Vorbemerkung zur digitalen Werkausgabe von Konrad Weiß
Meine Beschäftigung mit Konrad Weiß begann am 23. Mai 1985, als ich beim Stöbern in der Bibliothek auf die von Friedhelm Kemp 1948 herausgegebene zweibändige Gesamtausgabe der Gedichte stieß. Ich schlug den ersten Band auf, las das erste Gedicht von Tantum dic verbo, das Nachtlied, und war sofort in den Bann dieser unvergleichlichen Poesie gezogen. Ein beträchtlicher Teil meiner Tagebuchaufzeichnungen der folgenden Monate betrifft die Dichtung von Konrad Weiß.
Seitdem habe ich mich, mit Unterbrechungen, wieder und wieder mit dem Werk von Konrad Weiß beschäftigt und 2012 aus dem Wunsch heraus, wenigstens einige seiner Werke öffentlich zugänglich zu machen, angefangen, seine Bücher nach und nach zu digitalisieren und auf meiner Internetseite zu veröffentlichen. Mittlerweise umfasst die digitale Werkausgabe fast alle jemals in Buchform erschienenen Werke von Konrad Weiß. Im Buchhandel sind seine Werke seit langem vergriffen und nur noch antiquarisch zu erhalten, als Neuware sind, soweit ich sehe, lediglich die Anthologien „Das unstillbare Herz“ und „Eines Morgens Schnee“ erhältlich.
Diese digitale Werkausgabe hat jetzt, nachdem ich Anfang 2016 begonnen hatte, die bisher unveröffentlichten 15 Kriegstagebücher von Konrad Weiß zu entziffern, die jetzt hier vorliegen, sowie nach der Herausgabe der Briefe an Veit Roßkopf 2021, ihren vorläufigen Abschluß gefunden.
Allerdings bleibt noch vieles zu tun. Dazu zählen eine aktuelle und umfassende Bibliografie, ein Kommentar zum Werk von Konrad Weiß, ein detaillierter Lebensabriß, der über das hinausgeht, was Friedhelm Kemp im Marbacher Magazin 15/1980 zum hundertsten Geburtstag von Konrad Weiß zusammengetragen hat, eine Sammlung der noch existierenden Dokumente zu Leben und Werk, eine Ausgabe der verstreut erschienenen Zeitungsartikel sowie nicht zuletzt Deutungen zu einzelnen Werken.
Ein weiteres Desiderat wäre eine Gesamtausgabe der Schriften von Konrad Weiß in Buchform. Nachdem ich bei der Lektüre der Konrad Weiß betreffenden Teile des Nachlasses von Friedhelm Kemp einen Eindruck gewonnen habe, mit welchen Schwierigkeiten allein die Herausgabe der wenigen Einzelpublikationen von Konrad Weiß verbunden war, die nach der Gesamtausgabe der Gedichte von 1961 erschienen, wage ich dergleichen kaum zu hoffen.
Bestärkt fühle ich mich in meinem Bemühen durch die Tatsache, daß Konrad Weiß immer Leser gehabt hat, darunter nicht wenige illustre Namen. Die literaturwissenschaftliche Fachwelt allerdings hat Konrad Weiß bisher weitgehend ignoriert.
Daß Konrad Weiß so wenig präsent ist, liegt vielleicht zum Teil an den immensen Schwierigkeiten, die sich dem Verständnis entgegenstellen, zum Teil aber auch daran, daß seine Sprache tief beeinflusst ist von der Sprache der Bibel und seine Vorstellungswelt getränkt von christlich-katholischen Bildern und Inhalten, diese aber dazu benutzt werden, in einer einzigartigen Mischung von Anschaulichem und Abstraktem, dabei mit stupender dichterischer Meisterschaft, sein sehr persönliches Erleben und Erleiden in sprachliche Formen zu bringen. Die Unvollkommenheit dieser Sprache, das bruchstückhafte, abrupte, trümmerhafte (dies ein von Weiß selbst häufig benutztes Wort) sind dabei kein Zeichen von künstlerischem Unvermögen, sondern Ausdruck der Weißschen Sprachskepsis, in seinen eigenen Worten des Glaubens, „daß das Wort, durch das alles gesagt werden könne, selber nicht zu sagen möglich sei, und dem Menschen nichts übrig bliebe, als durch Dinge und Bilder zu sprechen“. Friedhelm Kemp (in seinem Nachwort zu der Suhrkamp-Ausgabe von Die Löwin) sprach sicher zu Recht von der Geburt einer Sprache.
In dieser verstörend ungewöhnlichen Sprache und Bildwelt aber geht es um Themen, die jeden fühlenden Menschen bewegen: den Konflikt zwischen Geist und Sinnlichkeit, das Nicht-zum-Leben-kommen, das Leiden am Leben, die Sehnsucht nach Erlösung, die Suche nach Sinn. Dies aber nicht nur mit den Mitteln des Intellekts, sondern als geistige „Schau“, mittels Intuition, Einfühlen, Spüren, Sich-Ergreifen-Lassen.
Wenn ich mich manchmal frage, warum ich trotz der immer wieder gemachten frustrierenden Erfahrung, daß ich nicht verstehe, was ich da lese (und in diesem Punkt der Kritik von Weiß' Arbeitgeber Carl Muth nur zustimmen kann), manchmal noch nicht einmal ahne, wovon die Rede ist, warum ich also trotzdem immer und immer wieder Konrad Weiß lese und von ihm fasziniert bin und das sichere Gefühl habe, daß es sich lohnt, das zu lesen – dann fällt mir meist folgende Stelle aus Hamanns Sokratischen Denkwürdigkeiten ein: „Sokrates war, meine Herren, kein gemeiner Kunstrichter. Er unterschied in den Schriften des Heraklitus dasjenige, was er nicht verstand, von dem, was er darin verstand, und that eine sehr billige und bescheidene Vermuthung von dem Verständlichen auf das Unverständliche.“ (Abschnitt An die Zween; die Sätze basieren auf einer Anekdote bei Diogenes Laertios). Meine Erfahrung ist, daß man sich dem Verständnis immer weiter nähern kann, daß jede Lektüre neue Einsichten bringt, und daß sich die Mühe selbst da lohnt, wo man nicht zustimmen kann.
Als Vorlage für die hier veröffentlichten Digitalisate der Bücher von Konrad Weiß habe ich in der Regel die Ausgabe letzter Hand eingescannt und mittels Texterkennung daraus Textdateien erzeugt. Beim Korrektur lesen habe ich den Text mit anderen mir zur Verfügung stehenden Ausgaben verglichen, falls vorhanden. Da aber besonders bei Büchern in Frakturschrift keine Texterkennungs-Software fehlerfreie Ergebnisse liefert, und Korrektur lesen ein sehr mühsames Geschäft ist, kann ich nicht garantieren, daß nicht doch hier und da ein Schreibfehler stehengeblieben ist. Jedenfalls habe ich beim Wiederlesen, wenn auch wenige, immer mal wieder den einen oder anderen entdeckt und natürlich korrigiert. Falls Ihnen als Leser Stellen auffallen, an denen der Text fehlerhaft ist oder sein könnte, bin ich für einen Hinweis dankbar.
Wilfried Käding