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Konrad Weiß: Zum geschichtlichen Gethsemane

Gethsemane und Patmos[1]

Die Kunst ist der zeitlich ruhelose Ausdruck des ewigen Lebens der Seele. Nur die Kunst hat alle ewige Lebendigkeit in sich, deren schaffender Instinkt in einem jähen Bewußtseinsmomente zur offenbarenden Gebärde wird; und nur die Kunst hat alle zeitlich ruhelose Menschlichkeit in sich, deren Gebärde sich im Augenblick der Offenbarung wieder selbst zernichtet und instinktiv auflöst. Die Kunstform allein, die die Rhythmik scheinbar in Schönheit erlösender Formen dynamisch durchbricht, die immer aufs neue dualistisch sich furcht und instinktiv sich ausdehnt, hat die grenzenlosen Weiten aller menschlichen Ahnungen und Möglichkeiten um sich — Rembrandt. Die andere Kunstform, die ihre offenbarende Gebärde festhält und abrundet, die die dualistische Dynamik zur monistischen Harmonie zentralisiert, schließt sich gegen Gottheit und Menschheit ab und eröffnet um sich statt Weiten Abgründe — Leonardo. Der jähe Augenblick der Erkenntnis, der in Schönheit verweilen soll als ein Genuß, ertötet. Das ist die verbotene Frucht der Kunst, ihre Erbsünde, ihr faustisches Verhängnis.

Die eine allumfassende Kunstform hat im Gegensatz zur Klassik keinen begrifflichen Namen; in ihren zeitlichen Haupterscheinungsm heißt sie Barock und Gotik. Hier ist der dynamische Durchbruch des ruhelosen Menschentums durch die kristallinischen Erstarrungen der Rhythmik — Michelangelo; hier die stete Aufhebung des verweilenden Augenblickes, die zeit- und raumlose Schwebung der Seele — der gotische Kathedralbau; und hier findet sich auch der Instinkt und die Rasse, denen diese Kunstform eigenster Wesensausdruck ist — Gotik und Barock zugleich bei Grünewald.

Gotik und Barock sind, nach Abzug der historischen Schlackenformen und mit Betonung der bewußter werdenden und sich problematisch komplizierenden Menschheitsseele, in ihrem Wesen eins. Und dieses ornamentenlose Wesen, dieser reine Ausdruck, diese absolute Dynamik ist die wahre christliche und die allein echte eingeborene deutsche Kunst. In ihrer den Geist stets aus der Form erlösenden, die Form vernichtenden und zum Wesenornament intensivierenden Energie ist die gotisch-barocke Kunst zur Herzkammer und Hirnzelle des ganzen abendländischen Kunstkreises und weiterhin aller religiösen und rassischen Kunstkreise bestimmt. Nur die abendländische Kunst hat den Menschen mit der ganzen anatomischen Tragfähigkeit seines körperlich-geistigen Volumens zum individuellen Mittelpunkt der Kunst, zum formalen Ausdrucksträger des Weltgefühls gemacht; während in der islamischen Kunst Masseninstinkte sich mit abstrakte Gesetze verkörpernden Bauformen überwölbten und niederhielten und den Drang nach Auflösung durch phantastische Fayenceimpressionen befriedigten; und während die Monumentalität des Buddha gerade des schon im Skelett begründeten voluntaristischen Weltgefühls ermangelt und mit seinen Kolossalrundungen von Fleisch- und Außenformen die religiöse Ahnung fast wieder zur primitiven Mythologie erhabener Erdwölbungen zurückführte. Der hellenische und romanische Geist haben das zentrale Ich anatomisch-organisch zum Maß der Kunstform genommen; stets war jedoch dieser egoistische Geist geneigt, das Ich in voluntaristische Rhythmen und zwischen abrundende Cäsuren einzufangen. Das klassische Ideal, das in seiner letzten Konsequenz erst in der Renaissanceklassik durch das Christentum aus Gegensatz möglich wurde, erstarrt immer wieder zu einem Begriff, das klassische Maß entleert sich schließlich immer wieder zu einem Hohlmaß. In der Gotik, da die Fülle der Zeit für das westliche Abendland gekommen war und die hier heimischen Völker durch die Kreuzzüge mit dem uralten Mutterboden der Menschheit, dem Orient, in neue, Instinkt und Weltbewußtheit stärkende Berührung gebracht hatte, brach der wahre, auch in der alten Klassik dumpf verborgene Menschheitsstil durch, entrang sich die seelische Dynamik, schon im romanischen Stil gesetzmäßig geschärft, dem anatomischen Rhythmus des räumlichen, körperhaften Volumens, und schuf der germanische Geist aus tiefster Rassenlust den Stil der Selbstauflösung; den Stil der Entäußerung und Weltzersetzung, um dem weltschöpferischen Gotte, entgegen dem zeitlichen Werke, als zu seinem Urgrunde entgegenzuwachsen. Dieser Stil will das Gegenteil der klassischen Weltordnung, eine Intensität der Entwerdung, die alle Schwerkraft im Raum und alle Cäsuren der Zeit ausschließt.

Unter Kämpfen hat der germanische Geist sein gotisches Ideal durch die Jahrhunderte getragen und den dualistischen Drang des Zwiespaltwesens seiner Rasse bis zur menschlichen und künstlerischen Ohnmacht mächtig werden lassen. Eine Weltseele hat die menschliche Ohnmacht als künstlerische Allmacht erlebt, Rembrandt, ein anderer poverello und „minderer Bruder“ als der heilige Franz, in einer anderen Zeit als der ahnungsvollen Vorperiode der Frührenaissance, da der Mensch nicht mehr mit den Elementen als Geschwistern in einem Sonnengesang zu Gott flog, vielmehr die Jakobsleiter zum Jenseits jenseits der Natur ins Unergründliche gestellt hatte. In einer Zeit auch, da der Mensch die humanistische Ekliptik um die egoistische Sonne hatte verlassen müssen und in faustischem Drange sich zerrieb. Das abgerissene Pendel, die Übermacht der Dynamik, die Krise des Dualismus.

Die Krise dauert weiter. Die späteren klassischen Stilphasen sind darin keine wesentlichen Fermente, sind nur retardierende Momente. Wesentlich ist der stete Kampf mit der Natur, um sie erobernd zu überwinden. Er dauert bis heute und wird weiter dauern. Der Impressionismus ist nur ein nebensächliches Finale, eine formal materialistische Entmaterialisierung, keine Entwerdung. Die Moderne ist in ihren problematischen chaotischen Verdichtungen barock und in der Vorliebe für die nature morte, in ihren Flächen und Silhouetten ahnt sie die Gotik. Wie ein rotierender Formknäuel, eine gewaltig gewundene Gehirnsubstanz steht Delacroix an ihrem Anfang. Ans Ende der Natur schaut Millet. Ein zerfließendes Chaos, vom Geiste dynamisch zerhöhlt, ist Rodin, der ein Gotiker sein will. Nur daß die französische Kunst durch ihre formalen Instinkte stets der Klassik zuneigt. Der Belgier van Gogh verzehrt sich viel mehr im apostolisch selbstlosen Geiste der Barock-Gotik. Nicht eine rhythmische Schichtung der Flächen, zu der Cézanne neigt, verlangt die zukünftige Kunst, sondern eine dynamische Spannung. Darum erlangt Greco, der große Barockahne, heute eine so einzigartige Bedeutung, wegen seiner dilemmatischen Rolle gegenüber der Klassik. Er bedeutet die Krisis der zentralmonistischen Rhythmik in sich selber, wie Michelangelo. Mit ihrem Alter wird die dualistische Dynamik beider immer heftiger.

Die deutsche Kunst des letzten Jahrhunderts quälte sich um Klassik, nur wenige von den Größeren wie Leibl um Natur und selbstlose Echtheit, die aber kaum höhere Form wurde. In manchem bei Uhde. Aber selbst in seinen klassischen Gesten kann Feuerbach die, wenn auch sehr abstrakte, gotische Flächentendenz und die zackigen, Sehnsucht einspannenden Linienränder nicht ausschalten. Marées ist ein großer problematischer Künstler eben durch das Unterfangen, rhythmische Gestaltungen in eine Natur setzen zu wollen, deren auflösender Dynamik sie unterliegen. Auch sein bestes Teil ist die Sehnsucht. Im Grunde des germanischen Geistes ist das Problem immer mehr ethisch, pathetisch, seelisch bewegtes Weltgefühl. Darin, in dieser tieferen faustischen Ruhelosigkeit, liegt die Hoffnung auf die neue deutsche Barock-Gotik, die visionäre Erfüllung des Weltraums, die Vision seelischer Formen. —

Diese Gedanken, die hier in unzulängliche Worte gefaßt sind, waren in den letzten paar Jahren, da eine neue Generation ans Werk eilt, oft Gegenstand der Gespräche mit dem Künstler, dessen Schaffen sie bevorworten wollen. Karl Caspar gestaltet in der zeitgenössischen Notwendigkeit ihrer Erkenntnisse ebenso instinktiv wie bewußt. Seine Gemälde sind mit ihrer formalen und ethischen Energie gegenüber der Natur, gegenüber den großen, heute nicht immer ungestraft aufgerufenen künstlerischen Ahnen und gegenüber den, neue Gewalt heischenden, religiösen Traditionen innerhalb dieses Ideenkreises untereinander verwandt. Sein künstlerisches Wesen ist in keinem Teile bloße Umformung, durchaus Formfindung, Weltgefühl.

Das dualistische Weltgefühl hat im Gegensatz zur klassischen Harmonie zwei Pole des künstlerischen Erlebens: Weltverschmerzung und Weltverzückung, Elendgefühl im mittelalterlichen Sinne und mystische Zuversicht, Innewerdung und Entwerdung, Verlassenheit und Offenbarung, Schmerzensmann und Johannes auf Patmos. Irgendwie steht alle Gestaltung damit im Zusammenhang. Der Stoff im Bilde ist nichts; er verschwindet im Augenblick der Erkenntnis dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Die Form ist alles. Aber die Form in ihren tiefsten Geheimnisssen wird selber wieder Stoff, durch Andrang, Weltweite, Überweltigung, Überwältigung, Selbstbesinnung, Rückschlag zur Lebenserfahrung, zur Ergriffenheit vom Werte menschlicher Geschehnisse und Erscheinungen, zum Stoff als Formgehalt, zur Stilnotwendigkeit. Stil ist nicht eine bloße Manier von Naturempfinden, nicht eine bestimmte Qualität von Raumdarstellung, vor allem kein willkürliches Gebilde. Stil ist die Einsicht in eine geordnete Notwendigkeit der Lebensmöglichkeiten, individuell, national und generationell. Stil ist Instinkt, Rasse, Übernatur, Tradition und Selbstbehauptung, ein Umspannen der beiden seelischen Weltpole.

In diesen Stilcharakter wachsen Caspars Werke mit allen Fasern hinein. Ihr Stilwille ist so groß wie ihr Charaktergehalt. Sie sind unbedingt modern, da sie unbedingt dem Weltgefühl unterworfen sind.

 

Anmerkungen

[1] Ein Vorwort zur Kollektiv-Ausstellung Karl Caspar in München, November 1911. Inzwischen ist Gotik ein neues Schlagwort geworden; die Pole dieser Kunst sind aber die Lebenspole der Seele und Geschichte und nur als solche zu verwirklichen.