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Konrad Weiß: Zum geschichtlichen Gethsemane

Ein religiöser Monumentalmaler Württembergs

Wenn wir hier [1] auf einen jungen württembergischen Monumentalmaler aufmerksam machen, in dessen großen kirchlichen Wandgemälden sich moderne Kunstauffassung mit tiefem seelischen Gehalte einen, so geschieht es, um beizeiten dem Fehler vorzubeugen, daß eine außerordentliche künstlerische Kraft in ihrer ersten frischesten Schaffensfreude etwa brach liegen müßte, bis die Zeichen der Zeit und der künstlerischen Entwickelungstendenz allgemein und für uns zumal in ihrer Sonderbedeutung für die kirchliche Kunst verstanden sein werden. Diese Zeichen deuten aber auf ein Erstarken der Form gegenüber der Farbe, auf ein Erwachen des monumentalen Gedankens und auf eine Sehnsucht nach objektiver Größe und absoluten Werten. Wie solche monumentale Ansätze und Ausblicke überall gesucht werden, das zeigen schon rein äußerliche Anlasse, wie seinerzeit der Streit um Fritz Erlers Wiesbadener Fresken oder insbesondere die Maréesausstellungen dieses letzten Halbjahres, die im Publikum wie in der Künstlerwelt das größte Interesse gefunden haben. Es handelt sich da nicht bloß um augenblickliche aktuelle Sensationen, wie man bei allzu kritikloser Bewunderung etwa von Hodlers Kunst denken könnte, sondern um eine tiefgehende Bewegung. Diese ist auch schon dem Verständnis für die Beuroner Kunst zugute gekommen, so sehr auch diese klösterliche Malerei den naturalistisch geschulten Augen der Modernen im Grunde fremd sein mag.

Die großen Wandgemälde des württembergischen Künstlers Karl Caspar, die er in der Stadtpfarrkirche des schwäbischen Städtchens Binsdorf, nicht sehr weit von Beuron entfernt, ausgeführt hat, können weder den Beuronern noch den Modernen etwas Fremdes sein. Sie sind eine Synthese von monumentaler hieratischer Form und aus der Natur gewonnener, aber geistig übersetzter und verklärter Farbe. Sie sind ein großes Gelingen der modernsten malerischen Bestrebungen und, trotzdem sie aus dem Innersten heraus Neuschöpfungen sind, doch im Geiste nur eine Übernahme und Neugestaltung des alten künstlerischen Erbes der katholischen Kirche. Fast immer nimmt das religiöse Gefühl die Tradition der Frühitaliener wieder auf. Die Nazarener haben auf sie zurückgegriffen, die Präraffaeliten ihren Namen von diesem Streben erhalten; auch die Beuroner wecken in vielen Formen solche Erinnerungen. Und so lassen auch die mächtigen Gestalten in Caspars Bildern an den monumentalen Giotto denken. Freilich, welche ungeheure malerische Umwälzung liegt zwischen diesen Beziehungspunkten, ungleich mehr fühlbar gegenüber den Nazarenern als gegenüber dem alten Meister, bei dessen Formensprache sich ein unmittelbarer Vergleich nach der farbigen Seite von selbst ausschließt. Aber es handelt sich nicht um einen Vergleich, sondern um etwas Neues. Gegenüber den Nazarenern möchten wir diese moderne Monumentalkunst geradezu als etwas prinzipiell Gegensätzliches hervorheben. Die Kunst der Nazarener vor bald 100 Jahren ist mit ihrer einseitigen Betonung der Form oder besser der abstrakten Linie eine edle Blüte geblieben. Wir ernten heute keine Früchte mehr von ihr. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hat sich rein malerischen Problemen zugewandt. Jetzt, da man der bloßen Farbe satt wird, da aber auch mit der malerischen Bezwingung der Natur ein tragfähiges Fundament gelegt ist, und da zumal die geistigen Kräfte der Zeit nach Sammlung und Aufbau drängen, jetzt nach einem Jahrhundert des Experimentierens mögen wir auf eine neue Periode christlicher und kirchlicher Kunst hoffen. Mit Hilfe der Moderne vertiefte Form und Farbe als erneuerte Ausdrucksmittel der alten ewigen Ideen, das wird ihr Programm und ihr Weg sein, der sie mitten durch die künstlerische Gegenwart zur zeitlosen Größe führt.

Von solcher Art sind die Bilder Karl Caspars. Schon der Umstand, daß der Künstler nur noch die beiden Seitenwände des Kirchenschiffes für seine Kunst frei hatte, während der Chor und die Decke in dem früher üblichen Dekorationsstil bemalt sind, wird ungewollt gleich für die erste Empfindung zum überzeugenden Beweis für seine starke selbstsichere Kunst. Die beiden Wände beherrschen den ganzen Raum und lassen die einfache Kirche in einer schlichten Größe erscheinen. Die älteren Bilder mit ihren grellbunten Farben können die Ruhe, die von den neuen mit ihren unaufdringlichen Nuancen ausgeht, nicht zerstören und ihre Größe nicht verkleinern. Doch wäre man gespannt, den ganzen Kirchenraum in die Harmonie dieser einen künstlerischen Persönlichkeit gebracht zu sehen. Die rechte von zwei Fenstern durchbrochene Seitenwand trägt die Darstellung der Verkündigung und der Heimsuchung Mariens jeweils in zwei überlebensgroßen, ganz schlichten Figuren, durch die ein Hauch der Empfindung und des Wunders geht wie ein Wehen von Inbrunst und Gnade, so in zarter Bewegung die statuarische Ruhe mildernd. Das Mittelbild ist eine Pietà, die heiligen Personen sind streng um Christi ausgestreckten Leichnam gruppiert; hinter der Gruppe steigt der Kreuzesstamm auf, und im dunklen Hintergrund begrenzt eine harte Bergkuppe die Szene. Auf der linken von der Türe und Kanzel durchbrochenen Seitenwand sind die vier bedeutungsvollen Frauengestalten des alten Testaments, Eva und Sulamith, Esther und Judith dargestellt. Fast ganz ohne symbolische Zutaten ist allein durch den körperlichen Ausdruck ihre heroische oder liebliche Erscheinung und Bedeutung charakterisiert. Jede der Gestalten ist von ursprünglicher Schönheit Und Eigenart; insbesondere erscheint die Sulamith als ein ganz neuer Typ voll zartester Poesie. In der Formgebung aller Bilder fesselt der körperhafte erhabene Linienzug, der die heiligen Szenen ohne absichtliche Stilisierung doch über alles Zufällige hinauswachsen läßt. Die Gebärden der Empfindungen sind auf die einfachsten Ausdrucksbewegungen gebracht und damit ins Bleibende und Monumentale direkt aus dem echt Menschlichen gesteigert. Wie durch die Einzelbilder, so geht vor allem bei den mehrfigurigen Bildern ein innerlich bewegter und doch getragener Rhythmus durch die ganze Komposition, dem der Eindruck zugleich der seelischen Ergriffenheit und der stillen Andacht entspricht. Im Gefühle dieses Eindrucks kommt man zum Nachdenken über das Rätsel, wie die Kunst mit den Formen dieser Welt eine geistige Welt erkennen lassen kann, das Rätsel, an dessen Lösung auch Marées vielleicht unbewußt sich mühte. Eine besondere zeitgemäße Bedeutung muß der Farbengebung zugesprochen werden, die zu der monumentalen Wirkung genau so viel intime Stimmung herzubringt, als dieser zuträglich ist. Die Farbe ist hier ein Beispiel, wie die modernen Errungenschaften der Luftund Lichtmalerei für solche Stoffe und Aufgaben nutzbar gemacht werden können. Ohne allen Naturalismus ist es geschehen, und doch kann sich niemand dem Zauber der keuschen Frühlingsatmosphäre entziehen, die die Verkündigung umgibt.

Hier ist ganz selbständig ein Schritt getan zur Erneuerung der monumentalen religiösen Malerei mit allen guten modernen Mitteln. Wir knüpfen freudig unsere besten Hoffnungen daran und erwarten in den kommenden Jahrzehnten, in welche die Jahrhundertgedenktage der Nazarenerkunst fallen, während die moderne Kunst sich vielfach allzu schwächlich an der Biedermeierei orientiert, eine machtvolle Erneuerung der großen religiösen Kunst.

 

Anmerkungen

[1] In der Köln. Volksztg. Juli 1909. Die Aufsätze sind so viel wie nicht verändert und tragen die Spuren ihrer Gelegenheit und inneren Entwicklung. Ihre Richtung und Berichtigung ist in dem Zielgedanken des Einleitungsaufsatzes dem Leser mitzuerfahren überlassen. Die Kriegszeit hat die Beigabe der Bilder verhindert. — Wenn es, wie dies immer deutlicher erschien,tiefstes, forderndes Gesetz der Geschichte ist, den Übergang vom Bild zum Wort zu erkennen und ihn als stets gegenwärtigen Geschichtskern zu verwirklichen, so sind wir in der kurzen Spanne unserer Gegenwart Zeugen geworden, daß auch die neue christliche Form im Bilde vorausging. Das Wort muß auf eigenem Wege dienend folgen. Kritik kann nie ein Erschließen eines künstlerischen Weges sein, sondern ist nur ein Selbstzeugnis des Maßes, wie weit sie selber erkennend und wollend an diesem Weg und Übergang teilnimmt. Aus dem stärkeren und zunehmenden geschichtlichen Gefühl wird die eigene Kraft des Wortes empfangen.