Konrad Weiß: Tagebücher
Kriegsbuch 1 (30. Juli bis 30. September 1914)
Kriegsbuch 2 (1. Oktober 1914 bis 5. Mai 1915)
Kriegsbuch 3 (6. Mai bis 29. November 1915)
Kriegsbuch 4 (1. Dezember 1915 bis 16. Juli 1916)
Kriegsbuch 5 (16. Juli bis 15. September 1916)
Kriegsbuch 6 (17. September bis 13. Oktober 1916)
Kriegsbuch 7 (15. Oktober bis 26. Dezember 1916)
Kriegsbuch 8 (27. Dezember 1916 bis 4. April 1917)
Kriegsbuch 9 (5. April bis 19. Mai 1917)
Kriegsbuch 10 (21. Mai bis 9. August 1917)
Kriegsbuch 11 (11. August 1917 bis 6. Dezember 1917)
Kriegsbuch 12 (7. Dezember bis 21. Dezember 1917)
Kriegsbuch 13 (1. April bis 16. Mai 1918)
Kriegsbuch 14 (17. Mai bis 30. Juli 1918)
Kriegsbuch 15 (1. Dezember 1918 bis 2. Februar 1919)
Register
© Copyright Wilfried Käding 2017-2018
Aus den Handschriften transskribiert und zum ersten Mal überhaupt herausgegeben von Wilfried Käding
Ins Netz gestellt: Kriegsbücher 1-10 am 2. März 2018, Kriegsbücher 11-15 am 7. Juni 2018
Unter den im Nachlaß von Konrad Weiß befindlichen Tagebüchern bilden die sogenannten Kriegsbücher, 15 Kladden von unterschiedlichem Umfang, die zusammen knapp 1000 Seiten ergeben, den größten zusammenhängenden Block. Diese Tagebücher umfassen den Zeitraum vom 30. Juli 1914 bis zum 2. Februar 1919.
Aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg gibt es als zusammenhängendes Tagebuch nur Aufzeichnungen aus dem Winter 1903/1904. Aus ihnen zitiert Friedhelm Kemp im Marbacher Magazin 15, das 1980 zum 100. Geburtstag von Konrad Weiß erschien, ausführlich die Passagen, in denen Konrad Weiß seinen Entschluß notiert und begründet, nicht Kleriker werden zu wollen. Ansonsten liegen aus den Jahren 1909-1918 viele Notizen und Tagebuchblätter, Studienbücher, Reiseaufzeichnungen vor, ein sog. Ordensbuch, aber keine zusammmenhängenden Tagebuchaufzeichnungen. Aus der Zeit nach dem Krieg sind nur wenige Tagebücher überliefert, von denen ein Teil aus Anlaß von Reisen geführt wurde.
Abgesehen von den erwähnten Tagebuchauszügen im Marbacher Magazin und wenigen Zitaten in der spärlichen Sekundärliteratur, die fast alle auf den Auszügen basieren, die Ludo Verbeeck in seiner Monographie über Konrad Weiß anführt, werden hier Tagebücher von Konrad Weiß zum erstenmal überhaupt veröffentlicht. Zusammen mit der digitalen Ausgabe fast aller jemals in Buchform erschienenen Werke von Konrad Weiß, ebenfalls von mir auf dieser Internetseite herausgegeben, bieten die Kriegsbücher dem interessierten Leser die Möglichkeit, tiefer in die höchst ungewöhnliche Gedankenwelt einzudringen, die dem veröffentlichten Werk zugrundeliegt.
Die Kriegstagebücher setzen ein mit dem Tag der Mobilmachung. Anfangs werden darin Kriegsereignisse häufig notiert und kommentiert, später immer seltener. Hauptthemen sind vielmehr Reflexionen über seine sehr spezielle Theorie der (Heils-)geschichte, Kunstbetrachtungen als wesentlicher Teil davon, Notizen zu Spaziergängen im Umland von München mit ausführlichen Naturbeschreibungen, die manchmal unmittelbar in ein Gedicht münden, oft auch übergehen in geschichtsphilosophische oder theologische Spekulationen; weniger häufig, aber regelmäßig Klagen über die ungeliebte, als subaltern empfundene Arbeit beim Hochland, über seine Einsamkeit und Unverstandenheit; zunehmend im Lauf der Kriegsbücher äußert sich Konrad Weiß über das Gefühl, berufen zu sein, was zugleich als Bürde und als Gnade empfunden wird. Der Kriegsausbruch hat für Konrad Weiß also vor allem eine Intensivierung der Beschäftigung mit dem eigenen Denken, der immer klarer werdenden eigenen Berufung (oder zumindest dem Berufenheitsgefühl) und den eigentlichen Anfang des (lyrischen) Werkes bedeutet. Mit solcher Konsequenz und Regelmäßigkeit hat Konrad Weiß weder vorher noch nachher Tagebuch geführt. Ab Ende 1916 nehmen Klagen und Unmutsäußerungen über seinen Arbeitgeber Carl Muth und Berichte über Auseinandersetzungen mit ihm immer breiteren Raum ein.
Die Kriegsbücher bilden den gedanklichen und begrifflichen Mutterboden der Gedichte und Schriften jener Jahre, das Substrat, aus dem sie sich entwickeln. Sie sind die Werkstatt, in der Konrad Weiß sich damit abmüht, seine Weltsicht, seinen Glauben, sein Fühlen und Denken unvollkommen und bruchstückhaft in Worte zu fassen, die stets nur eine Annäherung an das Gemeinte sind; in einer Sprache, deren Begriffe uneindeutig sind, immer wieder wechseln, teilweise eigens erfunden werden, einem Denken verhaftet, dessen theologische und philosophische Grundlagen und Herkünfte zu kennen vermutlich nur unwesentlich die Verständlichkeit von Weiß' Ausführungen erhöhen würde. Gedanken, die von Tag zu Tage teils eilig und flüchtig hingeworfen, teils gründlicher ausgeführt werden, deshalb aber noch lange nicht besser verständlich sind. An der Sprache der Kriegsbücher fällt sofort auf, daß Konrad Weiß seine Sätze so niederschreibt, wie sie ihm in den Sinn kommen, unbekümmert um syntaktische oder grammatikalische Regeln. Es sind sozusagen unreflektierte Reflexionen, unmittelbarer Niederschlag dessen, was ihm gerade durch den Kopf geht.
Thema ist das, was ihn jeweils bewegt und beschäftigt; dabei kristallisieren sich aber schnell einige immer wiederkehrende Hauptthemen heraus: das Ringen um seinen Glauben, seine qualvollen Bemühungen, den Weg vom vergrübelten Betrachter zum Leben und zu den Menschen zu finden, die zentrale Rolle, die die Kunst sowohl bei der Verwirklichung des göttlichen Heilsplans als auch bei seiner Hinwendung zum Menschen und zum Leben spielt. Die Themen wiederholen sich, das Vokabular erweitert sich nach und nach. Die Kriegsbücher bieten, sozusagen, einen Einblick in Konrad Weiß' eigenartige Gedankenwelt im Entstehen. Man ahnt, worum Konrad Weiß' Gedanken kreisen, manchmal wähnt man sich dem Verständnis sozusagen zum Greifen nahe, als ob der Groschen jetzt jeden Moment fallen müßte – aber dann entzieht sich der Gedankengang doch dem letzten Verstehen (falls es so etwas gibt). Da Konrad Weiß mehr in Bildern und Analogien als logisch denkt, kann man sich nur mühsam an ein rudimentäres Verständnis herantasten und bleibt doch unsicher, ob man richtig liegt. Trotzdem lassen sich Grundvorstellungen des Weißschen Denkens herauskristallisieren.
Als über fast fünf Jahre fortlaufend durchgehaltene Denkanstrengung haben die Kriegsbücher eine besondere Bedeutung auch für das Verständnis von Konrad Weiß' Lyrik jener Jahre: sie spiegeln und begleiten die Entwicklung von Konrad Weiß zum Dichter. Geschehnisse und Erlebnisse des Weltkriegs können genauso in einzelne Gedichte eingehen wie persönlichstes Erleben, ja sogar miteinander verquickt werden. So bezieht sich z. B. das Gedicht Kalvaria auf den Tod dreier Menschen: des Papstes gleich zu Beginn des Krieges, des Bruders Bernhard auf dem Schlachtfeld 1915 und kurz darauf den des Vaters aufgrund von Krankheit.
Oft kann die Entstehung eines Gedichtes aus einem Gedankengang oder einer Naturschilderung heraus oder aufgrund eines Erlebnisses unmittelbar mitverfolgt werden; eine Reihe Gedichte oder Gedichtanfänge fließen ihm beim Verfassen eines Tagebucheintrags sozusagen aus der Feder. Diese Kenntnis des Hintergrunds, vor dem Gedichte entstanden sind, erleichtert dann vielfach auch die Deutung.
Das Werden des Dichters Konrad Weiß spielt sich ab vor dem Hintergrund seiner Suche nach Sinn, oder besser gesagt: erwächst daraus – nach dem Sinn der Geschichte und des eigenen Lebens. "Dichtung ist das Suchen nach dem »Worte« eines eigenen Lebens." heißt es in der Schrift Über das Wesen der Dichtung.
Konrad Weiß sieht sein Dichtertum nicht als etwas, das er erstrebt, sondern als etwas, das ihm widerfährt, ihm auferlegt wird, gegen das er sich wehrt. Er fühlt sich als Berufener, der sich schwer tut, seine Berufung anzunehmen, der sich dagegen auflehnt; als "faulen Knecht", der sein Pfund vergräbt, statt es zu vermehren, als von Gottes Gnade überhäufter, der das Gewicht dieser Gnade nicht aushält. "Ich bin gewaltig berufen" schreibt er am 21. Januar 1917 in sein Tagebuch, aber immer wieder liest man auch Ermahnungen an sich selbst, sich aus der Rolle des "faulen Knechts" hinauszukämpfen, die eigene Trägheit zu überwinden. Andere Personifikationen dieses "Archetyps" eines Menschen, der versucht, sich der Aufgabe zu entziehen, die ihm von Gott auferlegt wird, sind Willegis und Jonas, die in den Kriegsbüchern immer wieder genannt werden.
Die persönliche Begnadung und Berufung stellt Konrad Weiß in den Zusammenhang eines göttlichen Heilsplans, von dessen Existenz er gerade wegen und trotz des schrecklichen Weltgeschehens und des schweren eigenen Lebens überzeugt ist. So sieht er zumindest anfangs den Weltkrieg als den Beginn der "Kämpfe der Liebe" an (Tagebucheintrag vom 7. November 1914) und ist überzeugt davon, daß sie das dritte, das johanneische Reich der Liebe einleiten. Aus diesem Bemühen, dem historischen Geschehen im großen und dem eigenen persönlichen Erleben und Erleiden im kleinen um jeden Preis einen heilsgeschichtlichen Sinn zuzuschreiben, entstehen die gedanklichen Verrenkungen, an denen die Kriegsbücher nicht arm sind, sie erklären das Abseitige, Verquaste, Verschrobene vieler Ausführungen. Doch auch als skeptischer, agnostischer, vom naturwissenschaftlichen Denken geprägter Leser (wie es der Herausgeber ist) kann man unmöglich den tödlichen Ernst verkennen, die tiefe Not und Qual, die unbedingte Aufrichtigkeit, mit der hier jemand wortwörtlich um sein Leben kämpft, um sein Zum-Leben-Kommen („die Not des Sagens“ in Weile am Weg in Tantum dic verbo). Hier ist nichts von Dichtereitelkeit, vielmehr ist das Denken und Fühlen von Konrad Weiß von tiefer Demut geprägt.
In seinen heilsgeschichtlichen Spekulationen objektiviert Konrad Weiß sein Suchen nach einem Sinn seines Leidens, seine Sehnsucht nach Erlösung, verlegt sie nach außen. Das (reichlich widerwillige) Streben aus der Anschauung (des weltfremden Bücherwurms) in die Erfahrung, vom Lesen zum Leben, wird als Teil der notwendigen heilsgeschichtlichen Entwicklung hin zum Reich der Liebe gesehen und dadurch nicht nur mit Sinn erfüllt, sondern als (heilsgeschichtlich) notwendig aufgefasst. Sie ist also (auch) Sinngebung des eigenen Leidens.
Die Zeit, in der die Kriegsbücher geschrieben wurden, ist auch die Zeit, in der Konrad Weiß sich von einer klassizistisch geprägten Kunstauffassung, wie sie die Beuroner Schule vertrat, löst und zum „Geschichtlichen Gethsemane“ findet, zu seiner Auffassung der Kunst als Tat, in Weißschen Termini ausgedrückt: als „innerster Ausdruck des leidenden Einzelmenschen in seiner Zeit“; die Zeit, in der er die Wendung vom Bild zum Wort vollzieht, vom Ordensgedanken zum tätigen Leben, von der Anschauung zur Erfahrung, zum Handeln, die Zeit, in der er seine Passion vollzieht. Die Kriegsbücher spiegeln die Kämpfe wider, die Konrad Weiß auf dem Weg vom anschauenden, kontemplativen Betrachter zum teilnehmenden, erfahrenden, leidenden Subjekt mit sich selbst ausficht, auf dem Weg zum Leben also, zu seiner Menschwerdung. Auf diesem Weg sind seine Gedichte wichtige Etappen, denn sie sind ihm Handlungen, Niederschlag von Erfahrungen. „Ich höre auf zu denken und schreibe, was ich erfahren habe“ lautet ein Tagebucheintrag vom 6. Mai 1917. Zugleich ist es auch die Zeit, in der er, der sich bisher nur kunsttheoretisch, Kunst betrachtend und Kunst beurteilend betätigt hat, selber vom Kunstkritiker zum Künstler, zum Dichter wird und, in den Jahren bis 1919, die Mehrzahl seiner Gedichte schreibt. Und es ist auch die Zeit, in die seine Verlobung (am 10. August 1915) und Verehelichung (am 11. Juni 1917) mit Marie Reichl fällt. Welche Rolle auf seinem Weg zur Menschwerdung seine Frau Marie gespielt hat, wäre eine spannende Frage, lässt sich aber aus den Tagebüchern nicht beantworten.
Februar 2018
Wilfried Käding