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Konrad Weiß: Zum geschichtlichen Gethsemane

Greco, ein Problem der modernen Malerei

El Greco, der Grieche, ein in Italien gebildeter und in Spanien tätiger, also national entwurzelter Künstler, ein Geist, der die klassischen Elemente der Renaissance in seinen lodernden Schöpfungen verbrannte, ein mystischer Ekstatiker, dem gerade die geheimnisvollsten Wunder der christlichen Geschichte die liebsten Stoffe waren, ein Barockmaler, und zwar einer der frühesten, intensivsten und selbst manieriertesten, ein Gestalter, dem die Echtheit der Natur nichts, die Sprache der reinen, erdenlosen Formen alles ausdrückte, dessen Kunst ein Symbol, eine Formel ist, — dieser Künstler ist heute ein Ideal der Modernsten, ein Problem für unsere letzten Formsucher, vielleicht mit Hans von Marées zusammen — wie sehr sind die beiden selber wieder verschieden — eine Grundlage für die neue große Kunst, die wir von der nächsten Zukunft erwarten. Etwas Unklassisches und zugleich doch Naturfernes wäre also Ende und Bekrönung eines Jahrhunderts, das seine wissenschaftlichen und künstlerischen Kräfte teils bei der Durchforschung der klassischen Welt gesetz- und regelsicher geschult zu haben meinte, teils bei der Eroberung der Natur aufgerieben und zersetzt hatte! Der Anfang unseres neuen Jahrhunderts würde also das unlängst vergangene verleugnen als einen unfruchtbaren Wucherer, der klassische Formen nutzlos aufhäufte, als einen Bauern und Taglöhner, der im Werkeltag und in der erdigen Materie erstickte!

Das eine ist gewiß: der Anfang des letzten und der Anfang unseres Jahrhunderts sind nicht Kinder des gleichen Geistes. Freilich sind nie zwei Jahrhunderte gleiche geistige Gesinnungsbrüder. Und doch stellt sich immer wieder der Irrtum ein, als ob man eine frühere geistige Ausdrucksform, einen Stil wiederholen könnte. Das letzte Jahrhundert ist von diesem Irrtum gestempelt. An seinem Anfang stehen die architektonischen und plastischen Posen des Klassizismus. Vor hundertundzehn Jahren war Goethe der Anwalt der Klassik gegen den Naturalisten Schadow. Doch schien die Stunde der hellenischen Schemen geschlagen zu haben. Schon einige Jahre vor Goethes Polemik hatte Wackenroder seine „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ geschrieben. Und heute vor hundert Jahren hatte sich die Sezession der Lukasbruderschaft von der Wiener Akademie vollzogen; Overbeck war mit seinen paar Genossen nach Rom gepilgert und dort hatte sich Cornelius angeschlossen. Während nun aber in Rom allzufern vom charakterbildenden Leben einsame Ideale gepflegt wurden, kamen in Deutschland die Befreiungskriege, und die nationale Romantik rührte sich. Das Bäumlein der Kunst zog Saft aus heimischen Bodenwurzeln, und es ging ein leises Zittern durch seine Zweige gleich den lyrischen Schwingungen in gotischen Landschaften. Doch der gotische Geist konnte nicht erwachen. Schneewittchen mußte weiter schlafen; denn niemand nahm ihm den vergifteten Apfel aus dem Munde. Das ist der gleisende goldene Apfel der Hesperiden, das sind die glatten, runden Formen der klassischen, arkadischen Gärten. Cornelius verfiel dem erstarrenden klassischen Hauche. Overbeck und die Nazarener suchten den romantischen und christlichen Geist auch zu sehr in klassischen Formen und konnten ihn deshalb nicht freimachen. Klassische Formen und gotische nationale Empfindungen gingen geistlose Kompromisse ein in den theatralischen Szenerien der Historienbilder. Die herbere hellenische Klassik verweichlichte und verluderte in weichlichen Renaissanceformen wie bei Makart, oder wucherte in üppigen Schmarotzerschößlingen aus wie bei Böcklin. Der klassische Geist, die absolute Vermenschlichung des Daseins, trägt den Todeskeim in sich. Eine ähnliche Schwere liegt auf den Werken von Feuerbach und Marées; dort die Schwermut einer Schöpfung die Erinnerung bleibt, hier die Tragik eines absoluten Schönheitswillens, der keinen Zweck kennt.

Es blieb den gedanklich schaffenden Deutschen vorbehalten, die Kunst zu diesem Ende zu führen. Den reiner, künstlerischer, formaler gestaltenden Franzosen fiel die Aufgabe zu, die Malerei, das war eben die Kunst, in der das unmonumentale neunzehnte Jahrhundert sich am leichtesten ausdrücken konnte, in engeren Grenzen lebendig zu erhalten, ja neue Blüten treiben zu lassen. Aber auch dort konnte zunächst nicht die formenstarke Energie des großen Romantikers Delacroix beibehalten werden. Die Natureroberer brauchten Intensität im kleinen, nächstliegenden. Achtzig Jahre sind es, daß in der Schule der Barbyzoner der Paysage intime aufzublühen begann. Die Landschaftskunst Constables war vorausgegangen, einer der seltenen Fälle, daß von England auf künstlerischem Gebiete etwas Gutes kam. Die Natureroberung, das Einfangen des Wirklichen, echter Realismus, Naturalismus war die Losung der kommenden Jahrzehnte. War sie es wirklich? Oder ist nicht vielmehr die ganze naturalistische Theorie eine Täuschung? Die intime Landschaft wirkte mehr durch ihren lyrischen Schmelz, der noch teilweise Härte aus Unvermögen ist, als durch ihr natürliches Aussehen. Der realistische Fanatiker Courbet ist ein Künstler, nicht weil er die Natur noch echter wiedergab, sondern weil er gleichgültige Dinge durch seine malerische Genauigkeit episch dauerhaft und bedeutsam machte. Und dann zog sich die Kunst gleich wieder weiter in ihre eigene Sphäre zurück, die Scheidewand der Form zwischen sich und der gemeinen Wirklichkeit aufrichtend. Die Impressionisten haben die Natur ihrer Schwere entkleidet, entmaterialisiert, formalisiert. Die großen Häupter des Impressionismus und seine Zerstörer, ein Cézanne und van Gogh, haben neue geistige Ausdrucksformen, neue Rhythmen aus den Dingen herausgewonnen, die nie noch so nah an den Dingen gehaftet hatten, z. B. an gegenständlich primitivsten Stilleben, und doch noch nie auch so frei und losgelöst über ihnen als geistige Impressionen geschwebt hatten. Die Natur ist nie der Zweck der künstlerischen Darstellung, sondern nur ein Mittel des geistigen Ausdrucks, der Form. Die Natur ist auch immer die gleiche, die Form aber ist die Sprache der Zeit, immer verschieden, immer neu, der Träger der Menschheitsideen und ihr zeitliches Kleid.

Während sich die gedankliche, hauptsächlich klassizistische wenig gotische Kunst des 19. Jahrhunderts an Formen, meist Erinnerungsformen klammerte, vollzog sich die eigentliche malerische Entwicklung in der Farbe. Die Farbe ist nicht die Sprache des Gedankens, aber in ihr dramatisiert sich die Intensität der Empfindung. Und wenn sie in Bewegung kommt, sich rhythmisch ballt und teilt, anzieht und abstößt, so wird das farbige Chaos Wille, Schöpfung, Leben, Kunst. Immer häufiger tauchte der Schatten des Delacroix in der Moderne auf und hinter ihm sein größerer Ahne Rubens. Die Farbe will immer materielle Konzentration des Ausdrucks, sie neigt zum Formalismus, aber auch zur intensivsten Impression. Deshalb ersteht der machtvoll dekorative Rubens, aber auch der seelisch abgründige Rembrandt. Neu ersteht die problematische Zeit des Barock. Kein Wunder, daß einer der frühesten, kühnsten, geistigsten und formal seltsamsten Barockmaler eben auch für die Allgemeinheit neu ersteht, nachdem er kaum für die engsten Feinschmeckerkreise entdeckt ist, el Greco.

„Der Grieche“, diesen Namen als Bezeichnung seiner Nationalheimat erhielt er in seiner neuen Wahlheimat; und dieser sein spanischer Name ist heute ein nom de guerre in den Kunstsensationen. Sein eigentlicher Name ist Domenico Theotokópuli; geboren ist er zu Candia auf Kreta. Sein Gedurtsdatum wird zwischen die Jahre 1545 und 1550 gesetzt. Der Insulaner entstammt also dem Machtbereich der venetianischen Handelsrepublik. Er kam aus einem Lande, das im nächsten Jahrhundert den Türken zufallen sollte, und ging in ein Land, das vor einigen Jahrhunderten noch großenteils unter maurischer Herrschaft gelebt, und in dem die maurischen Kunsteinflüsse mit ihren flächigen Impressionen noch immer nachgewirkt hatten. Vielleicht ist die Einwirkung der flächig-rhythmischen islamischen Kunst auf die Entwicklung der Barockkunst noch nicht genügend gewürdigt. Die weiteren bekannten Daten aus Grecos Leben sind klein beisammen. Sein Weg führt ihn nach Venedig. Ein Markstein ist das Jahr 1570, da hatte er als Schüler die ganze farbige Fülle der Renaissancemalerei bei Tizian erlebt, war auch schon mit dem neuen Chaos der Formen in Berührung gekommen, in das Tintoretto die wohlgefügte Kunst seines Lehrers Tizian hineinriß und zu neuen Gebilden verschmolz; und jetzt war er auf dem Wege nach Rom. Dort hat ihn wohl Michelangelo, der gewaltige Zerstörer der selbstgefälligen Renaissance und der Stifter einer wiederum transzendentaleren Kunstform, vollends aus dem arkadischen Garten der Renaissance herausgerissen, seine Augen gegen die weichen Sinnenfarben der Lagunenstadt gefeit und den rhythmischen Schwung seiner Seele beschleunigt. Die Seele des Malers aber flog leichter beschwingt als die Seele des Plastikers. Während Michelangelo ein Kämpfer gewesen war sein Leben lang, das er 1564 beschlossen hatte, können wir uns Greco nur denken als feinen, klaren, hochgebildeten Geist, der seine Formen in Entzücken schuf. Im besten Sinne ein Artist, einsam in seinen Kunstgebilden schwelgend, die ihm höchster geistiger Genuß waren, aber doch ein anderer Einsamer als Rembrandt, dem die Einsamkeit eine liebe Bitternis, dem die Kunst kein Ergötzen, sondern nichts mehr und nichts weniger war als seine eigene Seele und als die Seele der Menschheit. Greco ist mit Michelangelo und Rembrandt verglichen ein seltener, problematischer Künstler, Formfinder, Formalist, jene beiden, vor allem Rembrandt, sind seltene problematische Menschen, keine bloßen Formfinder, sondern selber künstlerische Urformen. Vielleicht kann nur der national fest verwurzelte Künstler Urformen schaffen, während der international Fortgetragene hohe Kulturformen ausbildet und mit Wahl Boden und Hintergrund dafür findet. Wenigstens hätte Greco keinen harmonischeren Kontrast für seine vornehmen Gestalten und seine mystischen Schilderungen finden können als das auf schroffem granitenem Hügel aufragende, durch mächtige Brücken über den Tajo in seinem Eindruck von Unnahbarkeit bestärkte, „kaiserliche“ Toledo, die jahrhundertelang umkämpfte Feste, mit deren Namen auch der Name des Nationalhelden Cid verbunden ist, in deren Mauern die christlichen Kirchen die maurischen Moscheen verdrängten, aber die moreske dekorative Kunst, das Mudejar, angenommen hatten, wo diese Kunstweise in die Gotik hineingewuchert war und im plateresken Stil der Renaissance ähnlich wirkenden kleinrhythmischen, ziselieriten Impressionen begegnete. Schon hatte die glänzende Stadt aber, als Greco daselbst kurz vor dem Jahre 1577 sich angesiedelt hatte, angefangen, von ihrer Höhe als Mittelpunkt Spaniens und damit der Monarchie herabzusinken, deren Herrschaft die alte und auch die neuentdeckte neue Welt umspannte. Fünfzehn Jahre früher war die Residenz nach Madrid verlegt worden, und der Zauber der Vereinsamung und des Verfalles fing an, die stolze Bergstadt langsam einzuspinnen. Hier war der Ort, wo Greco seine flimmernden Formen in kühlen und doch glühenden Farben schuf, seltsame Phänomene, fast Irrlichtern gleich, oder Lavaflämmchen, die auf den erstarrenden Massen einer alten, aber künstlerisch oder wenigstens malerisch noch wenig originellen und fruchtbaren Kultur aufleuchteten. In Toledo ist Greco im Jahre 1614 gestorben.

Als Greco starb, war Velazquez 15 Jahre alt. Dieser große, spanische Barockmaler hat nun plötzlich in seinem bisher fast kaum genannten Vorläufer einen gefährlichen Rivalen erhalten, der ihn aus dem Geschmack der modernsten Kunstkreise verdrängt und selbst in seiner kunstgeschichtlichen Stellung erschüttert, wenn er ihn auch nicht stürzen wird. Greco hatte in Cossio seinen grundlegenden spanischen Biographen bereits erhalten, auch der Kunsthandel hatte seine Werke bereits als exquisite Wertobjekte entdeckt, als Julius Meier-Graefe seine „Spanische Reise“ machte, um seinen bis dahin hochgeschätzten Velazquez an Ort und Stelle zu verehren, und nun seinerseits Greco entdeckte.[1] Meier-Graefes Enthusiasmus für Greco ging ganz auf Kosten von Velazquez; er fand, daß „Velazquez kein großer Maler, noch weniger ein großer Künstler war“; bald war ihm das ganze Velazquezproblem überhaupt langweilig. Das war dann die deutsche Kunstsensation der letzten Jahre. Über Meier-Graefe spottet man oder entrüstet sich, aber mit Greco beschäftigt man sich und sucht Kunstgesetze kaum weniger als bei Hans von Marées, den ebenfalls Meier-Graefe vollends in Mode gebracht hat.

Daß Greco als eine eigenartige Erscheinung neben Velazquez bestehen kann, geben die Freundwilligen und Fortschrittlichen zwar zu. Den Kunsthistorikern, die absolute Wertstufen festlegen wollen, ist es aber immer unangenehm, wenn in ihre Staffelung nun plötzlich Verschiebungen kommen. Solche müssen aber immer wieder eintreten. Die moderne Kunst ist und bleibt doch immerfort wenn auch nicht der absolute Gradmesser, so doch die lebendigste und empfindlichste Neuprüfung der alten Kunst. In der modernen Kunst ist immer irgendein Element der alten Kunst besonders lebendig und für die modernste Kunst, die den Materialismus und -Naturalismus überwinden, die nicht wiedergeben, sondern gestalten möchte, ist Greco, nicht Greco als formales Vorbild, aber Greco als geistiger Gestalter, intensiver Empfindungsmensch, als Naturüberwinder wichtiger als Velazquez. Diese Witterung, die man nur bei innigster Vertrautheit mit der Kunst haben kann, bat Meier-Graefe gehabt. Was der Realist Velazquez für die positivistischen Impressionisten von 1870, für Maler wie Manet war, das kann Greco für die heutige neue Generation — nicht sein. An den Realisten Velazquez war leichter anzuknüpfen, zumal der Anschluß mehr äußerlich und zufällig war und die malerische Tüchtigkeit des analysierenden Spaniers mit der analytischen Naturanschauung und malerischen Entwicklung parallel ging. An den Idealisten Greco, an einen stark formenbildenden, synthetischen Künstler kann nur angeknüpft werden, indem man eine ähnliche formbildende Ausdruckskraft zugrunde legt, indem oder wenn man seelischen Gehalt hat; das ist keine Bedingung, sondern eine Vorbedingung. Andernfalls verfällt man dem Formalismus und der Manier.

Seit Jahren wird als die Kernfrage der Kunst, auch in der Kunstgeschichte, die Naturwahrheit, der Fortschritt in der Wiedergabe der Wirklichkeit betrachtet. Und doch liegt das Wesen der Kunst nicht in der Naturdarstellung, sondern in der Formfindung, in der Ideendarstellung, oder da dies mißverständlich, gedanklich klingt, in der Darstellung seelischen Gehaltes. Freilich schließt auch die Naturdarstellung seelischen Gehalt ein, aber hier bleibt er immer zu sehr an das Natürliche, Gegenständliche gebunden, unfrei. Außer man benützt die Natur zu einfachen, jäh wirkenden rhythmischem Bewegungsformen wie Cézanne oder läßt sie alles Gegenständliche und Materielle in sich einsaugen, daß nur noch herbe rhythmische Symbole übrig bleiben, Fetische beinahe des Lebens, denen ein urweltlich starker und doch aus unserer eigenen Brust gesättigter Odem eingehaucht erscheint wie bei van Gogh. Aber ist damit die ganze Fülle unseres menschlichen, die genaue allseitige Bestimmtheit unseres modernen Seins objektiviert? Findet der Mensch in der Natur die Grenzen und Enden seines Wesens? Die Fortschritte in der Naturdarstellung bedeuten nur eine Weiterentwicklung der Kunst, aber keine Höherentwicklung; sie bedeuten eine unerläßlich notwendige Verbreiterung der künstlerischen Basis, aber keine Überwölbung; sie sind eine Orientierung nach unten, nach vorne, auch nach innen, aber nicht nach oben. Nun setzt die Reaktion gegen den Naturfanatismus langsam kräftiger ein. Bei den Modernsten schlägt sie aber bereits ins Extrem um. Greco ist auch ein Extrem gegenüber allem Naturalismus; er ist ein um so lehrreicheres Problem der modernen Malerei.

Die Bilder Grecos sind voller Fehler, d. h. die Klassiker und Naturalisten müssen daran eine Menge Unwahrheiten und anatomische Unmöglichkeiten finden. Die Körper sind unnatürlich in die Länge gezogen, die Hälse verdehnt, die Glieder verdreht, die Gesten der Hände z. B. bei dem Engel auf der „Kreuzigung“ so selbständig betont, daß sie wie losgelöst, weggeschleudert erscheinen, die Gestalt Johannes des Täufers willkürlich muskulös und abgemagert, um die Lichter spielen zu lassen, die Engel auf dem gleichen Bilde gespannt wie Bogensehnen, übermäßig und jäh verkürzte Haltungen, die Gewänder, Wolken, Felsen nicht natürlich materiell, sondern immaterielle knitterige Fluten, die sämtlichen Bildelemente, lebende Körper und leblose Gegenstände aufs äußerte konzentriert, nach der Mitte gedrängt, schon auf seinen früheren Bildern, wie auf der „Kleiderberaubung“, deren Komposition aus seinen ersten spanischen Jahren stammt, noch mehr in seinen späteren, dem „Begräbnis des Grafen Orgaz“, der „Taufe Christi“, einer „Unbefleckten Empfängnis“, eines der seltsamsten und vergeistigtsten Bilder Grecos, eine mit genialer religiöser Intuition geschaffene, mit innerlicher Erregung erfaßte und in einer wunderbaren Kompositionsrhythmik gestaltete Schöpfung und allen andern. Immer mehr wallen die Elemente ineinander, immer substanzloser werden die Körper; immer flackernder die lichten Formen. Die Bilder verlieren alle Erdenschwere, drängen nach oben, schweben, die Erde entschwindet, der Himmel öffnet sich, die Szenen fließen ineinander über in einer neuen Welt. Die Gebärden der Menschen und Geister sind in Verzückung erstarrte, in Inbrunst lodernde Gesten, ein inbrünstiges Chaos, in dem alles irdisch Organische, alle Natur verzehrt wird, und neue reine Formen, eine gleich viel wert der andern, eine geistige Materie, eine Übernatur leuchtend ersteht. Diese Kunst ist das Ende der Welt, der jüngste Tag der Natur. Der Geist entschwebt als schlacken- und hüllenlose reine Form, als reiner Ausdruck.

So sind die sogenannten Mängel nur notwendige Äußerungsformen, Träger des Ausdrucks. Form und Ausdruck sind so sehr aufs innigste verbunden, daß sie einfach dasselbe sind, Bildgehalt, Seele. Der mystische und ekstatische und dabei doch wieder in kühlen Farben geklärte, in blauen Azur getauchte Ausdruck in den Werken Grecos ist nur in seinen individuellen Formen möglich. Seine Bilder sind seine Seele. Die ganze Seele freilich des Künstlers und der Menschheit bleibt unfaßbar hinter den Formen. Die Formen fließen daraus hervor, nehmen individuelle Gestalt, nehmen den stilistischen Ausdruck ganzer Epochen an, formen sich nach den Eigenarten der Völker, wandeln in erstaunlicher und unerschöpflicher Vielfältigkeit durch die Jahrhunderte, erscheinen und verschwinden zu ihren Zeiten. Und die Seele bleibt unfaßbar hinter ihnen, der reinste Ausdruck läßt stets die reinste Form ahnen und läßt sie nie entstehen.

Wie die Seele stets zwischen sich und der Form ein ungelöstes Rätsel läßt, das zeigen besonders deutlich nationale Unterschiede in der Bildgestaltung. Greco, der in Spanien tätige Grieche, ist im wesentlichen, er mag auch ganz im allgemeinen durch die glänzende islamische Flächenrhythmik beeinflußt sein, ein romanischer Gestalter; er projiziert den Ausdruck möglichst voll in die Formen, er objektiviert seine künstlerischen Träume, er verlegt seine Seele in das Werk und behält sozusagen nichts mehr zurück. Und dann, er liebt seine Schöpfung als etwas Zweites, von ihm Getrenntes, er spiegelt sich darin. Ein germanischer Künstler wie Rembrandt spiegelt sich nicht in seiner Schöpfung, sie bleibt immer ein Teil von ihm, er bleibt ein Teil von ihr. Er verlegt das Werk in seine Seele. Er gibt dem Bild nicht viele positive Formen, er läßt seine Seele sozusagen in den Zwischenraumen stehen. Der Romane, könnte man sagen, hat seinen Ausdruck in dem, was da ist, der Germane in dem, was nicht da ist. Das Problem Greco ist für die moderne deutsche Malerei deshalb gefährlich. Der Deutsche berührt sich mit dem Romanen leicht aus Gegensatz. Wenn ihm der Ausdruck fehlt, stellt er gern die Form dafür ein. Was aber dem Romanen echter Formalismus ist, wird bei dem Germanen dann Manier. Wir täuschen uns gewiß nicht ganz mit der Annahme, daß bei der plötzlichen Vorliebe fur Greco äußerliche Neuerungssucht und Manierismus mitspricht. Man fühlt unklar die Mängel der heutigen Malerei und nimmt sich als Ideal ein Extrem, einen Endpunkt, wo wir an einem Anfangspunkt stehen. Greco ist das Prodult einer malerischen Hochkultur und einer noch einheitlichen hochkultivierten Zeit. Daher das Weltmännische in seinen religiösen Bildern und der Eindruck des fast Überreifen in seinen Darstellungen. Wo ist aber, abgesehen von einigen Großen, in der Gegenwart mit ihrer öden Naturpinselei und ihrem Stimmungsdunst trotz aller reinen Malerei ein hohes malerisches Niveau? Und vor allem, wo ist heute der Gehalt, der zwingend neue Formen schüfe? Ohne diesen wird das Resultat ebenfalls Manier sein. Denn ohne Gehalt ist immer leichter, mit der Natur gute Kunst machen, als ohne und gegen sie.

Das Verhältnis von Seele und Form zu verschiedenen Zeiten ist der Zeitstil, der Zeitgehalt. Greco ist ein Barockmaler. Er hat das Wesen der Renaissance überwunden, die wohlgeordneten Bildelemente gestürzt, den sinnenfreudigen Menschenkult in seinen enggeschichteten Bildern wie auf Scheiterhaufen verbrannt. Die Historiker messen den Zeitraum der Renaissance im allgemeinen zu weit, da sie einige Fortschrittselemente wie Bewußtwerden des Menschen, organische Raumgliederung einseitig betonen, und betrachten das Barock dann viel zu sehr als eine Fortsetzung und Degeneration der Renaissance. Das Barock hat aber einen von der Renaissanoe weit verschiedenen, entgegengesetzten geistigen Gehalt; es ist auch als Stil der Gegenreformation zu eng gefaßt. Das Barock ist die wieder intensive Anknüpfung an das Außermenschliche, eine Überwindung der Renaissance und trotz der teilweise formalen Weiterentwicklung von dieser aus — sein anderer Stilteil ist naturalistisch — ein energischer Wiederanschluß an das religiöse Mittelalter. Es hat trotz tiefster Gegensätze viele Elemente mit der Gotik gemeinsam. Es ist weiterhin ein Kampfstil voll rebellischer, formalistischer und naturalistischer Elemente im Innern und mit nicht mehr ungebrochenen Kräften nach außen; ein Triumphstil, der mit Kraftnaturen wie Rubens herrscht, dem aber die Gestaltung des religiösen inneren Lebens nicht allseitig mehr gelingt. Wo sie gelingt, da wird das Tiefste, aber auch das Problematischste gegeben wie bei Rembrandt. Vielleicht liegen aber gerade in den Anfängen der barocken Erregung, bei Tintoretto, bei Greco vorbildliche Möglichkeiten, neuen seelischen Gehalt auszuformen. Vielleicht hat Greco, nicht der barocke Formalist, aber der Immaterialist für eine neue christliche Kunst Bedeutung. Dabei fassen wir Greco, der schon zu seiner Zeit keine Schule bilden konnte, nicht als Lehrer und Vorbild, sondern natürlich als malerisches Problem. An die Renaissance oder auch an den modernen Klassiker Marées kann eine zukünftige christliche Kunst nicht anknüpfen. Anknüpfungsversuche wurden bisher, wie z. B. von den Nazarenern, den Präraffaeliten, an die Spätgotik, an die Frührenaissance gemacht. Das Quattrocento unterscheidet sich noch wesentlich von der Renaissance, und seine junge Naturhaftigkeit konnte für eine naturhafte religiöse Kunst sehr förderlich sein, nicht besonders allerdings für die Nazarener, denen gerade die Naturhaftigkeit fehlte. Wäre nun vielleicht nicht gerade das Frühbarock eine an der Natur schon malerisch geschulte, von ihr geläuterte Kunst vorbildlich für eine neue geistigere christliche Kunst? Nicht als Modell und nicht als letztes Ideal. Denn dem Barock eignet nicht der innerliche Organismus der Gotik, der eigentlichen christlichen Kunst. Es neigt zu einem formalen Materialismus. Aber heute, nachdem die künstlerischen Kräfte an der Natur geschult, die malerischen Grundlagen geschaffen sind, ist das barocke Problem zeitgemäß. Auch drängt der ganze Geist der Moderne, die Unstäte, die stets bewegte Seele nach einem zwar durch die Jahrhunderte getrennten, aber ähnlich gerichteten neuen Ausdruck.

Das Barock neigt wie auch die Moderne zu einem formalen Materialismus. Die außerordentliche Konzentration ist nicht ohne Hypertrophie. Die Bilder, z. B. die „Kreuzigung“, bei der die Komposition besonders durchsichtig ist, die „Taufe Christi“ und vor allem die „Auferstehung“, eines von Grecos eigenartigsten Werken, weisen und führen in Diagonalen, Zickzacklinien und bewegten Kurven intensiv, fast gewaltsam einwärts und aufwärts, zur Konzentration und Vergeistigung, kaum daß etwas Landschaft oder auch nur der Boden der Handlung angegeben ist. — Welch guter Landschafter Greco indes sein konnte, zeigt der Blick auf „Toledo“, eine wabernde Lohe und doch eine architektonische Ruhe. — Alles dient dem Zweck der Intensität, und doch tut gerade die Hypertrophie der Formen, die vermutlich den Modernen gerade am meisten gefällt, der Geistigkeit der Wirkung Abtrag. Auch Greco, der gerade Wunder, Geheimnisse und geistige Vorgänge, das Pfingstwunder, Mariä Krönung, Mariä Himmelfahrt, die Immakulata, Visionen des hl. Franziskus, den wunderbaren Vorgang beim Begräbnis des Grafen Orgaz, den die Heiligen Stephanus und Augustinus selber, zum Dank für besondere fromme Verdienste, in der Trauerversammlung erscheinend, zur Erde bestatten, die Verkündigung, das Wunder, wie Maria ihrem Verteidiger, dem hl. Ildefons, erscheint, u. a. am liebsten schilderte, hat dem Barock seinen Tribut geleistet; der Mystiker wird ein Formalist und berührt sich so fast mit dem Extrem, mit dem Materialisten, natürlich nur formal, nicht inhaltlich.

Hierin berührt sich Greco mit Marées, beide als malerische Probleme betrachtet Auch Marées, der in modernen Kunstkreisen so schnell große Sympathien gewonnen hat und dem Meier-Graefe ein in seinen Grenzen gediegenes dreibändiges Werk widmete[2], ist ein Formalist im weiteren Sinne als Greco; er ist ein Sucher monumentaler Formen, ein Stilist, der die reine Monumentalität der absoluten Schönheit finden will. Er ist im Wollen weiter als Greco, und ist doch in engeren Grenzen geblieben. Es sind die alten klassischen Ideale, mit modernem Bewußtsein zu gestalten gesucht.

Greco ist ein engerer Formalist, pointierterer, bedingterer Artist, aber seine Grenzen sind weiter. Ja er wäre grenzenlos, wenn er nicht eben formalistisch pointiert wäre. Während die Klassik, die Renaissance sich selber beschränken, neigt das Barock zur Unbeschränktheit, Schrankenlosigkeit. Wieder ein Punkt, der sich mit der Moderne berührt. Ganz deutlich zeigt sich der Unterschied zwischen Greeo und Marées in der Bildgestaltung. Marées hat seine Formen und Linien im Raum zur Raumklärung, Raumdurchfühlung, in sich zusammenschließenden Rhythmik. Grecos Linien, die leuchtenden Muskeln, die leitenden Bewegungen, die Gewandfalten liegen alle nach der Fläche zu, sind Impressionen, die die Vorgänge aus einem geheimnisvollen Hintergrund hervorstrahlen, Leitlinien der Formen und des Ausdrucks. Greco will den Raum nicht klären, sondern verdrängen, überwinden. Eine raumlose Kunst, eine zeitlose Impression. Während ferner bei Marées der besondere Gesichtsausdruck keine Rolle spielt, die anatomische Körperform vielmehr Bildträger ist, beruhen die Wirkungen Grecos ganz vorzugsweise auf in Ausdrucksformen verlegten seelischen Stimmungen, Schmerz- und Freudeäußerungen, so bei den Gestalten der Kreuzigung im großen, bei den um den toten Grafen Orgaz trauernd versammelten Rittern im kleinen. Schon deshalb sind die Linien bei Ma- . rées Wesenslinien, die ohne Affekt fast wesenlos werden, bei Greco Affektlinien, die allerdings ihrerseits wieder das Wesen überschneiden und verzerren können.

Wie schwer gestaltbare seelische Vorgänge Greco sich unternahm, dafür scheint mir ein Beispiel die Haltung der beiden heiligen Frauen und des Jüngers Johannes auf dem Bilde der „Kleiderberaubung“, wo sie mit dem den Kreuzarm anbohrenden Henkersknecht, wie das Greco will, den Boden und Vorgrund verdecken und dem ganzen Bilde die Höhenrichtung geben. Ein Kritiker hat tadeln zu müssen geglaubt, daß im schroffsten Gegensatz zu der seelisch bewegten Christusgestalt „Johannes, Maria und Magdalena ohne jegliche Spur inneren Mitfühlens, ohne jeden Schmerzausdruck mit ihrer ganzen Aufmerksamkeit dem Henkersknecht zuschauen, als ob sie noch nie in ihrem ganzen Leben ein Loch in ein Holz hätten bohren sehen.“ Einem Künstler wie Greco ist eine solche Geschmacklosigkeit doch von vornherein nicht zuzutrauen. Die drei Gestalten — der Künstler brauchte die Gruppe als ruhigeren Unterbau für die obere, bewegtere Szene — blicken nicht teilnahmslos, sondern mit im Schmerz erstarrten Haltungen und Bewegungen, in momentaner Selbstvergessenheit vor innerer Trauer auf die geschäftigen Bewegungen des Henkers. Der Schmerz und die pointierte Ablenkung spricht auch aus den Farben, besonders dem Zitronengelb. Eine Ablenkung der Blicke von Christus, aber eine Ablenkung, wie der Künstler nicht leicht eine schmerzlichere und mehrsagende hätte finden können! Und so fort. So seltsam Greco auf den ersten Anblick erscheint, so viel künstlerisch und menschlich Fesselndes ist an ihm.

Und seine Bedeutung gegenüber Velazques? In unseren Fragen nach den tiefen Ausdrucksmöglichkeiten der Kunst ist Velazquez nicht vorgekommen. Es gibt eben Künstler, die für die positive malerische Entwicklung äußerst fruchtbar und bahnbrechend sind, die auch gerade den Stil ihrer Zeit besonders charakteristisch verkörpern. So Velazquez. Und es gibt Künstler, die keine Nachahmer finden können, die die Malerei als solche eher auf Abwege führen, die aber, seltene Geister, die Kunst in ihrer seltsamsten Geistigkeit, in ihren abstraktesten Formen und ihrer doch gerade deshalb individuellsten und natürlichsten Bedingtheit, in ihrer alleinigen seelischen Verankerung erkennen lassen. So Greco. Der eine verbreitert die Grundlagen, der andere bildet die Spitzen, zeigt die Enden der Kunst. Velazquez behauptet seine kunsthistorische Stellung unerschütterlich, Greco konnte vergessen werden, er kann aber wie ein Meteor wieder aufleuchten. Und daß er in der Gegenwart aufleuchtet, ist ein Zeichen der Zeit und eine Mahnung für unsere Kunst.

Das eine ist gewiß: Am Anfange unseres neuen Jahrhunderts liegt keine mit klassischen Skulpturen verzierte Schwelle, es breitet sich auch kein weicher Rasen und keine lockende Natur aus. Vor der neuen Kunst hängt ein Vorhang, auf dem rhythmische Formen leuchten, die Formen einer neuen geistigen Kunst. Die Periode des Barock war für die Menschheit eine schwere Zeit, aber künstlerisch war sie großartig; es war eine Lust zu leben. Die Gegenwart ist wenigstens an Geisteskämpfen reich genug. Und auch heute rührt sich künstlerisches Wesen, so daß man sagen möchte: Es ist eine Lust zu leben.

 

Anmerkungen

[1]Meier-Graefe, „Spanische Reise“, Berlin 1910.

[2]Julius Meier-Graefe, Hans von Marées, 2 Bde., München 1914.