackernden Ornamenten über das Chaos. So ging diese tragische romantische Weltanschauung durch die Farbe der ausschließlichen Empfindung in den bloßen zuckenden Nerf des Impressionismus, in einen geistigen Ausdruck über, der den Dualismus der Erfahrung in das primitivste Gefühl des Subjekts, des Seins und Andersseins zurückverlegt. Delacroix, der über das Fertigmachen des Bildes schreibt: „Der Künstler verdirbt das Bild nicht indem er es vollendet, nur zeigt er sich, indem er der Auslegung die Türe verschließt, auf das Unbestimmte der Skizze verzichtet, mehr in seiner Persönlichkeit, und zeigt die ganze Ausdehnung, aber auch die Grenzen seines Talentes“, eröffnet eine Kunstperiode, die man heute mit dem Ausdruck „Skizzismus“ geringwerten will. Er, der gewaltige geistige Komplexe genial in Bildform brachte, der aber diese Komplexe immer mehr in eine einzige Empfindung einsaugte, damit die Bedeutung des Stoffes aufhebend, zerstört den traditionellen Kunstbegriff von Raum, Perspektive, Komposition, kurz das metierhafte, besonders das klassische Bildwesen. Die Bilder, die nach ihm kommen, die Landschaften und Stilleben, sind gerillt und zersprungen wie eine Ansicht der Mondfläche. Es sind keine Kleinodien der Malerei mehr, die man um ihrer selbst willen aufbewahrt, es sind vulkanische Auswürflinge, eine chaotische Lava, ausgestoßen von Geistern, die nicht mehr sammeln, sondern nur sich befreien wollen. Wenn Delacroix am Ende seines Lebens — er starb am 13. August 1863 — in sein Tagebuch schreibt: „Es ist die erste Aufgabe eines Bildes, ein Fest für die Augen zu sein“, so ist diese richtige, aber nach solchem Leben voll organischer geistiger Schöpfungen zunächst unerwartete oder fast unwichtige Ansicht sicher nichts weniger als die Bestätigung einer äußerlichen modernen Kunsttheorie; sie erscheint vielmehr wie der Ausdruck einer Ermüdung, Stoffkomplexe geistig weiter zu beherrschen. Damit geht die Romantik in die Moderne über. Diese, so oft als rein artistisch und lebensfreind gescholten, ist tatsächlich weit entfernt von einem bloßen Kunstbegriff. Sie nimmt nur die geistige Ermüdung, ideelle Zusammenhänge künstlerisch zu bewältigen, als eine Notwendigkeit hin und hält sich einstweilen an das einfache Arbeitsprinzip von Delacroix: „Mach das Material rebellisch, um es mit Geduld zu besiegen.“ Der Dualismus, den die Klassik leugnet, den die Romantik künstlerisch überbrückt, wird nicht mehr künstlich verheimlicht. Van Gogh seufzt über das Malermetier und bewundert Christus, der unbeirrt als Künstler gelebt hat, „ein größerer Künstler als irgend einer, den Marmor, den Ton und die Palette verachtend, denn er arbeitete in lebendigem Fleisch.“ Daß die Kunst derart sich aller genießerischen Selbstsucht entkleidet, das ist das gute Verhängnis der Moderne.

Wunderbar bleibt, daß der Künstler, der mit allen Kräften und vollem Bewußtsein dem Erkennen seiner Zeit dienen will, gewürdigt wird, der Idee zu dienen, auch wenn er sie nicht erkannte. Je mehr das Genie seine Freiheit fruchtbar macht, um so mehr wird es von der Notwendigkeit überschattet. Indem Delacroix der Zeit diente, hat er die Idee frei gemacht und das Bewußtsein erweitert.

 

Anmerkungen

[1]In solcher Auffassung bildet sich eine Kette von Empfindungen, Erfahrungen und schließlich unerfüllbaren Gewißheiten, ein Gang zur Ebenbildung durch die Geschichte, zu dem die vom bloßen Menschen ausgehende Betrachtung nicht kommt, die vielmehr immer zu einer klassisch begrifflichen Abschließung neigen muß. Dies zur Abwehr der Bedenken, die F. Meier-Graefe in seinem Delacroix-Werk gegen die hier ausgesprochene Formulierung des Delacroixproblems geäußert hat. Das genannte Werk gibt einen reichen Überblick über die geistig noch lange nicht genügend erkannte und fühlbar gemachte Bedeutung dieser in der ersten Blüte unserer neuen Formempfindung stehenden Künstlergestalt. München (1913).

[2]Die Zitate sind aus der gekürzten deutschen Ausgabe „Mein Tagebuch“ von Eugène Delacroix entnommen. Dieses Tagebuch ist nicht nur zur Kenntnis der Kunst des 19. Jahrhunderts unentbehrlich, sondern auch eine der besten, feinsinnigsten, stets auf klare Bewußtheit hinarbeitenden Kunstschriften. Berlin (1909).

[3]Hier vollzog sich noch, weil persönlich gespeist, das Gegenteil der heutigen ethisch verkleideten Ouantitätsdemokratie, die, als Aufhebung der einzelseelischen Willigkeit zur Geschichte, dem christlichen Berufungsgedanken eines Volkes ganz entgegengesetzt ist und gerade dem deutschen Kulturwillen zutiefst den seelischen Charakter verdirbt.