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Konrad Weiß: Zum geschichtlichen Gethsemane

Unsere zeitgenössische Kunst

Wir sind im geistigen Leben gewöhnt, an die großen alten Werke und Gestalten anzuknüpfen, die der folgenden Menschheit vorbildlich waren. Wollen wir aber in Zeit und Welt hineinwirken, so müssen wir uns an unsere Gegenwart und unsere nächsten Menschen halten. Wächst aus der Geschichte die Erkenntnis, so muß aus der Gegenwart die Kraft wachsen, die Wahrheit fruchtbar zu machen.

In München veranstaltete die jüngste Künstlergruppe, die neue Münchener Sezession, soeben eine Frühjahrsausstellung,[1] deren durchschnittlicher Wert, um das vorwegzunehmen, dadurch gedrückt war, daß man jungen, aufstrebenden Gästen Gelegenheit bot, an die Öffentlichkeit zu kommen. Der schnellfertige Besucher fand, daß die Mehrzahl der Werke auf den synthetischen oder expressionistischen oder kubistischen oder gar futuristischen Stil eingestellt war, Grund genug, um unterschiedslos im Namen der echten Kunst zu protestieren. Bei besserer Betrachtung hätte er entdecken müssen, daß, wenn nicht in Wert, so doch in Ausdrucksweise sehr verschiedene, selbst entgegengesetzte Bildformen zugelassen waren, also kein bloßes künstlerisches Modeschema von bloßen Nachahmern gezeigt werden sollte, was immerhin für die Veranstalter der Ausstellung gut sprach. Im übrigen war die neue Art der Malerei und Plastik schon vor einigen Jahren und seitdem wiederholt in München, wo sie auch teilweise und aus international gemischten Kreisen entstanden ist, zu sehen, und hatte den üblichen Entrüstungssturm schon fast überstanden, der schon seit mehreren Künstlergenerationen den Anfang einer neuen Kunstweise jedesmal heftiger begleitet, seitdem eben die Kunst ihre Trennung aus der früheren gesellschaftlichen Bindung zur Freiheit in der Natur oder zu einer freien (gerne art pour art genannten) Formwahl jedesmal wieder schneller und heftiger vollzog. Damals, als die Kunst ihre Trennung aus der höchsten, ideell-geschichtlichen, wir könnten sagen katholischen Gebundenheit und den Herabstieg in die engere, niedrigere gesellschaftliche Bindung vollzog, bekämpfte und bekriegte man sich noch um eben diesen Wechsel der Ideen selber, und die Kunst blieb ungeschlagen, die der gesellschaftlichen Verkümmerung nach- und nahekam, oder sie im Spiegel der klassischen Schönheit wieder ergänzt und vervollkommnet zeigte. Dann und heute, als der weitere Abstieg zur bloßen Natur und selbstbestimmenden Individualität erfolgte, die Kunst, die aus der Geistesart der Zeit heraus echt war, also in Natur aufging oder nur eigenwertige (immanente) Formen suchte, die falsche Kunst aber der Gesellschaft schmeichelte und dadurch eben die starke Zersetzung des öffentlichen Kunstsinnes hervorbrachte, damals begann das heftige Zerwürfnis mit der jeweils fortschrittlichen Kunst; denn die Gesellschaft, die sich selbst behaupten will, sieht sich lieber in einem Scheinidealismus geschmeichelt, als daß sie die Folgen des immer weiteren Abstiegs, die sie doch selber in sich trägt, im Bilde erkennen mag. Wahrheit brächte aber nur das letztere Verhalten; denn die unerbittlich fortschrittliche Kunst ist ein treuer Spiegel. Die neue Kunst wird aber meist nicht Anlaß zur Wahrheit, sondern durch Dauer und durch den Gegensatz zu einer noch neueren Kunst zur Gewohnheit. Daß es nun bei der gegenwärtigen Ausstellung der neuen Kunst doch neuerdings zu Lärm, Beschimpfung und neuer öffentlicher Befehdung gekommen ist, das liegt an zwei Gründen: die Ausstellung fand diesmal Unterkunft in den Räumen des Kunstvereins, wo, was in solchen Vereinen bei nicht fortgesetzter Auffrischung unvermeidlich ist, das Publikum zu Konventionen und Selbsttäuschungen verführt wird; sodann: die Ausstellung fiel in die Kriegszeit.

Wir bleiben uns bewußt, daß in einer kleinen Ausstellung, die stark den Charakter der Zufälligkeit hat, nicht die ganze zeitgenössische Kunst zu finden ist, die wir haben, geschweige denn, die wir wünschen. Wir finden eine Anzahl beachtenswerter Werke, wir finden wenige gute, und wir finden kaum eines, das unsere ganze Zeitlichkeit in einer höhern Wahrheit ausgespannt enthielte. Noch mehr: wir fühlen, daß diese neue Kunst noch so weit von dem Ausdruck unseres geschichtlichen Daseins als eines in die Vorsehung gefügten — ein Glaube, der uns die Kampfbestimmung ausgleicht und der Endzweck jeder Kunst ist —, entfernt bleibt, wie der erste Baustein von einer vollendeten Kirche. Und doch sehen wir in der neuen Kunst die Bausteine zu einem neuen künstlerischen Weltbau und schätzen um des einen willen, der etwa den Abstand ahnt und der die neue monumentale Form, die im Ganzen abnimmt und im Einzelnen zunehmen muß,[2] errichten will, die letztwillige Zersetzung unserer gegenwärtigen Kunstformen. Es braucht viel Mittelgut, bis ein Kunstwerk geschaffen, wenn schon dieses dann seinem Geiste nach gar nicht auf der Grundlage des Mittelmäßigen steht. Und es ist kein Wunder, daß bei einer Kunstform, die absichtlich auf bloß natürliche und gesellschaftliche Vorbilder verzichten will, das Unzulängliche mit dem Willen zum Besseren zunimmt. Die erregten Leute, die heute eine zerbrochene Bildform weniger ruhig ertragen als eine weggeworfene Religionsform, verweisen wir bei der Frage nach unserer zeitgenössischen Kunst auf diese neuen Kunstformen. Was in den Jahrzehnten vor dem Kriege als Ausdruck unseres Daseins galt, geht eilends hinter uns. Die Form für das, was uns bevorsteht, muß noch geschaffen werden. Unser höheres zeitliches Gefüge ist noch viel weniger errichtet als unser neues nationales. In diesem Sinne haben wir keine zeitgenössische Kunst.

Durch den schweren deutschen Krieg ist das deutsche Kulturgewissen lebhaft beunruhigt worden. Es ist ein allgemeiner Wille zu geistiger Gediegenheit aufgewacht, und ein sozialer und religiöser Burgfriede oder Waffenstillstand will der inneren Erstarkung dienen. Und doch, auch die geistige und gesellschaftliche Welt braucht wieder ihre Kämpfe und kann nicht einfach die Früchte des soldatischen Kampfes in Empfang nehmen. Es ist wohl zu früh, der inneren Regsamkeit mehr geistigen Gehalt zuzumuten; aber das Gefühl macht sich auf, daß, während die

öffentlichen Gewalten bei ihrem Teil des Werkes so gut ihrer Verantwortung gerecht werden und das Volk entlasten, der kulturbesorgte Teil des Volkes die Verantwortung für die neue deutsche Aufgabe noch nicht auf sich lasten fühlt, die auf ihn wartet. Was zunächst auf die Besserung unserer geistigen Verhältnisse bedacht ist, erscheint immer noch zu sehr als ein unfruchtbares Reuegefühl, in dem man rückwärts blickt, statt vorwärts. Man spürt die Mängel der heutigen Vergesellschaftung, nicht zuletzt, weil Deutschland sie in der profitlichsten und unidealsten Form im heutigen Engländertum mitbekämpfen muß; man sieht, wohin das leere Parteiwesen und die Verdemokratisierung in Frankreich geführt hat. Und man möchte es ändern, indem man sich auf seine deutsche Wiesensart zurückzieht, die ja gewiß eine Sonderart ist. Nicht wie der einzelne, der die Unruhe zum Unbedingten in sich hat, wird die Gesellschaft von sich aus immer den leichteren Ausweg wählen. Der öffentliche Verstand kommt dem Reuegefühl mit Scheingründen zu Hilfe; das Gebiet der Kunst, das der Religion wie dem natürlichen Daseinsgefühl am nächsten liegt, ist noch offen; man schaut in die letzten Jahrzehnte zurück und findet deutsche Kunst, bürgerlich, bauernhaft, romantisch, idyllisch, selbst klassisch, wenn auch nur im anempfundenen Scheine, und nennt Namen wie Leibl, Thoma, Böcklin, auch Trübner, oder, indem man seine engste geschichtliche Vergangenheit einbezieht, Menzel, oder, mit Bezug auf die ungeklärte Sehnsucht des Deutschen, der aus seiner Heimat entwurzelt ist, Feuerbach und Marées. Würde man Uhde nennen, so käme man dem Zwiespalt unserer Zeit schon zu nahe. Und nun hat man für das Besserungsgefühl den Gegenstand gefunden und verlangt nationale Kunst, Die neue Kunst aber, die man beschuldigt, aus Frankreich eingeführt zu sein, wird als unnational und international verurteilt. Dieser Besserungswille geht auf Kosten anderer Leute.

Ist es nicht ein sonderbarer Widerspruch unseres Kulturwillens, daß wir uns in dem Augenblick, wo wir das deutsche Wesen in der Welt durchsetzen wollen, geistig zu verengern und auf eine ideell beschränkte deutsche Art, die jetzt schon vergangen ist, zu versteifen trachten. Man darf wohl sagen, daß eine Rasse — bei der deutschen ist es wenigstens so — am Anfang ihrer Geschichte geistig und formal am umfassendsten ist oder, daß ihre Geschichte um so beschränkter bleibt, je weniger sie an ihrem Anfang in sich aufnehmen und verarbeiten konnte. Keine Rasse hat beim Beginn ihrer Weltberufenheit so lebendig wie die deutsche die ganze Welt in sich aufgenommen. So muß denn auch die deutsche Wesensart nicht in der Mitte und vor allem nicht am Ende eines engeren, bloß nationalen Lebens, sondern in ihrer größten und weltweitesten Zeit erkannt und gemessen werden. Kunst, und zumal deutsche Kunst, wächst nicht durch Verkleinerung der Kräfte und des Wirkungskreises — man hat das Beispiel im Gegensinn an Hodler und den Schweizern, die den Gehalt für ihre formale Wichtigkeit nicht aufbringen —, sondern durch größte geschichtliche Weite und stofflichen Andrang wird sie erst innerlich stark und wirksam. Sind uns nicht durch diesen Krieg die Grenzen unseres mittelalterlichen Kaisertums wieder gezeigt worden? Wollen wir Kleindeutsche bleiben, wo die Geschichte uns zu Großdeutschen machen will? Ja, sollen uns nicht durch diesen Krieg die lange verschlossenen Pforten zum Orient geöffnet werden, so daß für uns der unmittelbare Verkehr mit dem Morgenlande der Menschheit beginnen kann, dieser Verkehr, der einst das Schicksal der ganzen Welt bestimmt hat? Künstlerisch ist die Verbindung mit dem Orient schon seit längerer Zeit angeknüpft, aber das geschah mit dem Osten des Orients, wo die gesellschaftliche Form der Kunst stärker ist als das weltanschauliche Denken, und es geschah durch das Sammelwesen der Engländer und das Geschmackswesen der Franzosen, nicht durch unsere eigene lebendige geschichtliche Beziehung, nicht durch einen gemeinsamen Kulturgedanken. Jetzt ist der Wendepunkt für die deutsche Geschichte und die Zeit gekommen, wo der deutsche Geist mit einer neuen Weltverantwortung wachsen muß. Wir sind noch nicht Zeitgenossen dieser neuen Weltverhältnisse und ihrer geistigen Formen.

Warum setzen wir nun unsere Hoffnung auf die neue Kunst unserer Tage, die geistig und gesellschaftlich durchschnittlich oft so unbedeutend aussieht? Nicht deshalb, weil die Erfahrung immer wieder lehrt, daß trotz alles Sträubens der fortschrittlichsten Kunstform die nächste Zukunft gehört; es braucht ihr deshalb die übernächste noch nicht zu gehören. Auch muß es jedermann willkommen sein, daß durch den Krieg die heutige ernste Lebensbesinnung leere künstlerische Spielereien und formale Narrheiten wie auch ungezügelte Triebformen an Geltung verloren haben. Schon mehr deshalb, weil wir auf eine Fortsetzung der engeren deutschen Kunst der uns vorausgegangenen paar Generationen keine Hoffnung haben. Es wird zwar immer wieder sonderliche, in der Beschränkung meisterliche deutsche Künstler geben; denn das liegt nebenbei auch im deutschen Wesen, in dem der grundechte Sinn oft gerade durch enge Verhältnisse wächst. Aber die Zeit der nationalen Ruhe, in der solche in ihrem Stand und Lebenskreis gefestigte Künstler mehr mit Liebhaberei als unter dem Druck und der Spannung geschichtlicher Verschiebungen ihre Werke schaffen konnten, geht ebenso zu Ende wie der engere nationale Gedanke. Dieser, der das letzte Jahrhundert beherrscht hat, muß nun, durch größere Weltaufgaben aus sich herausgezogen, auch wieder einer höheren Weltanschauung sich einordnen. Die Zeit und selbst die Existenz eines Volkes läßt sich nicht mehr mit humanistischen Ideen und sozialen Gefühlen erfüllen, sie fordern eine höhere, ausgreifendere, geschichtlichere Wirkungsweise; sie werden später Tradition fordern.

Die neue Kunst nun hat nichts mehr in sich von den humanistischen und sozialen Ideen, die den Menschen immer wieder auf eine enge, eitle oder zänkische Vergesellschaftung hinleiten. Sie hat sich auch von der Naturmalerei freigemacht. Man braucht nur über die letzten fünfzig Jahre hinzuschauen, um zu erkennen, wie der Weg zu dieser Lossage verlaufen ist. Die Kunst hatte schon lange Mühe, ihren gesellschaftlichen Szenen einen höheren Schein zu geben, und suchte diesen durch Anempfindung früherer religiöser Formen oder durch Darstellung geschichtlicher Ereignisse zu gewinnen. Diesen steten Bemühungen war nie ein rechter Erfolg beschieden, weil die Weite dieser Kunst nur von der Gesellschaft zur Idee ging, die Grundlage der Natur, auf der erst die ganze Übernatur in Form gebracht werden kann, aber immer noch fehlte. Zwar wird auch die Natur nicht erkannt in ihrem Verhältnis zur menschlichen und menschheitlichen Seele ohne den Willen zur Übernatur. Das konnte man sehen, als die Naturmalerei die trockene Gesellschaftsmalerei ablöste. Es gelang nur eine Naturübersetzung, die ohne höheren Sinn der Natur keine höhere Bedeutung in der Abstraktion geben kann und dadurch schließlich zum Handwerk wird. Aber in ihr liegt doch der letzte Schlüssel für den Künstler, der die Wahrheit nicht nur empfinden, anempfinden, sondern verarbeiten muß. In einer angesehenen katholischen Zeitschrift war unlängst der Satz zu lesen, daß „eine Landschaft oder ein Stilleben weder mit Glauben noch mit Moral etwas zu tun“ habe; in einer radikalen Zeitung dagegen war vor kurzem das Auseinanderfallen der stofflichen und künstlerischen Formen aus der Glaubenslosigkeit erklärt. Gerade dem katholischen Volksteil nimmt es seine Mitwirkung am künstlerischen Leben und Schaffen der Gegenwart, daß man zwar im kultürlichen Denken die Idee durchaus hochhält, ihre gesellschaftliche Auswirkung aber nur verbessernd, nicht mittätig ergänzend betrachtet. Und dieses ohnmächtige Denken im künstlerischen und kultürlichen Leben kommt im Grunde daher, daß man zwischen Natur und Übernatur nicht die innigste und immer wieder fortschrittlichste Verbindung unterhält.

Die Kunst ist immer der fortschrittlichste Ausdruck des zeitlichen Weltverhältnisses. Wo der natürliche Fortschritt nicht zur geschichtlichen Fügung und schließlich zur übernatürlichen Ordnung erweitert wird, geht er immer abwärts. Der Weg bis zur modernsten Kunst ging immer abwärts. Aber jedes Kunstwerk hat den Keim zu höherer Erkenntnis, Wahrheit und Ordnung positiv und tausendfach in sich. Noch mehr das Kunstwerk, das schon das gesellschaftliche Scheinleben hinter sich hat und nun aus der Naturüberwindung innere Gesetze der Form erkennen und ableiten will. Es bringt sich in die nächste Beziehung zu einer höheren Ordnung. Auf drei Stufen steigt der Künstler empor: Aus seiner Natur hat er die Freude und Trauer und das Formvermögen an der Erscheinung der Dinge, aus seiner Geburt hat er den Sinn für Volksverbundenheit und für die Dauer des Charakters; von hier aus in die Geschichte und in den Glauben zu wachsen, ist die höchste Aufgabe. Die erste Stufe verleiht die Stärke, die letzte die Höhe der künstlerischen Form. Auf der mittleren steht die öffentliche Bedeutung und Wirksamkeit in der Zeit. Sie muß stets wieder neu geschaffen werden. Die neue Kunst nun kommt aus der Stärke der Natur; sie befindet sich in der Spannung zwischen Natur und Übernatur (diese wird bei dem glaubenslosen Weg, den die heutige Kunst hergekommen ist, ersatzweise Synthese oder Abstrakttion und ä. genannt). Sie äußert sich in Ausdrücken des Instinktes, der Innennatur oder in Versuchen einer gesetzhaften Bildung der Außenwelt. Die Bildformen suchen organische oder gesetzmäßige Gültigkeit, das Organische der Gegenwart und der primitiven Kunst und das Gesetzmäßige der ältesten, hieratisch bestimmten Gesellschaftsformen. Die Stärke ist vorhanden; die höhere Gültigkeit und die geschichtliche Wirksamkeit fehlen. Das ist ungeheuer viel. Aber da wir nicht an ein Zwangsentwicklungsgesetz in geistigen Dingen glauben und da wir aus der Geschichte sehen, daß beim allgemeinen Verfall immer mehr der einzelne Mensch der Wahrheit und ihrer künstlerischen Form gewachsen sein muß, so hoffen wir, daß der Weg über die drei Stufen wenn auch nicht von heute auf morgen, so doch schon in einem Menschenleben zurückgelegt werden kann, und daß wir aus wenigen Bausteinen den Bau einer zeitgenössischen Kunst erwarten dürfen. Nicht nationale oder internationale Kunst kann letzten Endes die Lösung heißen, sondern deutsches Wesen in seiner weltberufenen Form. Das deutsche Wesen kann nur dann wahrhaft erhalten werden, wenn es sich stets neu mit Hilfe aller Weltform aus seinem innersten Kern bildet. Ist aber das deutsche Wesen zu neuer Größe berufen, so muß die Kunst selbst gegen ihren Willen die Formen hergeben, die die geheimen Gesetze der Geschichte brauchen, um sich in der Fortsetzung ihrer höheren Tradition zu offenbaren. —

Was die Ausstellung selber betrifft, so kann man kaum mehr mit Recht von Nachahmung französischen Kunstwesens reden. Es war einmal richtig, daß Frankreich mit den neuen Formen voranging, da es auch mit der Zersetzung der Gesellschaft und des gesellschaftlichen Bildideals früher beim Werke war. Aber einmal hat Frankreich selber sich schon teilweise dem positiven Aufbau zugewandt, allerdings nicht im ganzen Umfang der Kräfte (weshalb auch die dortige jungkatholische Bewegung eine mehr ästhetische und vereinzelte blieb); sodann ist die neue deutsche Kunst von der französischen eben durch das deutsche Wesen getrennt, das sich früher seiner Pflicht zur Einordnung in die Geschichte erinnert. Daß der neue übernationale Geist nicht ohne internationale Formen ist, das ist eben so richtig, wie daß der vorausgehende soziale Geist internationale Neigungen hatte. Wenn sich Leute einer vornehmen älteren Geschmackskultur oft von modernen Werken abgestoßen fühlen, so kann man das verstehen, auch wenn nicht geradezu abstoßende und in höherem Sinne sinnlose und formlose Werke vorhanden wären. Man muß sich aber bewußt bleiben, daß diese ältere Geschmackskultur, der etwa die gar nicht fortschrittlichen Bilder Jagerspachers zusagen, im Grunde unfruchtbar ist und in unserer Zeit keinen Platz mehr hat. In der Ausstellung findet sich nur ein Werk, das den Stufengang von der ausgelösten Natur über die zeitlich-deutsche Empfindung in die höhere Idee, wodurch es ein religiöses Werk wird, schon in sich trägt, es ist das große Bild „Moses’ Siegesgebet“ von Karl Caspar; Moses betet auf dem Berge mit ausgebreiteten Armen, die von zwei Männern gestützt werden, während im Hintergrunde im Tale die Schlacht tobt. Fragen wir uns später wieder, ob in dieser Zeit ein größeres Werk gemalt worden ist. Andere Bilder zeigen in dem unteren Kreise der Natur das neue Belebungsgefühl, das bei einer florentiner Landschaft von Maria Caspar-Filser wie ein Stück neue Epik erscheint, das Wort aber nicht in erzählendem Sinne, sondern in dem einer undurchbrochenen Lebenseinheit genommen; dann in einer natürlichen Einfachheit bei Unold und mit einer noch anfertigen klassischen Neigung, die an Blechen denken läßt, bei Teutsch. Auch Schinnerer gelingt, wenn auch ungelockert, das natürliche Dasein zu erzählen, während sich seine enger deutsche Art, Innerliches zu veranschaulichien, besser in seinen Radierungen ausspricht. Verunglückt und trotz der vielfältigen Arbeit ohne geistige Notwendigkeit sind die Bestrebungen von Melzer. Die religiösen Bilder von Eberz sind nur in der Absicht, nicht aber in der inneren Form tief und entbehren darum eines gültigeren Lebensgefühls. Die psychologisch seltsamen Bilder von Oskar Coester sind in ihrem Ausdruck echt, dieser selber aber hat keine Verbindlichkeit. Viele dieser Bilder sind hoffnungsreicher, obgleich sie erst am unteren Ende einer neuen zeitgenössischen Kunst stehen, als andere, die das neue Wesen des die engen Grenzen sprengenden Geistes verzerrt und planlos enthalten. Denn um den Plan zu erfüllen, muß zuerst die nächstliegende Arbeit getan sein.

 

Anmerkungen

[1] Frühjahr 1915

[2] Diese Abnahme, beschleunigt inzwischen durch den Niederbruch der konservativen gesellschaftlichen Kräfte, muß nun um so eher in der deutschen Einzelseele sich schicksalvoll auffangen und verdichten.