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Konrad Weiß: Zum geschichtlichen Gethsemane

Karl Caspar

Eine Studie über die künstlerische Ruhelosigkeit des Christentums

Seit das Christentum in der Welt ist, schlägt das Herz der Welt unruhiger mit jedem Tag. Immer mehr wird die Kunst, die von diesem ruhelosen Herzschlag durchpulst wird, aus dem egoistischen Gleichgewichtsstreben der vergöttlichten Menschlichkeit, aus dem klassischen Schönheitswillen und typischen Kreisgange herausgetrieben; und die Natur, je mehr sie der Kunst absichtlich als letztes Ziel einer pantheistischen Harmonie oder einfach als der dem Berührenden immer neue Kräfte spendende Erdboden dienen soll, um so schneller weicht sie zurück, zerfällt in ihre Atome, wird nature morte oder schichtet sich um in Elemente, die immer mehr Geheimnisse der Weltordnung, immer reinere geistige Formen ahnen und darstellen lassen.

Die heidnische Welt hat das Erlösungsbedürfnis unterdrückt; ihre Kunst hat das individuelle Gefühl möglichst verallgemeinert, schematisiert, der Natur ihre Feindlichkeit und Angriffsfähigkeit auf die ihr ausgelieferte Menschenseele möglichst genommen, den Paradiesfluch durch erstarrende Formkonventionen auszuschließen versucht. Das heidnische Weltgefühl ist ein Massengefühl, die heidnische Kunst eine stete Typisierung dieses Massengefühls, sei es nun, daß die heidnischen Anschauungsformen vor allem Architekturen waren, die den Menschen überdeckten, ihn von der Natur absonderten und in eine Allgemeinidee einkapselten, oder daß der Mensch sich in plastische Typen wohlgefällig einschloß und seinen Schwerpunkt ganz in seiner irdischen Existenz suchte, sei es, daß fatalistische Instinkte sich durch den sinnbetörenden Eindruck materienloser Ornamente und Flächenarabesken an der Grenzenlosigkeit ihres Weltzusammenhanges phantastisch befriedigten.

Durch das Christentum ist der Mensch als verantwortliche Seele aus der Masse herausgelöst worden; durch das Verlassenheitsgefühl des Erlösers ist die Seele individualisiert worden bis zur Verlassenheit. Das Individualitätsgefühl, das der klassischen Typik gerade entgegengesetzt ist, beschleunigt von nun an immer stärker den Pulsschlag der Kunst. Das innerste Prinzip der künstlerischen Entwicklung dringt nun nach außen, wird im Kampfe mit der Natur bewußt und mit Hilfe der Natur mächtig, künstlerische Formen zu bilden, die den Menschen nicht mehr in einen Raum einkapseln, nicht mehr durch sein eigenes Volumen beschweren, ihn nicht mehr durch abstrakte Ornamente sich selbst entgehen lassen, sondern ideelle Gebilde, deren Raum nur eine reine Weite der Seele ist und deren Zeit die in dieser Seelenweite aufgespeicherte religiöse Erfahrung der Menschheit.

Auch die Natur ist durch das Christentum befreit worden. Ihre mit dem Paradiesfluch verbundene seelische Bestimmung, ihre Feindlichkeit und Angriffsfähigkeit auf den Menschen, nicht mehr die stumpfere Masse, sondern das empfindliche Individuum, ist verstärkt; im Kampfe des Menschen mit der Natur wird ihre materielle Ausdruckslosigkeit immer mehr zu ideeller Ausdrucksfähigkeit. Die Natur als Stoff, als Geschaffenes, wird immer mehr von der Idee verzehrt, Schöpfung. Die Natur fällt immer weiter in das Chaos wieder zurück, um durch den Zerfall sozusagen die Keime der Vorsehung entlösen und aus ihrer Naturgebundenheit in die individuelle Freiheit des menschlichen Geistes eingehen lassen zu müssen. Die Natur ist das zweite Prinzip der durch das Christentum angebahnten künstlerischen Entwicklung.

Dieses stets sich ändernde Verhältnis von Individuum und Natur, diese Spannung zwischen Welt und Seele, dieser Dualismus zwischen Natur und Übernatur ist das Grundproblem dieser Kunst. Denn nicht die Natur und nicht der Mensch ist Gegenstand der Kunst, die in jeglicher monistischer, pantheistischer Form erstarren müßte, wenn sie eben in einer solchen endigen könnte. Der Gegenstand der Kunst ist vielmehr eine Weltanschauungsform, eben dieses allgemeinmenschliche Gefühl des Dualismus, dessen seelische Spannung die christliche Kunst mehr als jede andere weitgespannt, individuell ruhelos, zum steten Prinzip des künstlerischen Fortschritts gemacht hat. Nicht Kunstwerke inhaltlich zu deuten, in ihrer geringeren oder größeren formalen Vollkommenheit zu würdigen und in den äußeren Übergängen ihrer historischen Formen zu verfolgen, sondern das stets neue Formen bildende und vernichtende Gefühl des Dualismus psychologisch zu ergründen, ist die noch kaum begonnene wahre Aufgabe der Kunstgeschichte, wäre insbesondere die Aufgabe der christlichen Kunstgeschichtschreibung.

Der Naturalismus des 19. Jahrhunderts wird unter diesem Gesichtspunkte in seiner großen vorbereitenden Bedeutung erkannt. Es ist kein Zufall, sondern innerster Zusammenhang, daß gerade in den geschichtlich energievollsten Perioden des Christentums, in der Gotik und in der Barockzeit, die Auseinandersetzung mit der Natur, der damals allerdings noch nicht so individuell und extrem brutal entwickelte Naturalismus, einen besonders großen Umfang der künstlerischen Tätigkeit für sich in Anspruch nahm, so daß gerade die Gotik und die Barockzeit, in denen sich das dualistische Gefühl am stärksten äußerte, zugleich überhaupt die naturalistischsten Perioden der ganzen Kunstgeschichte sind. Wie damals der Dualismus sich am weitesten spannte, der Himmelspol der Idee den Erdpol der Natur fester als je abstieß und an sich zog, so mußten auch im letzten Jahrhundert Idee und Natur sich am weitesten abstoßen, um sich wieder umso fester anziehen und zu neuen Formgewaltien verbinden zu können. Die Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts könnte man ganz unter dem dualistisch-ethischen Leitgedanken zusammenfassen: das Erlösungsbedürfnis aus der Materie. Die dem dualistischen Gefühl feindliche absterbende Klassik dieses Jahrhunderts, zu der auch das Nazarenertum im ganzen hinneigt, spielt darin eine in wenigen Künstlern heroisch-tragische, sonst meist egoistische und äußerliche Gefühlsrolle. Der Grundzug ist eine neue letztmögliche Eroberung der Natur, die im Impressionismus zu einer fast fatalistisch aussehenden, vorgetäuschten Naturüberwindung wurde, da eine pantheistische und monistische Tendenz das Gefühl des Dualismus darin zu ertöten suchte und den individuellen Menschen ausschließen wollte. Der Dualismus hat sich aber kaum je in einer zerrisseneren Menschheit geoffenbart als in der des 19. Jahrhunderts, jedenfalls nicht in so allgemein radikaler Zersetzung aller religiösen und Volkswerte. Die Natur ist infolgedessen auch künstlerisch noch nie so chaotisch aufgelöst, in Ausdruckselemente zersetzt worden wie in dieser Periode, auf der wir fußen. Immer mehr hat man im 19. Jahrhundert den Rückblick auf vergangene Kunstformen aufgeben müssen; denn dieser Rückblick machte die Kunst erstarren, wie Lots Weib beim Rückblick auf die verbotene Stadt erstarrte. Es ist eine Sünde wider den Heiligen Geist der Kunst, der erkannten Wahrheit zu widerstreiten, die Keime, die eine aufgelöste Natur zu einer neuen Monumentalisierung des Lebensgefühls beiträgt und die daraus gewonnenen dualistisch-ethischen Erfahrungen zu verschmähen, den Menschen und die notwendige Ruhelosigkeit des künstlerischen Gewissens in eine unechte Schönheit und falsche Ruhe einzuwiegen, den Dualismus durch Kompromisse zu unterdrücken, statt ihn in seiner ganzen Schärfe empfinden, durch den mächtigeren Gegenpol der Idee anziehen und in der ganzen Spannweite einer vermehrten und intensivierten menschlichen Erfahrung ideell überwölben zu wollen. Andererseits ist es aber ein Zeichen eines hohen Künstlertums, den rechten Zeitpunkt zu fühlen, sich seines Rufes bewußt zu werden und die niederen, aus dem Naturalismus gewonnenen Erfahrungen mit den höheren Erfahrungen der Tradition, die der Menschheit unverloren bleiben, zur neuen Kunstform zu verschmelzen.

Dieses hohe Künstlertum strebt Karl Caspar, des Dranges der Zeit bewußt, in Werken an, die uns in ihrem zeitgeschichtlichen Werte erfüllend und vorbedeutend erscheinen.

Zeitgeschichtliche Bedeutung, künstlerischer Wert und Inhalt eines Kunstwerks fallen um so mehr zusammen, je stärker dieses von dem künstlerisch notwendigen Zeitempfinden durchdrungen ist. Es besteht ein Zwang zwischen Stoff und Form derart, daß der Stoff aus der künstlerischen Form fast unbewußt herausgedacht wird. Der Stoff ist keineswegs Willkür, sondern eine Inspiration der Form. Der Künstler, in dessen Bildern wir hier neue, aus dem modernsten Geiste herausgestaltete Dokumente des ruhelosen künstlerischen Fortschritts des Christentums erkennen wollen, Karl Caspar, hat Werke geschaffen, deren tieferer, nicht bloß künstlerisch formaler, sondern geistig unlösbarer Zusammenhang mit der Gegenwart, — diese als einen naturalistisch neu bewußt gewordenen historischen Moment betrachtet, — als aus der seelischen Konstellation der Moderne folgende Notwendigkeit empfunden wird. Und dieses Gefühl einer künstlerischen Erfüllung zeitgeschichtlicher Notwendigkeiten ist dem Kunstpsychologen der sicherste Beweis für eine selten echte Künstlerpersönlichkeit, auch wenn erst der Anfang eines Lebenswerkes Urteile gestattet. Denn die Werke dieses Künstlers wurzeln nicht bloß in der persönlichen Entwicklungsstufe, sondern sie hängen mit einer Bewegung zusammen, die hinabreicht in jene Tiefen unserer Gegenwart, deren Grundwasser vom Meer der Geschichte gewordenen Ideen gespeist wird. Und wenn nicht alle Zeichen trügen, fängt dieses Grundwasser heute an zu steigen und den chaotisch aufgewühlten und zerfallenen Boden der Gegenwart neu fruchtbar zu machen. Je mehr wir uns zu unserer Zeit bekennen, um so mehr fühlen wir die Säfte steigen und wissen, daß uns eine Zukunft winkt.

Caspar, der, 1879 in Friedrichshafen am Bodensee geboren, zu der Generation gehört, die heute auch in Deutschland gegen den Naturalismus überall Front macht, der sich aber jedem billigen Schlagwort wie Expressionismus, Synthese usw. fernhält, macht die chaotische Zersetzung der Natur unter den Modernsten mit, aber nur, um die Naturelemente gleich in malerische Formen umzusetzen, um geistige Ausdrucksmittel zu gewinnen, mit denen seine Menschen statt genrehaft verzettelter oder historisch verengter ausdrucksschwacher Erzählergesten wieder die einfache Monumentalität der Haltung und Bewegung, die organische Symbolik der Gebärden gewinnen müssen, die die wirkenden Ideen versinnbildlichen und in ihrer unmittelbarsten Form verewigen. Nicht anders wollen die Gleichnisse und Erzählungen der Bibel wirken, in denen ohne alle Nebensachen nur die anschaulichsten Züge berichtet werden. Ein solches Bild von biblischer Einfachheit ist der „barmherzige Samariter“, eine Studie und ein Beispiel für die moderne malerische Aufgabe, die beseelte Gebärde und den menschlichen Gehalt aus einer zu primitiver Größe aufgelösten Landschaft eben dadurch auch dramatisch vergrößert herauszuheben. Wäre diese Landschaft genau durchgeführt, der Weg deutlich angegeben, die Felsen einzeln durchgezeichnet, die Berge im Hintergrund voneinander abgehoben, die Struktur der Landschaft in ihr gewöhnliches Gewand sorgfältig gekleidet, dann auch die Menschen in jedem Kleidungsstück und jeder körperlichen Eigentümlichkeit, etwa auch die Wunden des unter die Räuber Gefallenen genau charakterisiert, so wäre das Bild vermutlich leer, vielmehr es müßte mit vielerlei Details gefüllt werden, um das Interesse anzuziehen und den Anblick zu beschäftigen. Das wären aber lauter Dinge, die zwar vielleicht auch durch eine bestimmte Herbheit der Einzelformen zum Ernst des Geschehnisses beitragen könnten, die aber doch den Geist von dem eigentlichen seelischen Vorgang abziehen, diesen umschreiben und den Eindruck zerlegen würden. Die heutige Malerei will aber den Eindruck in seiner ganzen Intensität auf einmal dem Geist entgegenbringen, will den Geist in den dynamischen Rhythmus der Szene hineinziehen, die Seele nicht entfalten, sondern erschüttern, die Idee nicht episch durchführen, sondern dramatisch monumentalisieren. Darum der rauhe Weg, der dem Geiste keine Rast gewährt, darum die Felsen, die wie von einem Erdbeben geschüttelt sind, die, an Christi Wort von den fallenden Bergen und den bedeckenden Hügeln erinnernd, den vorbeigegangenen Mitleidlosen von der Szene des Erbarmens fortzustoßen scheinen zu unbewegten Flächen, in die die starre, abgekehrte Gestalt als ein anderer unerschütterter Gegenstand, als etwas geistig Totes eingeht. Vorne aber hebt sich aus dem erschütterten Eindruck der Natur, der durch die steilen und gekrümmten Pflanzen verstärkt wird, die Szene ab, der Kernpunkt des Gleichnisses. Das Reittier, der Verwundete und der Samariter sind in eine enge Gruppe zusammengefaßt, in der sich die Naturerschütterung wie in einem Akkord von bewußt gewordenen Bewegungen sammelt, der nichts weiter ausdrücken will, als die unterstützende und liebevoll helfende Gebärde des Wohltuns, sozusagen nur ein Ornament, aber kein fatalistisch impressionistisches ohne Mensch, sondern ein menschliches Ornament, das Ornament der Nächstenliebe. Die Übung der Barmherzigkeit wird zu einer religiösen Erfahrung, zu einer Tugend, zu einem seelischen Rhythmus, einem Ornament der Seele. Dieses Zusammenfassen eines Geschehnisses in einen möglichst restlosen Ausdruck ist der klassischen Typik ganz entgegengesetzt; nicht der Mensch wird hier künstlerisch geformt, sondern sein Handeln. Himmel und Erde werden vergehen und auch des Menschen Gestalt wird formlos werden, aber die erfüllte Mahnung des Gleichnisses wird ein seelisches Handeln verewigen. Dieser Eindruck, diese seelische Schöpfung, in der sich das Individuum aus der Natur zur Dauer der Idee erhebt, diese neue Entspannung des Dualismus ist das hohe Ziel der modernen Malerei.

Das Bild „Der barmherzige Samariter“ gehört zu den letzten malerischen Problemstellungen Karl Caspars. Es ist mehr eine neu erprobte Entwicklungsstufe des Verhältnisses von Natur und Mensch als eine abgeschlossene Formwelt, mehr eine einzelne seelische Energieentfaltung als ein gesammelter seelischer Komplex. In dem um zwei Jahre früheren Bilde „Noli me tangere“[1] ist die malerisch-dramatische Intensität des Eindrucks noch nicht so stark, wird von diesem Stoffe auch nicht so stark gefordert. Vielmehr verlangte die Stoffwahl der Form hier eine Szene in einer stillen, ganz frühen Frühlingslandschaft, wo die Natur die Innigkeit ihres Neuwerdens noch schüchtern unter kahlen Flächen verbirgt. Es ist eine stille, schüchterne Erwartung, eine schlichte und edle Verhaltenheit in diesem Bilde. Die kahlen Flächen der Beete, die ebenen Wege und Mauern stoßen in einer leisen Spannung gegeneinander, weichen aus der Bildmitte zurück und teilen den Figuren diese verhaltenen und doch bestimmten Bewegungen mit. Die Arme Magdalenens stocken durch Christi Armbewegung zurückgehalten und doch werden die scharfen Ecken dieser geistigen Bewegungsfigur des Drängens, Zögerns und Abweisens durch eine weich geschlungene, ellipsenartige Linie, in deren Brennpunkten sich die beiden Köpfe befinden, versöhnt. Der hohe Horizont im oberen Bildteil, in den Christi Gestalt, dadurch überirdisch erscheinend, hineinragt, hält die Spannung der unteren Flächen fest, verstärkt und verallgemeinert sie zugleich zu einer heiligen Ruhe, die in der Horizontlinie getragen und erhaben ausschwingt. Das Naturgefühl ist in diesem Bilde noch mehr gebunden, nicht so geistig erschüttert, aber diese Gebundenheit entspricht eben der geistigen Verhaltenheit der Szene. So kommt der christliche Geist des Dualismus, der seelischen Beziehungen bald auf dieser, bald auf jener Stufe der Naturgebundenheit zur Ruhe, um doch im ganzen immer symbolischere, ideellere Formen ruhelos anzustreben.

In der ganzen heidnischen Welt ist die Kluft zwischen Idee und Natur viel zu groß geblieben, als daß der Mensch der Ahnung der erlösenden Idee mittels der Natur individuell in sich hätte bewußt werden können. Die Verheißung, die mit dem Paradiesfluche verbunden war, mußte erst erfüllt werden, im Schoße des Weibes mußte sich die Übernatur mit der Natur vereinen. Die Mutter, die das Sohnesopfer, die schmerzvolle Scheidung des Natürlichen und Göttlichen miterlebt hatte, die Mütterlichkeit wurde das christliche Grundgefühl, das dem menschlichen Erlösungsbedürfnis am nächsten steht. In der Pietà, wo die Mutter die toten Glieder in Armen die Erde vergißt, wird sich der Geist seiner Erlösung bewußt. So ist die Pietà kein bloßer christlicher Stoff, sie ist eine aus der Idee gebrochene Form, ein christliches Formsymbol. Die Pietà ist das Symbol der wiedergetrennten Vereinigung von Natur und Idee, der schmerzlichsten Glaubensgewißheit, eine Form voll Zwiespalt, voll geistiger, sich aus körperlichen Zusammenbrüchen schmerzlich befreiender Monumentalität, ein christliches Symbol wie kein zweites. Hier ist der Mensch nicht mehr räumlich architektonisch eingekapselt, sondern diese Zweiheit, diese Mehrheit von Menschen, die verlassene Hülle des Göttlichen in ihrer Mitte stützend, bildet selber ein immaterielles architektonisches Gefüge, das vom Gedanken der Erlösung getragen wird. Hier zieht sich der Mensch nicht in ein plastisches Volumen zurück, sondern seine Glieder sind gefurchte Symbole der religiösen Erfahrung, sind selber Ornamente des Leidens.

Das 19. Jahrhundert ist wie keines das Jahrhundert der Malerei. Man nennt das Christentum einen Feind der plastischen Form. Mit Recht, wenn man in der Plastik nur das Ideal des klassischen Rhythmus sucht, das in erster Linie einem vermenschlichten Begriff, dem Schönheitsbegriff, seine Entstehung verdankt, nicht einer religiösen Erfahrung, die den Stein furchen müßte. Indessen braucht man nur an die gotische Plastik zu denken, um auch dieser Kunstform die ganze Weite des christlichen Erlebens zuzuerkennen. Dabei liegt es aber doch im individuellen, sich stets aus der Natur erlösenden Wesen der christlichen Kunst, daß das Christentum die malerische Form bevorzugt und daß die Geschichte der Malerei gerade mit der Geschichte des christlichen Geistes aufs innigste zusammenhängt. Denn die Malerei drückt wie die Lyrik Natur, Mensch und Idee, Farbe, Form und architektonische Komposition gleicherweise aus. Sie kann darum auch das christliche Zeitempfinden schon in architektonische Monumentalformen zusammenfassen, wenn das individuelle Gefühl noch nicht zur Weltanschauung geworden ist, allgemein genug, um eine neue religiöse Architektur zu ermöglichen. So sucht heute die Malerei auch die Aufgabe des architektonischen Erlebnisses zu übernehmen, meist allerdings in einem falsch verstandenen Fachstil, einer Wandmalerei, die ihre Gesetze von irgendwelchen Monumentalbegriffen herholt, statt sie ganz in der ideellen Überhöhung eines seelischen Gehaltes zu suchen.

Karl Caspar hat bereits drei malerische Lösungen des Pietàsymbols geschaffen. Die erste Pietà wurde für eine Kirchenschiffwand[2] als eine Monumentalkomposition durchgeführt, die sich einer vorhandenen architektonischen Form, einer Wandfläche angleicht. Das Bild geht räumlich wenig aus der Fläche. Die monumentale Wirkung beruht in der herben Symmetrie der drei Halbfiguren, die nach unten durch den schon zur starren Grabesruhe ausgestreckten Leichnam Christi ponderiert wird, während die harte Kontur des Kalvarienfelsens wie ein überwundenes Schicksal zurückweicht und der senkrechte Kreuzesstamm den Druck der Trauer nach oben öffnet und erleichtert. Die Gebärden der Hände, die schräge Linie, die von dem durch Maria aufgefaßten linken Arm Christi in der liebevollen Handhaltung kurz verweilend zu der leidenschaftlicher gerungenen Armhaltung Magdalenens weiterführt und die durch die Parallelhaltung der Hände der ersten Gestalt, des heiligen Johannes wieder beruhigt wird, diese kompositionsbelebenden und beunruhigenden Elemente bringen den monumentalen Ausdruck der seelischen Bewegtheit in die stille Hoheit der linearen Gestaltung. Die Kompositionsart dieser strengen Pietà, in der die Menschen weniger als Individuen denn als Ideenträger, als monumentale Ausdruckselemente in abstrakteren Maßverhältnissen wirken, dient auch mehr der Idee als dem zeitgeschichtlichen Organismus der christlichen Seele. Es ist hieratische Kunst. Man denkt an die Bestrebungen des P. Desiderius und der Beuroner Kunstschule, die in der Kunst allerdings mehr ein liturgisch dienendes Element sehen. Eine Kunst, die die ruhelose Energie des christlichen Individuums aber prinzipiell zugunsten einer rein ideellen hieratischen Monumentalität ausschließen wollte, müßte verkümmern, müßte wieder ein heidnisches Aussehen bekommen.

Caspar hat das Pietàsymbol in zwei weiteren Werken immer organischer vertieft und dadurch eine neue ideelle Architektonik und Monumentalität erreicht. Zunächst in einer zweifigurigen Pietà. Das Bild, das ebenfalls vom Kalvarienfelsen als von der schweren Erinnerung an die Leidenszeit im Hintergrunde bedräut wird, zeigt eine ganz geschlossene, fast plastische, nur farbig herb belebte und malerisch überwallte Form und Silhouette. Die einzelnen Teile, die schweren, geknitterten Falten und gekrümmten Säume, die wie klagend herabrieselnde Tuchbahn, das Kleid Mariens mit der zitronengelben bitteren Farbe, der rauh gemalte Körper Christi, die schwer weggesunkene Schulter mit dem hängenden Arme, die kurze, starke Diagonalform, die durch die Haltung der beiden Köpfe dem Bilde aufgebürdet wird, diese Elemente des Schmerzes können die geschlossene Ruhe der diagonalen Rundkomposition nicht überwältigen. Diese wird vielmehr noch ruhiger, stiller und innerlicher gemacht durch die weiche Linie, die vom Kopfe Mariens über den linken Arm zum linken Arme Christi rundführt. Es ist ein Schmerz, der sich in der Weichheit der Berührung vergißt, der Schmerz, der in sich selber Stillung sucht. Dadurch, daß das Bild nach oben links so bedrückt einsinkt und doch den Schmerz stark ausatmet, durchbricht es aber die selbstische Verinnerlichung, die einem klassischen Werke eigen wäre —, man denke an Michelangelos schöninnige Pietàplastik — und strömt ins Weltall über.

Ein Werk, das aber die ganze Weite des Weltalls in Schmerzen trägt, das ganz aus sich selber selbstlos zur architektonischen Form wächst, ist die nächste vierfigurige Pietà. Keine selbstische Verinnerlichung der Liebe mehr, sondern ein reines Symbol des geläuterten Schmerzes, der sich aus der Welt in die raumlose Höhe der Idee erhoben hat. Die vier Gestalten, die in einem verschobenen Viereck zueinander stehen und deren Köpfe ebenfalls ein so seltsam verschobenes und geknicktes Viereck bilden, sind viel mehr als eine trauernde Gruppe um einen toten Heiland, diese Pietà ist noch mehr als das Symbol der in Glaube und Hoffnung vergeistigten Opferliebe. Diese Pietà ist wie ein zerbrochenes gotisches Gewölbe, wie ein sich seelisch über der Welt aufrichtender Kirchenraum, der von den Angriffen der Erde zwar erschüttert, aber nicht mehr überwältigt wird. Die Zangen der Erdschrunden zu beiden Seiten öffnen sich und weichen zurück. Die überwundene Natur reckt sich in den Ästen eines kahlen Baumes wie eine Rettung suchende Hand. Die Lanzen im Mittelgrunde, die Liktorenabzeichen der weltlichen Gewalt ziehen ab, ihr Drohen ist kaum mehr ein beunruhigender Augenblick. Jerusalem, die unerlöste Stadt, liegt in fahlem Lichte bleich in Bitterkeit. Die schweren, klagenden Farben der Erde fließen dort in einem gleißenden Spiegel zusammen, werden in der Luft dramatisch lebhafter und gehen über in die Lichtbahn eines das Leid aufsaugenden Glorienscheines. Vor dieser Szene ragt die Urkirche, ohne Fußraum, schon nicht mehr zu ihr gehörig empor, ein ausgelebter Augenblick der Geschichte, der wieder Idee geworden, eine Kunstform der christlichen Weltanschauung.

Die Geschichte ist die Menschwerdung der Ideen. Das Individuum ist der Idee unterworfen; es erfährt ihre menschliche Tiefe aber nur so weit, als es aus seiner Zeit heraus die Natur überwunden hat. Jede Zeit erlebt eine christliche Idee in einer anderen menschlichen Tiefe; darum wiederholt sich keine Kunstform. Diese Pietà konnte in keiner Zeit gemalt werden als in der unseren. Denn diese mitklagenden Farben, diese Erschütterungen der Natur, diese neue Loslösung der Idee aus der Räumlichkeit des Ortes und aus der Realität der Geschichte war in keiner früheren Zeit möglich. Wohl ist die Idee selber zu allen Zeiten dieselbe, unerschöpflich groß, aber diese neue aus der Natur gewonnene organische Erfüllung gehört nur unserer Zeit. Das allein ist der künstlerische Monumentalbegriff der Geschichte. Wenn Gebhardt seine religiösen Bilder ins Reformationszeitalter versetzt, so gibt er ihnen ein historisches Kleid, nimmt ihnen aber gerade die ideelle Weite der religiösen Erfahrung, statt der sie nur noch eine konfessionell historische Tendenz haben, eine enge, hartnäckige Energie, die sich an Einzelheiten klammert. Die christlichen Maler, die Echtheit des geschichtlichen Zeitpunktes und des Orients verlangen, begeben sich vollends jeder inneren Notwendigkeit der christlichen Erfahrung, sie sind Kleingläubige, die nicht an die ruhelose künstlerische Kraft über alle Zeiten hinaus und nicht an den unerschütterlichen Felsen glauben.

Es gehört ja schon eine religiöse Erfahrung, die nur mit Hilfe der Natur gewonnen werden kann, dazu, eine überzeugende Typik der christlichen Gestalten, der Köpfe insbesondere zu schaffen, die nicht einfach durch Attribute, sondern durch wirkliche Durchdrungenheit wirken sollen. Der naturalistisch-religiösen Kunst eines Uhde fehlt gerade diese Typik; er nimmt alltägliche Gesichter, die nicht ideell durchgearbeitet sind und das Christliche darum auch nur als Stimmung in besonderen Momenten der Situation und Beleuchtung empfinden und darstellen. Steinhausen dagegen wischt von seinen Gesichtern die Zufälligkeiten weg, er gibt ihnen aber nicht die starken Furchen, die nicht bloß das Gefühl, sondern vor allem Verstand und Wille graben müssen. Die klassische Typik rundet den Menschen, schließt die Erfahrung aus, die christliche, gotische Typik furcht den Menschen, vertieft die Erfahrung. Alles will bei ihr organischer Ausdruck werden, die Gesichter, die Hände, die malerisch aufgelösten Körper, die Kleiderhüllen, die seelisch bewegten Haltungen. So weit wird alles in organische Formen innerlich verwandelt, bis der Aufbau von selbst zu ideeller Architektonik wird, die nun durch ihren organischen Werdegang von jener konstruierten hieratischen Kunst weit entfernt ist, ihr aber in der ideellen Wirkung wieder nahe kommt; nur daß diese Wirkung nun von erfahrener, geläuterter Menschheit gesättigt ist. So steht die dritte Pietà Caspars als Urkirche nicht nur ideell, sondern auch organisch in der heutigen Menschheit. Sie ist ein Teil unseres Zeiterlebens. Man kann dieses Symbol der Urkirche auch inhaltlich noch weiter ausdeuten, die leidenschaftliche drängende Haltung der Magdalena als die unruhige, weltliche Sinnenhaftigkeit; in Maria die entsagende Mütterlichkeit der Liebe, die die Idee überragt, die feste Haltung des Johannes sozusagen als die dogmatische Stütze der um Christus gruppierten Urkirche. Man braucht diese inhaltliche Symbolik jedoch nicht, sie ist nur eine stoffliche Ausdeutung einer in sich notwendigen christlichen Kunstform.

Man hat vielfach geglaubt, daß der Naturalismus der achtziger Jahre eine dem Quattrocento verwandte Periode sei, auf die eine neue künstlerische Renaissance folgen müßte. Das ist in keiner Weise der Fall. Die Unruhe der Menschheit und ihre ideelle Bindung, der eine radikale Lösung gegenübersteht, ist heute zu groß, als daß der Mensch in sich selber wieder ein scheinbares Gleichgewicht finden könnte, zumal in der deutschen Kunst. Schon Dürers „Melancholie“ hat die klassische Typik in einem unruhigen Sehnen durchbrochen. Alle klassizistischen Versuche enden heute in Unfruchtbarkeit und Vertrocknung der geistigen Organe. Die Seele muß ihren Schwerpunkt außerhalb suchen. Die „Melancholie“ von Caspar ist eines seiner ersten Werke. Diese sitzende Gestalt wird durch die geistige Erregung aus sich herausgehoben, wie ein Fels ragt der Körper über die langsam, stetig drängende Flut der Faltenwellen heraus. Wie ein Halbmond biegt sich die Gestalt mondnächtig mit im Traum gefesselten, verlorenen Händen einer unbekannten Anziehungskraft zu.

Dieses Zwischengefühl zwischen Selbstbehauptung und Naturverzehrtheit, in dem die geistige Bewußtheit ertrinkt, hat einen heidnischen Hauch, verglichen mit der ganz anderen geistigen Erregung, die die Gestalt des „Johannes auf Patmos“, eines der letzten Bilder, überschauert. Hier ist statt Gebundenheit Gehobenheit, statt Traum Vision, statt geistiger Versunkenheit höchstes Bewußtwerden, Inspiration. Die Gestalt atmet in der Leichtigkeit einer südlichen Vegetation, ihr Atem wird im ungeheuerlichen Wirbeln einer vultanischen Atmosphäre beschleunigt, berauscht von einer Offenbarung. Die Armhaltung deutet den Dualismus von Natur und Empfängnis in eine Einheit. Das ganze Bild hat etwas eigentümlich Flächiges, eine aufgestaute Anschauung, in der der Evangelist und der Adler nicht mehr als räumlich bestimmte Wesen, sondern bald nur noch als ein in geistige Bewegung ausstrahlender, seelischer Pol empfunden werden. —

Weitere Bilder des Künstlers seien übergangen. Je mehr man sich in die paar betrachteten vertieft, um so tiefer erkennt man, welch große Rolle das Christentum in der modernen Kunst zu spielen berufen ist. In modernen Kreisen hält man christliche Stoffe für abgetan. Wenn man sich den Allgemeinzustand der christlichen Kunst besieht, möchte man glauben, daß ihr wirklich alle neue formbildende Kraft versagt ist. Wenn man aber das Christentum auch künstlerisch nicht als etwas bloß Stoffliches, sondern als die allbezwingende Weltanschauungsform nimmt, an der alle künstlerische Form sich von selber immer wieder orientieren muß, wenn man begreift, daß nur die tiefste Energie in der zeitlichen Erfassung der künstlerischen Probleme überhaupt erst die Ahnung der letzten Möglichkeiten christlicher Kunstform erschließt, dann weiß man, daß die künstlerische Ruhelosigkeit des Christentums heute mehr als je das alleinige Prinzip des künstlerischen Fortschritts ist. Denn die Seele hat kein anderes Ziel, als den Dualismus zu überwinden.

 

Anmerkungen

[1] Das Gemälde befindet sich im Wallraf-Richartz-Museum in Köln.

[2] Stadtpfarrkirche in Binsdorf in Württemberg