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Konrad Weiß: Zum geschichtlichen Gethsemane

Rodin und der gotische Geist

Wie in der Geschichte der Kunst der gotische Geist entgegen der Sonne von Westen herkam und aus dem uns noch stammverwandten und ganz weltanschauungsgleichen Frankenreiche nach Osten zu Schatten warf und Wurzel schlug, bei uns als weniger volkskräftiger, aber vergeistigterer und im Übergang über die Grenze empfindungssatterer religiöser Weltgeist seine Ausleger fest- und fortsetzte, der dann bei uns zwar in der Form gleich wie in Frankreich, aber in seinem zwiespältigen Gehalt doch weniger verdarb, wenn er auch durch Jahrhunderte einschlief, so scheint auch sein neuer Aufgang wieder von Westen herkommen zu wollen. Man weiß, wie in Frankreich einzelne Geister über die durch die Verderbnis des Volkes verschuldete Verwahrlosung ihres vergangenen Kulturschatzes trauern, und daß diese Trauer fruchtbarer zu werden scheint als unsere bloß verstandesmäßigen Rekonstruierungskünste, da sie in der jungen dichterischen Bewegung dort, z. B. in Claudel, sich niederschlug, und da vor allem der jüngst verstorbene größte Bildhauer seiner und auch noch unserer Generation sie in seinem Werke über „Die Kathedralen Frankreichs“ als in einem literarischen Testament vererbte, das trotz der Klagen und Vorwürfe gegen die Barbarei seines Landes schon weniger wie ein Trauerlied über Vergangenes, als wie ein Hymnus auf Neuerlebtes und Zukünftiges klingt. Rodin ist ja ebenso wie durch sein gestaltetes, den fließenden Sinn eines ganzen selbstverantwortlichen Geisteschaos einfangendes Werk, auch durch seinen rastlosen Eifer, die Seele der gotischen Form zu erfassen, bekannt geworden. Dieser Eifer und die sich darin genugtuende künstlerische Wahlverwandtschaft hat nicht nur seine Schöpfungen für die Deutung umrissen und den Sinn ihrer äußerlich haltlosen Bildstrebigkeit innerlich begrenzt, ihr Kernwesen verstehen lassen, er hat auch über sich hinaus einer künstlerischen Geistesrichtung Nahrung gegeben, die eben in den gegenwärtigen Jahren auch in Deutschland zum Teil mit modischer Hastigkeit sich einlebt, die aber im Schoße dieser unserer Zeit schon lange verborgen war und um so langsamer zum Lichte treibt, je grundechter sie ist und zu sein trachtet.

Ist aber nicht schon vor hundert Jahren der erste neue Hauch des alten gotischen Geistes durch unsere Gemüter gefahren? Ob Friedrich Schlegel, als er in den ersten Jahren des letzten Jahrhunderts, von Paris ausgehend und dort landend, in Reiseeindrücken die „Grundzüge der gotischen Baukunst“ empfand und niederschrieb, in Worten, die oft so ganz von äußerlicher Stilbetrachtung abweichen und auf die Eigenschaften der Seele und die geistigen Formen der Geschichte zusteuern, ob er, wenn ihm in einer dortigen Sammlung schon ein Werk Rodins hätte unter die Augen kommen können, eine Verwandte Empfindung darin gespürt, ob er auch nur einen ähnlich gerichteten Eifer, gotischen Willen in Rodin anerkannt hätte? Wir Heutigen, die den Abstand zwischen jener geschichtlich erwachenden Kunstgeistigkeit des romantischen Zeitalters und dieser von Rodin am stärksten naturerlebten Versinnlichung der seelischen Erfahrungen sehen, den fast ein Jahrhundert langen Weg von den durch Schlegel erkannten Grundzügen, die doch vielfach erst Blitze in neu beladener Seelenwitterung waren, bis zu den heute eigenmächtig erfüllten, aber aus dem allgemein verbindlichen Wahrheitsstreben fast ganz wieder ausscheidenden Formen ermessen, wir dürfen die Möglichkeit dieser Einsicht in dem Maße bezweifeln, als wir selbst erst durch die inzwischen vollzogene Naturdurchdringung in das naturhafte Wesen als zweite Seele der Gotik eingelebt sind, und als wir im besonderen durch Rodins literarisches Denken auf die richtige Lösung des Geheimnisses seiner Kunst geführt wurden. Der Hauch dieser neuen Gotik ist ein ganz anderer als der vor hundert Jahren. So voll diese heutige gerade künstlerisch uns anweht, so sehr fühlen wir, daß die Seele auf die Dauer darin verderben müßte wie in einem noch so satten Luftgemenge, dem die Zufuhr aus Höhe und Ferne fehlt. Diese Höhe und Ferne ist der geschichtliche Geist, den Rodin oft in seinen Worten von Asien und vom Mittelalter her ahnungsreich erfühlt, aber in seinen Werken nicht bannte und bekannte. Es ist schließlich der Geist der christlichen Geschaffenheit, der die alte Gotik als wahrste Geschichts- und Gesellschaftsform erstehen ließ. Er ist beständiger und zukünftiger als die Hymnen Rodins. Trotzdem gibt es im bloßen Bereich des Künstlerischen nichts Zarteres und in geistiger Sinnlichkeit Erhebenderes, gefühlsmäßig Tieferes als diese Betrachtungen, die um so reicher in Blüte schießen, je schwankender sie in Kern und Wurzel stehen„.[1]

Am 17. November 1917 ist Rodin gestorben und hat, wie so mancher weltbekannte Name, im Laufe der kulturumschaffenden Kriegszeit, zu deren Schrecknissen er, soweit bekannt, nicht wie andere Kulturgeister durch Hetzreden beigetragen hat, den Mark-. stein seiner Zeitlichkeit gefunden, als ob sein im Menschlichen befangenes Werk vor einer auf härtere geistige Erkenntnis hingespannten Zukunft abgeschlossen sein sollte. Am 4. November 1840 ist er in Paris geboren aus von väterlicher Seite normannischem, von mütterlicher lothringischem Blute. In dieser langen Lebensspanne hat er, ein selten rastloser Künstler, nicht mit dem Willen nach äußerlicher Fertigkeit, sondern aus dem Drang innerer Erledigung eine große Reihe Schöpfungen entstehen lassen, während andere, wie der Entwurf des „Höllentores“, ihn sein Leben lang begleiteten; in allem nicht einer Formerkenntnis dienend, wozu die Plastik besonders verlockt und in der unser deutscher Meister Hildebrand formkräftigend wirkt, sondern der Zwiefachheit von Raum und Seele, Ich und Welt nachtastend. So verstehen wir den treibenden Kern von Rodins Werk aus den Gedanken seines Schöpfers; das Werk selber aber verhüllt seinen Kern und fließt darüber hin, wie die körperliche Empfindung und Allbegeistung in Licht und Luft in seiner Kunst und in dieser letzten Kunstperiode überhaupt die Seele verdunkelnd in sich schloß, so daß sie nur noch dem sinnlichen Ausdruck letzte Kräfte leihen konnte, so wie die „Danaide“ mit dem ausfließenden Gefäß kaum aus dem Stein erhaben darüber hingesunken ist. Mit dieser Schöpfung zusammen waren es, wenigstens noch vor einigen Jahren, verhältnismäßig wenige Werke, die man von Rodin in der modernen Skulpturensammlung des Luxembourgmuseums in Paris sehen konnte. Wie dieses in sinnlich-geistiger Empfindung von anderen Werken Rodins zwar vielfach und gerade in noch mehr rätselvollen, wie vulkanisch aus der Phantasie entstandenen Gebilden übertroffene Werk die gotische Zwiespaltempfindung von Seele und Welt ausscheidet, ist es trotzdem typisch für den geistigen Charakter von Rodins Kunst. Die überpersönliche, aus der Geschichte geschöpfte, der erlösten Menschheit im ganzen mitgeteilte Kraft, diesen Zwiespalt zu überwinden, die gerade die Größe der gotischen Kunst und besonders in ihren mächtigsten Schöpfungen, den Kathedralen, ausmacht, ist seinen Formen nirgends eigen. Das, was Schlegel gesucht hätte, was man suchen muß, um das Heidnische vom christlichen Formempfinden zu scheiden und die Scheidung der Zeit in dem Unterschied von klassischer und gotischer Kunst zu verstehen, das Mitschaffen nicht nur des persönlich beseelten Zeitgeistes, sondern des christlichen Erlöserwesens mit und im künstlerischen Willen findet sich hier nicht. Die Werke entziehen sich der geistiggeschichtlichen Ordnung und fallen in den Gegensatz einer bloß geist-natürlichen Ordnung zurück. Da ja in wirklicher Kunst nichts Zufall ist, symbolisieren sie diese Tatsache, diesen Rückgang zur Natur selber, da sie, wie technisch oft noch kaum und nur teilweise aus dem Stoff befreit, so ideell sinkend, liegend, kauernd, aufgebäumt dahin zurückweichen, sich dagegen stemmen wie die „Schatten“ am Höllentor, daraus hervorwogen.

Ein Frühwerk nach dem Rodins Lebensarbeit beginnenden „Mann mit der zerbrochenen Nase“ ist die an Michelangelos Sklaven gemahnende Gestalt des „ehernen Zeitalters“, eine Schöpfung mit dem Pathos eines geistigen Spiels, das seiner Beschäftigung mit dem Geheimnis des leibgeistigen Seelenausdrucks Namen und Empfindung monumentaler Urzeitformen lieh und so, wie das überhaupt gern im naturalistischm Gedankenwesen geschah, seinen eigenen Schöpfungssbeginn analog einem Weltschöpfungsbeginn empfinden wollte. Dieses gedankliche Spiel im Rückblick verfällt aber einem tragischen Schicksal im Vorblick, indem der Geist, der sich so der unerlösten Stofflichkeit anglich, seine eigene Zukunft mit dem Stoff beschwerte und seine Seele unerlöst in einem neuen ehernen Zeitalter zu verlieren drohte. So zeigt sich gleich aufs stärkste ein der geschichtlichen, in einer geistigen Tradition und erlösten Seelenfolge befindlichen Gotik widersprechendes Element. Ein weiteres bedeutendes Frühwerk Rodins, der mächtig ausschreitende und mit halb säender, halb winkender Gebärde wie ein Menschenfischer die Gedanken zu sich herholende „Johannes der Täufer", der im Musée Luxembourg nach den klassizistisch eitlen Gestaltungen und Haltungen der künstlerischen Vorgänger und Zeitgenossen das Auge wie für eine starke Tat, die sich vollenden will, gefangen nimmt, ist dem gewohnten Augenschein mehr gotikverwandt, und zwar in geistigerer Empfindung, als wie in modernen Skulptursammlungen Werke mit bestimmten, dem wirklichen Dasein entnommenen und seelischen Motiven, z. B. in der Art Meuniers als volksbeseelt aus dem klassizistischen Wesen heraustreten und gotisch angeregt scheinen. Die Eindringlichkeit des Vorläufers, der in die Zeit wirken will, zu deren Veranschaulichung Rodin die Darstellung des mächtigen Ausschreitens in dieser Anfangszeit lebhaft beschäftigte, hat ein Werk gezeitigt, das als eines der wenigen volksgeistigen Schöpfungen des so volkseifrigen und mit Rodins eigenem Lande voran so nationalstolzen Zeitalters gelten muß. Das ist die Darstellung der „Bürger von Calais“. Das Motiv ist aus der Chronik entnommen, die berichtet, wie sich sechs Bürger der Stadt dem feindlichen englischen König Eduard III. als Opfer auf Gnade und Ungnade überlieferten, daß er die Stadt nicht aushungere. Barfuß, im Hemd, mit einem Strick um den Hals, einer die Torschlüssel in Händen, machen sie sich auf den Gang, schon mehr im Geiste als noch leiblich Abschied nehmend und dem Schicksal in freiem Entschluß gebeugt. Die in Art alter gotischer Werke freie und figurenvolle Szene ist voll erhabener Züge. Was die alte Gotik ihr voraus hat, ist die Einheit eines Willens, aus dem die Form dienender und sicherer lebt, während sie sich hier im einzelnen zerteilt, bis zur Untätigkeit des bloßen Pathos auskostet. Das Geheimnis des Maßes der gotischen Kunst, die die Tiefe des Ausdrucks nur als Zeugnis und Zeugschaft einer über der natürlichen Seele waltenden Kraft zuläßt, darum auch immer mehr das Geschehen in Schmerzen als den Zustand der Empfindung betont — man denke an Grünewald —, dieses Geheimnis lebt nicht als verborgene stärkste Gewalt in Rodins schmerztragenden Gestalten. Darum muß er ihnen zur Dauer des Eindrucks mehr Resignation verleihen.

Worin die Gotik stark ist, die Seele durch Naturtreue zu erobern, diesen Weg hat auch Rodin eingeschlagen, und darum ist auch seine Porträtkunst ein Zeugnis des Geistes seiner Zeit in den Köpfen ihrer Menschen. Wohin seine Neigung aber ging, daß sie von der Erfassung des persönlich und zeitlich gewordenen Charakters lieber zum Gedanken als zur wirkenden Menschheit ging, daß sie die Belebung und Befreiung des Geistes aus der Stofflichkeit gerade durch stoffliche Reizung und Beschwerung liebte, das zeigt die gestaltende Idee seines mächtigen Balzac-Kopfes, das zeigt aber auch sein Werk „Der Gedanke“, jener aus dem Steinklotz wie ein Griff und Begriff herausgeformte Kopf, an dem man Rodins Grenze, und sei es französische, sei es überhaupt klassizistische Neigung zu einem begrifflichen Element erkennt, ein Element, das er in der eindrucksstarken sitzenden Freiluftstatue des „Denkers“ steigernd überwindet, aber eben auch nur durch ein schweres, fließendes Pathos, das er immer wieder bereichert, zu gestalten sucht. So in dem Viktor-Hugo-Denkmal, wo er mit viel innerlicherer künstlerischer Fähigkeit waltet, als Max Klinger ähnliche Aufgaben angeht, aber doch auch ohne jene wahre Monumentalität, die der alten Gotik eigen war, der das Prinzip der geistigen Bewegung im natürlichen Raum nicht oberstes war, die diesem vielmehr in innerer Selbstbehauptung durch einen geschichtlichen Fortgang sich entgegensetzte. Es ist etwas Haltloses darin, wie es Rodin aus Geistigkeit immer wieder zur sphinxartigen Erde treibt, wie er in der Beseelungsidee des Stoffes seine sonderbarsten und eigenartigsten, so elementarsinnlichen wie gedankenverstrickten Werke schafft, wie er die Seele fliehen läßt, um ihr stofflich vermummt, aber auch beschwert nachzufolgen Rodin ist hier auch Franzose, der das Sinnbeschwerte mit Geist löst, aber das Seelische nicht mehr wirklich erfaßt.

Rodins vom Naturgeist der letzten, uns vorangehenden Zeit erfüllte Kunst hat einen deutschen Sinndeuter gefunden in dem feinsinnigen Dichter Rainer Maria Rilke.[2] In der stillen, zum Religiösen als zu einem seelisch unverwindlichen Erbteil geneigten Gehaltenheit seiner Dichtungen ist er von Rodins Geistesart insofern getrennt, als er sich dem Gott- und Weltgeiste dienender naht und so selber mehr vom alten Wesenszug gotischer Natur in sich erweckt; darin aber ist er Rodin ähnlich, daß er nun die religiösen Erfahrungen nicht als formschaffende Verpflichtungen übernimmt, mit denen er sein eigenes Werk verstärken und selbst verhärten müßte. Er gleicht sich seinem verehrten Meister an und wird dadurch zu seinem wortbewegten Interpreten, daß auch er beim Nachgenuß der Werke, wie Rodin bei der Betrachtung der Kathedralen, auf die Natur und ihre Sinnenfältigkeit zurückweicht, so die seelischen Erfahrungen nicht zu Erkenntnissen verdichtend, sondern als Möglichkeiten genießend, deren der Geist mehr untergeben als mächtig ist. Man liest die schwingende Bewegung seiner Worte, wie das Auge über die sinnlichen Auflösungen der Rodinschen Gebilde hingeht. Diese Art von Kunstbetrachtung gehört zur feinsten der Gegenwart, aber ihr eignet nicht das harte Streben nach Erkenntnis, nicht der Blick nach einem Ziele, das klar ist, selbst wenn Weg und Windung der Worte dazwischen noch nicht von Rätseln frei sind.

Rodins Auge, das ihm seine blühenden Worte über die alte Gotik vermittelt, ist stärker im künstlerischen Ziele, sein Werkwille umfassender und in der Spanne von Geist und Natur herrischer, man möchte sagen gläubiger, je weiter er vom Glaubenskern entfernt ist. Er hat die anfängliche Heftigkeit des „Täufers“ verlassen und dem Geist im Selbstgenusse am Stoffe zugunsten ungehemmterer künstlerischer Selbsterfahrung und Erkämpfung der Naturnähe Freiheit gegeben. Diesem Verlassen der sittlichen Idee liegt das Geheimnis zugrunde, daß das Sittliche als eine Halbheit in der Kunst nicht fruchtbar werden kann, wenn es nicht selber durch eine — und das ist die — Religionsfomn gebunden und in dieser Bindung erst im künstlerischen Sinne frei wird, das ist, wenn das Sittliche nur gewollt, nicht gewirkt, nicht im Plane der Zeitlichkeit und Geschichte erfahren ist, wenn es erst Nötigung, noch nicht erlebter Glaube ist. Rodin fühlte und wußte das und sah es an den Kathedralen. „Der Glaube hat uns Barbaren zivilisiert, durch unseren Unglauben find wir wieder Barbaren geworden.“ Der Geist, der mit der Natur ringt, spürt und weiß überall die Kraft, die dem naturgeistigen Menschenwesen überlegen ist, aber Spur und Wissen ist noch nicht Besitz. Die alte Gotik indessen lebte ganz aus dieser Kraft, sie war mächtig, das Religiöse nicht als bloße Idee, sondern als wirkliches Geschehensein in ihre eigene zeitliche Gegenwart einzukleiden. Wie sie die Menschheit aus Gott, so erfuhr sie auch die Seele nicht aus der Natur, sondern die Natur aus der Seele. Aber, wie Rodin sagt: „Schwierig ist nicht etwa, mit naiver Jugendunschuld denken. Schwierig ist, traditionsgemäß denken, mit erworbener Kraft, mit Resultaten, die im Denken aufgespeichert sind, denken. Ja, der menschliche Geist kann nicht viel weiter als bis zu diesem Zustand gelangen: daß der Gedanke des Individuums sich still und geduldig an das Denken vergangener Generationen anreihe.“

Und doch dachte er selber wieder, daß die Kunst des Mittelalters aus der Natur hervorgehe, und dachte damit, wie er auch schuf, nur in der Umkehrung der idealistischen Kunstidee, der die Form aus der allmächtigen Geistigkeit entstand und das Ding an sich nicht begreiflich war. Ihm war die Allempfänglichkeit der Dinge bekannt; aber auch der neue Geist, den sie ihn erfahren ließen, war noch nicht zum Dienen bereit. Rodin beschloß ein Jahrhundert, in dem Geist und Natur gedanklich in der Wage schwankten, die Natur aber das irdische Übergewicht bekam. Darin wird Rodins Gefühl sich bewahrheiten, daß der Ansatz der neuen Gotik mehr aus der Natur als aus dem Geiste entsteht, aber die Erkenntnis muß sie zur religiösen Erfüllung treiben. Sie darf nicht naturhaft zerfließen, sie muß sich menschlich begrenzen. Sie darf sich aber auch nicht durch eine Idee ersetzen, sie muß die Geschichte derMenschwerdung wiederholen.

„Ich bin wie der Hauch in einer Trompete, die den Klang anschwellen läßt... Die Rasse kehrt zu ihrem Ursprung zurück! Wie fühle ich in mir das Glück dieser Künstler von ehedem und ihre fruchtbare Naivität! Gefühlvolle Herzen, die in der Kunst keinen Luxus, sondern den eigentlichen Sinn ihres Lebens gefunden haben.“ Mit diesem Testament starb Rodin.

 

Anmerkungen

[1] Auguste Rodin, Die Kathedralen Frankreichs. Mit Handzeichnungen Rodins auf 32 Tafeln. Leipzig 1917

[2]Auguste Rodin. Von Rainer Maria Rilke. Leipzig 1913.