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Konrad Weiß: Das gegenwärtige Problem der Gotik


DAS GEGENWÄRTIGE PROBLEM DER GOTIK

 

von

Konrad Weiß

 

Mit Nachgedanken über das bürgerliche Kunstproblem

 

 

 

 

Erstausgabe: Dr. Benno Filser Verlag, Augsburg 1927

Digitalisierung: April 2015

Herausgeber des Digitalisats: Wilfried Käding

 

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Mit dieser unveränderten Wiedergabe eines Vortrags vom Sommer 1922, die in der folgenden kleinen Schrift geboten ist, will zu nichts weiterem gereicht werden, als um in der grundsätzlichen Besinnung über das Wesentliche des gotischen Geistes, der unsere Generation zu beschäftigen begonnen, jedoch dessen Erkenntnis sich eher wieder zerstreut als verdichtet hat, inständig zu bleiben. Zwar ist, so weit auch das im augenblicklichen Verflusse Gesagte von der wirklichen und eigentlich bestimmenden Situationskraft der Gotik entfernt sein mag und so viel mehr mit größerer Müheanwendung an Sinn und Stoff Näheres gesagt werden könnte, doch der eigentliche Sinn des Gotischen, wenn man der zeiteigenen, vom entschlossenen Unterscheidungstriebe zur engeren Formerfahrung gehenden und von deren Erweiterung oder Verinnerung immer wieder auf sich selbst zurückgewiesenen Sinnführung vertrauen und daraus folgern darf, — dieser Sinn also insofern vielleicht unsagbar, als der gotische Mensch den Plan der Form, in dem er dienend stand oder stehen will, eben durch dieses knospenhaft hinausgeschobene Accidens der Zeit- und Einzelnähe erfüllt. Das heißt: aus der im sinnhaften Unterscheidungswillen herausgestellten, von ihm bedingten und erhaltenen Formbegründung und Formwerdung wird erst immer auch wieder und nun noch weiter rückwirkend der neu unterschiedene Sinngrund erhalten; und das Mittelbarste ist also letztlich das Unmittelbarste, das am meisten Geschaffene und vom Sinn zur seligen Bedeckung alles Sinnes Ausgeborene das Schöpfungsnächste. Das ist gedanklich wie geschichtsorganisch ganz ohne Einhalte das Gleichnis von dem sich ausbreitenden Baume, dessen Zweige und Früchte wir erkennen und worin wir auch unsere zeitliche Gestaltung haben, ohne das Wachstum anders als durch die zeitlichen Endigungen in unserem Besitz zu finden.

Das ist dann auch dieses mit dem zeitlichen Lebenspunkte verbundene „Trotzdem“, das gegen alle bloß logische Begreifung der Geschichte wie ebenso der Kunst und Ästhetik gerichtet bleibt. Im gleichen Gedanken ersieht sich auch das geistige Zeitbild der Romantik mit einer verräterischen Sinnfälligkeit ihres geistesgeschichtlich ins Bürgerliche greifenden Zwiespaltes, wenn nämlich neben die Ahnungen, Entschlüsse, praktischen und mystischen Geschichts- und Glaubensprogramme eines Novalis, Friedrich Schlegel, Görres der rein logische Fruktifizierungsversuch gebracht wurde, den Hegel unternahm, womit eben das Mark der Geschichte als ein selbstereignetes Bewußtsein in Besitz genommen werden sollte, womit dann aber die große Aktion der zeitlich-christlichen Individualisierungskraft in die scheinhaft geläuterte, nun aber auch noch der idealistisch konzentrierend wirkenden, humanistischen Grenzformung beraubte, Masse der Geistes- oder Körperwelt zurückschlagen konnte, ein Bewußtseinsversuch, der heute vielfach erst recht als ein von aller innergeschichtlich formhaften Wechselwirkung unerfaßtes und dafür bloß ethisch umkleidetes Gemeinschaftsideal weiter versucht wird. Für eine große Länge unserer letzten Vergangenheit ist der praktisch benutzte, aber eigentlichst zur gegenseitigen Störung verurteilte Verbund einer logischen und einer ethischen Richtung charakteristisch, die beide uns am Marke des Baumes zu beteiligen glauben, die beide aber, unter keiner dritten oder kreaturierenden Bestimmung stehend und von ihr ins Accidens geordnet, weder der Kunst noch unserer wirklichen Lage etwas Tieferes als eine äußere Ordnung Regulierendes zu tun geben. Beide Richtungen sind übrigens das Schicksal des in ihnen zur Unaktivität herabgeglittenen bürgerlichen Wesens geworden.

Die Gotik hat die ewigen Ausmaße in der eigenen Zeitspannung durch ein ausschließendes Geschehen hergestellt. Es ist ihr Geheimnis, vom Augenblicke ins Ewige zu wirken, vom Augenblick, der im Nichtverweilen die verweilende Prägung bekommt als die Zeugnisse des Jenzeitlichen, das damit seine Zeitpunkte berührt hat. Der innere Plan der christlichen Weltordnung erfährt seine Förderung bis zu einer solchen, das örtliche ein- und ausschließenden Verschränkung um so mehr, je mehr die Erfüllung der bildhaften Sehnsucht bis in die scheinbar äußeren Zutaten hinausgelangt, zu denen schließlich mit der Natur der Mensch selber gehört, welcher mit aller Kreatur auf einem rein in der Spannung behaltenen abgeschnittenen Grunde ruht. Eine geometrische Ausgrenzung gibt die Spannungen an, innerhalb welcher die kreaturierten Felder des Zeitlichen zu den Accidentien geworden sind, die der Spannung entsprechen. In der Größe und Struktur des Accidens handelt die Bestimmung mit, die sich durch die Geschaffenheit von Menschen und Dingen auswirkt, welche obgleich schaffend und geschaffen sich selber zum endgesetzten Ziele bekommen, ohne es zu sein. Das Zentrale ist dabei weggehoben, durchschnitten, verschränkt und in bloße Beziehung versetzt. Es gibt da einen Gegensatz von einer Geometrie als geschichtlicher Erscheinungshaftigkeit und von den dareingesetzten Feldern des Zeitlebens.

Die Gotik erscheint so je natürlich offener desto sinnhaft verhüllter. Je enthüllter umgekehrt der wirkliche Naturgrund oder Endstand in die reine geschichtliche Begebung und Entwicklung oder Aufgeschlossenheit, in ihre Ausspannungen, Grenzen, Silhouetten, in die frühe Plananlage gegenüber der späteren Gotik sich eingezogen gibt, desto mehr scheint die Naturhaftigkeit aufgehoben, verdeckt, in prozedierende Stufen gesetzt, die eine geheime Wechselwirkung zwischen Geschichte und Natur und dabei einen Vorgang der ersteren vor letzterer kundmachen. Es vollzieht sich innerhalb von Grenzen, welche als Figuren von Geschlossenheit und Offenheit den Zeitgang einfassen, eine Durchkreuzung und Ausscheidung, ein Geschehen für und gegen die Zustände und Körper des Menschlichen und Dinglichen, worin diese eingeholt und ausgeboren werden. Unserem Verhältnis zur Gotik ist die Romantik als ein geschichtlicher Wiedereinblick zuvorgekommen und auch in unsere gegenwärtige gotische Besinnung hat sich die romantische mit eingeschoben. Was nun der Romantik enthüllter war, die geschwisterliche Reinheit der Geschichte, die bis zum Restaurationssinne nachzuüben versucht wurde, ist heute verhüllter, und was sich etwa uns enthüllt hat, die geschwisterliche Materie der Erde, der gebrochen noch glänzender nachharrende Spiegel der immer jüngeren Naturkraft, der noch nicht Edelstein, Gold und Reinheit in jenem damals ereigneten Sinne ist, aber in einem anderen vielleicht mehr, alles das, was der romantischen, phantasiegestärkten Idealität etwa zu irdisch gewesen wäre, ist nun heute vielleicht das nähere Feld des Zeitlebens, dessen Einspannungen sich nur an der Kraft der Gegenwirkung, der angenommenen Ausgeschlossenheit und dem also notwendigen inneren Aufbruch erkennen lassen. Dabei scheint uns die Spätgotik näher zu stehen, aber nur so, wie das Bürgerliche in die Problematik seiner Rechtfertigung kam, während unsere eigentliche Nötigung in der schweren Zubildung zu liegen scheint, die das romanische Kunstgefühl beherrschte, bis es von der Gotik in die freien Maße der Auszweigung getragen wurde.

Es liest vielleicht einer eben Adalbert Stifters „Nachsommer“, das Buch mit den Vogelstimmen und dem in allem gespiegelten Scheine, das Buch der Kontemplation im Tätigen, das von der Bewunderung einer antiken Statue gleichmäßig zur Erörterung des mittelalterlichen Bildsinnes überführen kann und die beschauende Lebensform bis zum nachschaffenden Wiederherstellungswillen unter eine zuständliche Ordnung bringen will. Dieses Buch steht ungefähr zwischen der Romantik und unserer Gegenwart in der Mitte. Es zeigt — sohin ohne eine unruhige Aktivität der Kontemplation, die von der Erde des einen Adam herkommt —, die Bewegungen des Lebens unter geschwisterlichen Verhältnissen. Das ganze Dasein will eine gleichmäßige Spiegelung sein. Es nimmt damit die Form einer gegenwärtigen Erinnerung an, in deren Dienst auch der wiederherstellende Sinn seinen jungfräulichen Reiz bekommt, und Stifter selber steht gleichsam in seiner Art mit verhüllten Händen der Darbietung und Verehrung auf der Grenzscheide von zwei Zeiten. Alles spiegelt ihm auch im Natürlichen das reine Licht, ohne so sehr erst im gebrochenen Widerwalten Zeugnis zu geben von dem Lichte. Das ist bei ihm ein Nachschein der Geschichte, der unverlierbar auf dem seelischen Lande geblieben ist, und aber auch ein Vorschein, der neuerlich aus den Dingen, aus den Materialien und Masern des Geschaffenen brechend bedeutet, daß dies alles nicht in Ruhe und in einer fast musealen Geborgenheit harren kann, sondern unruhig wird, bis es gebrochen, übertragen, aus dem behüteten Lande geholt und in ein neues Bild als umgeschaffener Schmuck gesetzt ist. Auf diese Weise fällt auch das gerüstete Konservative in weitere sinnhafte Beschwerung und aus dem ruhenden Zustande entgliedert wird es immer wieder zu einem neuen preisgegebenen Erhalte geführt.

Was wir von dem Formsinn unserer Zeit, wie er vor dem Kriege sich aufgemacht hat, vielleicht als Deutendstes aussagen können, das ist eine neu erkannte und versuchte Ermangelungskraft. Darin meldete sich die sinnhafte Beschwerung und ihre Abständigkeit. Die Frage nach dem Sinn der Formen ist selber schon die Frage nach einer Ermangelung, die sich als ein innigeres Minus und einbereitetes Ohnmachtsgefühl von dem unverschränkten Plus des Objektiven unseres letzten Zeitalters abzieht. Unseren Zustand betrachtend verstehen wir diesen Ausdruck, ja dieses Verlangen nach der bildlosen Unbefriedigung des Zeugniswillens als einen neuen Sinnvorgang innerhalb von Bild und Wort, von Gestalt und Kreatur, der, in neue Erstarrung oder in eine leerere Objektivierung, als die verlassene war, gefallen, doch das neu Geahnte und Angefaßte nun zu einem um so trümmerhafteren und drohenderen Zustande erhoben hat.

„Wo aber Gefahr ist, wächst
das Rettende auch.“

— Als Schlußteil wurde der Versuch einer Formulierung von „Nachgedanken über das bürgerliche Kunstproblem“ angefügt, der in einem angefangenen Wechsel von Sinn und Tatsachen auch die Gegenwart besprechen will. Auch von ihm muß gelten, daß die Gedanken, die uns übergriffen haben, zunächst uns selber mehr leiten sollen als wir sie. Darin offenbart sich Reinheit des Gedanklichen, daß es keinen nahen Zweck hat, sondern zwischen Vorsinn und Nachsinn als ein Strahl reiner Mittelung aus dem Zustande waltet. Und überhaupt kann dann der Gedanke, je weiter er sich aus einem Bilde offen macht, um so weniger zu einem Absichtsziele führen, sondern nur um so mehr das Accidens in der eigenen Gegenwart bestellen. Es hat denn auch jede These, die mit Forderung rechnet, etwas Abschneidendes, das dem eigenen Bilde nicht zuträgt, die These aber, die auf Bilderfüllung geht, ein überfließendes Nachgeschick.

 

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Unser Thema: das Problem der Gotik, soll uns hier durchaus als eine Betrachtung von der Gegenwart her beschäftigen. Vom historischen Standpunkt aus kann eingewandt werden, daß das Wort Gotik rund und fertig ein bestimmtes und einmal gewesenes künstlerisches Zeitalter bezeichne; aber der historische Begriff Gotik ist etwas, das bis jetzt noch nicht viel besser als zuletzt immer wieder nur aus einer Summe von stilistischen Einzelmerkmalen konstituiert wird, und wir dürfen daher, ähnlich wie die heute lebendig gewordene künstlerische Bewegung, das Recht in Anspruch nehmen, unser Prinzip von unserem heutigen Empfinden künstlerischer und weltanschaulicher Differenzen herzuleiten, in denen wir überhaupt die Fuß- und Angriffspunkte finden, die uns eine Zeit gibt, in die wir hineingeboren sind und an deren Konkretion in Anschauungen und Formen wir uns beteiligen. Wir erkennen letzten Endes in einem zeitlich tätigen Sinne das Problem der Gotik immer nur als ein gegenwärtiges. Zudem ist der historische Komplex Gotik gerade innerhalb der katholischen Religion, deren wesentlichsten deutsch-christlichen Kunstausdruck in seinen weitesten Grenzen er einmal verkörpert hat, durch die konservative Behaltung und Tradition eines bloßen Stilbegriffs — man muß das aussprechen — am unfruchtbarsten geworden. Ein Grund mehr, das Problem der Gotik, obgleich es ein ureigentümlich katholisch deutsches ist, zu betrachten, als ob es zunächst kein katholisch Überliefertes und Überlieferbares mehr wäre, so wie auch das lebendige Kunst-Ahnen und -Schaffen der Zeit seinen Fluß an der katholischen Erde ungekannt vorbeiführt. Im Thema der Gotik ist der katholische Kulturkonflikt verborgen.

 

(Der Anlaß zu unserer Betrachtung wurde gegeben durch die Einladung einer katholischen Korporation, der katholischen Studentenverbindung Rheno-Bavaria, und der Vortrag wendet sich so zunächst an Katholiken in ihrem deutschen und gegenwärtigen Verhältnisse.)

 

Das stärkste, über das natürliche Bewußtsein und über die gewohnte geistige Cäsur unseres geschichtlich gewordenen Daseins hinausführende Erlebnis unserer Generation war die Ahnung oder doch unbestimmte Empfindung von dem Anbruch eines neuen Zeitalters. Wir alle wissen, daß diese Ahnung nicht weniger deutlich, als sie uns überkam, auch einen Inhalt und Namen mit sich brachte, dessen Klang ein Echo von Vergangenheit hatte, und daß bald in unserer Gegenwart eine kurze Spanne lang nichts üblicher wurde, als im künstlerischen und kultürlichen Willen von einer gotischen Bewegung zu sprechen. Die Bewegung hat ihre erste Phase schon durchlaufen und wir können die Geschichte dieser Phase in der Anschwellung und Abgleichung der neuen zeitgenössischen Kunst, im sogenannten Expressionismus am nächsten einsehen; allerdings nicht ohne zu dem Zugeständnis gezwungen zu sein, daß dieser Nachweis mit einer verdienten Niedergeschlagenheit geschehen müßte, wenigstens für alle die, denen der Drang und Klang und die gefühlsmäßige Neuheit des alten Wortes Gotik mehr bedeutete und wichtiger geworden war als der gewaltige Kulturinhalt, der sich in an- und absteigenden Jahrhunderten des Mittelalters darin verdichtet und nicht nur europäisch, sondern menschheitlich als die vollständigste Erdwirklichkeit der christlichen Gottgeschichte darin konkretisiert hat, die wir kennen. Der große Nenner Gotik hat im typischen Expressionismus ganz unverhältnismäßig wenig Bruchteile eines wirklichen und kernkräftigen Weltganzen erreicht. Wir wissen auch, daß die neue Bewegung einsetzte, ohne sich, wenigstens am Anfang, daran erinnern zu wollen, daß vor mehr und weniger als hundert Jahren in der Romantik ebenfalls eine neugotische Bewegung ins Werden gekommen war; erst als schon die ziemlich unfreiwillig asketische und dürftige, formal dekorative, stillebenhafte und auch pazifistisch inspirierte Abgleichung eintrat, kam die Liebhaberei für die nazarenische Linie und einen schönen flüchtigen Geist der Romantik hinzu und lehrt uns erkennen, wie gerne sich das künstlerische Fühlen in Abhängigkeit von schönen, wenn auch nur eingebildeten Analogien begibt, wie sehr wir immerfort von historischen Bezügen gespeist sind, wie schwer es ist, in die Wurzel des eigenen kultürlichen Daseins hinab und wieder daraus heraufzukommen und welche große künstlerische Bewußtheit es braucht, um die Ahnung, die wir empfangen, in Kraft, und die Bestimmung, die uns führt, in einen Willen umzusetzen, der in nichts mehr imitatorisch und bloß sichtbar werkgläubig arbeitet, sondern nur in der Gesinnung oder mehr, im gleichgerichteten vorwärtshandelnden Weltverhältnis auf einer geschichtlich verwandt empfundenen deutschen Weltperiode fußt.

Wenn wir an den Wert der Ahnung und Führung im künstlerischen Dasein appellieren, einen Wert und Sinn, der uns dem romantischen Glauben an eine innere Planung im geschichtlichen Leben nahebringt, so ist es uns auch nicht unwichtig festzustellen, daß das Beste von den Kräften der neuen Kunstbewegung seinen Anstoß und Inhalt, seine neue Form und seine zur Zeitbewußtheit drängenden Ziele schon vor dem Kriege empfangen hat. Gewiß hat der Krieg und der dadurch aufgewühlte Geist an dem in der Kunst sichtbaren Ausdruck unseres Daseins eingreifend genug mitgewirkt; aber es ist bezeichnend, daß durch ein schnellfertiges Kriegserleben in der Kunst ebenso wie in anderen Kulturdingen und gleicherweise wie auf dem politischen Felde vor allem die Konvention und Schablone der Geister befördert und künstlerisch das expressionistische Treiben als eine Mode hochgebracht wurde; Erscheinungen, die den wahren Sinn und Kern des langsameren Geschehens verdorben und verdeckt haben, und die es mit den geistigen und religiösen Nachkriegskrankheiten vor allem in Deutschland nun wieder wegzuschaffen not geworden ist. Auf dem engeren und zur stetigen Tat gezwungenen Gebiete der Kunst stehen wir auch bereits wieder in einer Krise, zählen die Namen der wenigen Kräfte, sehen die bloßen Mitläufer und fragen nach den tieferen Bedingnissen. Auch im harten politischen Dasein sucht wieder ein mehr handelnder Geist die Führung zu gewinnen. Aber im gemeinsamen geistigen Leben sind wir noch durchaus richtungslos und befinden uns in einem Zustand, in dem man eine schöne, pietistische, nach allen Seiten hin möglichst neutrale Geistigkeit geradezu zum Ideal erhoben hat. Der bloße oder vorwiegende Ethizismus, der den deutschen Menschen um seine eigentlichen christlichen und nationalen Formkräfte immer mehr gebracht hat, ist jetzt in einen Synkretismus übergegangen, in dem religiöse und weltanschauliche, selbst reingezüchtet aussehende Liebhabereien aller Art wuchern und eine scheinbar seelische Hochkultur für ein Gewimmel von edlen und unedlen Seelentrieben erzeugt haben. Es ist jedoch nur zu deutlich fühlbar, daß dies alles unwissentlich geschieht oder willentlich in Szene gesetzt ist, um einer wie national so kultürlich und künstlerisch verschärften Bewußtheit aus dem Wege zu kommen. Es muß — so sehen wir — bei dem schnellen Gedeihen des neuen Geistes, das ebenso einem schnellen Verderben nahegeht, an etwas Wesentlichem gefehlt haben, und wir können diese Tatsache kurz vielleicht so begreifen, daß statt einer großen weltanschaulichen Entschlußkraft nur eine neue Art von Konfessionalismus, ein soziales Konfessionalisieren wider individuelle Bestände allen Geist umfaßt und zum bequemen Sprachrohr gemacht hat, das die härteren Forderungen übertäubt.

Wie es nun aber kam, daß schon eine gute Spanne Zeit vor dem Kriege ein neues Gefühl und ein Bedürfnis nach tieferer künstlerischer Wahrheit in einer neuen Generation aufwachte, das ist eine Frage, die man nicht leicht beantwortet. Es ist letztlich die Frage nach dem Grunde aller künstlerischen Bewegung und Gegenbewegung, wohinein auch dieses Ereignis gehört, die Frage, ob die Kunst, wie man oft gesagt hat, Wellenbewegungen durchmache, ob die Kunstentwicklung durch die Wirkung zweier entgegengesetzter ästhetischer Prinzipien, etwa eines tektonischen oder atektonischen Prinzips hindurch sich vollziehe, ob sie nach einer typischen Vollkommenheit im idealistischen und klassizistischen Kosmos zu trachten habe, oder ob sie als Spiegelbild die wirtschaftliche Struktur in einer Reflexion von sozialer Bildlichkeit mechanisch wiedergebe, ob und welchen transzendenten oder immanenten Faktor sie habe. Man ist dann gewöhnt, sich mit dem Glauben an einen immanenten oder transzendenten Faktor zufrieden zu geben, durch den man einen objektiven und geistigen Wert der Kunst festgestellt und erkenntnismäßig gerettet zu haben glaubt. Wir sehen heute, da wir eben eine wenn auch kurze, so doch sehr heftige Spanne einer durchaus subjektiven Kunsttätigkeit durchlebt haben, vielleicht deutlicher als früher und werden es uns aber noch viel deutlicher bewußt werden müssen, daß diese sogenannten objektiven Begriffe von Immanenz und Transzendenz, so wie sie gebraucht werden, nur Begriffe einer klassizistischen Philosophie zu sein pflegen, in denen sich ein gedachter reiner und in erster Bedeutung logischer Geist gegen das Leben gestellt und jene künstliche Liberalisierung und Neutralisierung zustande gebracht hat, unter der unser ganzes kultürliches Dasein leidet und unfähig wird, das zwangvoll geahnte tiefere Verhältnis zu einem inneren Plane der Geschichte, dem wir unterworfen sind und dem die Kunst eine stetige zeugnishafte Verkörperung geben will, mit korrespondierender Besinnung herzustellen.

Wenn wir heute schon so schnell wieder in die Krise gekommen sind und der gegen das wahre menschheitliche Pathos apathische Kulturneutralismus uns noch schlimmer befallen will als vorher, so liegt der Grund darin, daß der handelnde Sinn, der im Künstlertum wirksam ist, zwar schnell und bereitwillig war, aber der reflektierende Sinn, der mit dem Ausgang des Mittelalters sich immer autoritativer die Vorschriften über die Gesetze des Handelns zugelegt hat, unverändert blieb oder noch eher sich aus einer beweglichen Freiheitlichkeit in eine soziale Stagnation verwandelt hat. Die Kunst kann sich nur verwandeln, wenn es ihr gelingt, auch den Sinn des Handelns umzukehren. So aber sind es immer nur einzelne Künstler, die sich kraft ihrer Ursprünglichkeit behaupten, und wenn sie schließlich allgemein anerkannt werden, so ist damit keineswegs gesagt, daß ihr Bestes nun auch in der ästhetischen Doktrin Verständnis gefunden habe. Dieses merkwürdige Paradox der Verschiedenheit zwischen einem lebendigen und handelnden Geist, der mit Naturkraft aus der Kunst sich äußert, und der ästhetischen Reflexion, die der Kunst einen Platz in der gesellschaftlichen Ökonomie des Geistes zuweisen will, ohne der schaffenden Kräfte habhaft zu werden, ist ja immerfort zu beobachten, und man erlebt darin, daß ein immerwährendes Sich-Nahen und Sich-Entfernen von künstlerischen Elementen in zeitlichen Stationen sich vollzieht — man denke an Greco vor und Grünewald während des Krieges — daß das Gesetz des Sinnes von einem Gesetz des Handelns oder vielmehr das Gesetz des denkenden Sinnes von einem Gesetz des handelnden Sinnes durchschnitten wird, das nicht beherrscht werden kann, aber das dem Sinne des Denkens seine Speise gibt. Man sieht die geheimnisvolle Bestimmung, daß die Kreatur des Menschen und der Zeit frei und in einem der doktrinären Selbstbehauptung entzogenen Sinne berührt werden kann, oder einfach, daß es eine Bestimmung gibt, deren eine aus dem bloßen logischen Geiste entwickelte Immanenz und Transzendenz nicht mächtig ist. Diese Bestimmung hat ein stetes Plus, ein Bedürfnis nach Körperhaftigkeit voraus. Manchen Zeiten ist für diese Bestimmung eine besondere Offenheit gegeben. Und die Zeiten haben keine Einigkeit und Gemeinsamkeit in dem Gemeinplatze der Reflexion, oder vielmehr sie haben darin nur einen menschlichen Gemeinplatz; eine göttliche Gemeinsamkeit aber haben die Gezeiten der Geschichte in den Differenzen, die sich in ihnen als eine sichtbare und gebrochene Linie im Ringen um das Plus ihres Zeugnisses und seiner Körperhaftigkeit ergibt. Die Kunstgeschichte ist die Verkörperung dieser Differenzen. Sie bezeichnet den Gang gegen und mit dem göttlichen Widerpart. Die Gotik hat in diesem Gange das stärkste naturhafte Dasein erreicht.

Die hier verborgene Frage des persönlichen und künstlerischen Lebensverhältnisses wird uns an einem heutigen Beispiele mangelhaft, aber um so gegenständlicher deutlich, wenn wir an eine Briefstelle van Goghs erinnern, des holländisch geborenen, den westlichen französischen Geist durchbrechenden Künstlers, der mit ausnehmender Heftigkeit und wie ausgeworfen aus der Gesellschaft in einem Jahrzehnt vor 1890 sein Werk geschaffen hat; es ist die Stelle, wo er eine seiner Landschaften beschreibt und betont, er wolle zeigen, „daß man die Impression des Angstgefühls auch geben kann, ohne gleich geraden Wegs auf das historische Gethsemane loszusteuern“. Das spricht ein Künstler, dessen subjektive seelische Erfahrung vor dem Blick in die Natur bis zu der Ahnung von Gethsemane reichend wach wurde, der aber mit seinem seelischen Kampfe an die Natur und ihre Formantwort allein gebunden bleiben und den geschichtlichen Komplex ausgeschaltet haben wollte, der mit dem Worte Gethsemane die geschichtliche Gebundenheit des abendländischen und christlichen Kulturganzen ausdrückt. Wir wissen auch, daß in der Erörterung der unbestreitbar wichtigen neuen religiösen Kunstbewegung, die wir erlebt haben, die Frage immer eine Rolle heimlich oder ausgesprochen gespielt hat, ob es für die Kraft einer neuen religiösen Kunst notwendig sei, sich der alten geschichtlichen Stoffe zu bedienen, also der gegenständlichen Bildgedanken, an denen das ganze Mittelalter seine Kunst fortentwickelt hat. Wir wissen, daß man diese geschichtliche Substanz abzulehnen pflegte und daß man eine, so verstanden, reinere, aus einer bloßen Gegenwart geschaffene religiöse Kunst in Absicht nahm. Man will also ein Ringen um das Plus einer gottmenschlichen Näherführung nur auf dem naturpersönlichen Gebiet und will die Kette der geschichtspersönlichen Differenzierungen ausschalten. Diese Ausschaltung bedeutet den Verzicht, aus dem natürlichen Bekenntnis in die geschichtliche Bewußtheit einzutreten. Geistig wird hier eine Entschlußkraft ausgeschieden, nämlich jene gotische Entschlossenheit des Sinnes, der in jeder einmaligen Zeitgegenwärtigkeit das ganze christliche Weltwesen mit- und auszutragen entschlossen war. Künstlerisch verständlich ist diese Absicht auf eine unmittelbar erschöpfte religiöse Form aus dem künstlerischen Schaffenstrieb, der seine Wurzel an jedem Punkte einer engsten und wahrsten Berührung mit der Erde zu finden vermögen möchte, begreiflich ist sie vor allem auch gegenüber den christlichen Kunstkonventionen, die sich gegen Zeit und Natur und gegen die bedürfnisvolle Bewegung der Geister abschließen und dafür nichts als eine tote und künstliche Zeitlosigkeit eintauschen. Verständlich und eine regere Notwendigkeit des sich zu seiner wirklichen Blöße bekennenden Geistes ist diese Absicht auch als eine gegen die klassizistischen, edel-natürlichen Schönheitsformeln und unabhängig von ihnen empfundene Wahrheitswilligkeit und Erdennähe des Erlebens; denn wir hören in diesem Worte van Goghs schlechterdings nichts von der humanistischen Empfindung, die sich als den heimlichen Gott ihrer selbstsicheren Einfalt anbetet. Dieser heutige Künstler, wenn er sich dem religiösen Erfahren hingab, wandelte den irdischen Weg der wahren Begegnungen. Er befand sich nicht in einem gehegten ästhetischen Zentrum, wollte nicht allmenschliche Gültigkeiten, sondern rang mit seiner Differenz, schuf sein Stück Natur und suchte dabei Gethsemane und seine Erlösung. Er arbeitet nicht an einer objektiven Einzirkelung und sucht keine Orte neutraler, mit Elegie beschönter Menschlichkeit, sondern geht mit sich selbst an der Natur und auf der Erde hin und gibt in seinem Werke die Punkte der schmerzhaft-freudigen Berührung an. Van Gogh schuf aus der Ohnmacht seines inneren Daseins die Schrift seines Wandels auf einer gebrechlichen blühenden Erde; sie war ein Stück Keramik, ein Stück vom Leibe Adams. Es wurde eine fast eherne Gebrechlichkeit, die zwischen den farbigen Strichen seiner schaffenden Hand zum Aufglänzen kam; eine Schöpfung mit einer ewigen aura aus der Natur der Auflösung. Etwas vom Letzten, was der Mensch tun kann, wurde hier getan. Wir schauen zu Rembrandt und wissen, daß er das gleiche getan hat, er aber im Gefühl nicht bloß der natürlichen, sondern auch noch der geschichtlichen Differenz; van Gogh ist wie ein heutiger Anfang neuer Gotik, Rembrandt war ein Ende der geschichtlichen Gotik, ein verlassener und verlorener Sohn der Menschwerdung, der seinen Glauben fast schon ohne eine Hoffnung fand. Die Schatten fielen in sein Fleisch, und nun war das ein persönliches und einzelhaftes Schicksal geworden, was überhaupt im Anfang der christlichen Kunst der große neue Sinn der Kunst geworden war, daß der Schatten in die Formen und in den Bau der Dinge kam und an ihrer künstlerischen Substanz mitschaffen durfte. Dadurch wird die innere Grenze der Dinge und des Menschen aufgeriegelt. Die Klassik aber schließt den Schatten aus und behauptet sich, indem sie sich in eine äußere Umgrenzung einschließt.

Kurz, aber allerdings nicht einfach ausgedrückt — denn hier geht der persönlich handelnde Sinn in die gotische Bewußtheit über, vor der das Handeln in seine irdischen Maße zerschnitten wird —: ein solcher Künstler schafft keine Kunst des Raumes, sondern des Weges, keine Kunst des Ortes, sondern der Zeit, keine Kunst der unveränderlichen Schöpfung, sondern eine Kunst der Geschaffenheit, zu der er selber gehört. Er will nicht das Objekt, sondern das Zeugnis.

Dieses handelnde Verhalten, das im Tun sich selber richtet, darf nun schon als ein Prinzip aller gotischen Form ausgesprochen werden. Es bringt und wenn auch nur durch die bloße künstlerische Tatkraft einen Glauben mit, den es nicht erst erschaffen will, sondern den es nährend über sich zuvorkommen läßt, über den es auch nicht ethisch reflektierend zu Gericht sitzt, wodurch Religionen und Künste verdorben werden, sondern in dem es sich selber hoffnungsvoll auf seinen eigenen Weg besinnen, verwirklichen und erlösen will. Es glaubt sich einem inneren Plane unterworfen. Das ist das Ringen mit dem Plus einer Jenseitigkeit, die man gegen sich selber stärkt, und die Kraft des gotischen Willens ist so eine Kraft aus der Ohnmacht. Und das ist auch das Paradox des Wortes: Wer hat, dem wird gegeben, daß er noch mehr habe. Ein solcher Glaube war gewiß am Anfang unserer neuen Bewegung wieder lebendig geworden, und es war weniger Sache des künstlerischen Wesens, als Schuld des allgemeinen ungewandelten Geistes, daß wir erst über eine Schwelle getreten sind, ohne den Anbruch eines neuen Zeitalters jetzt klarer zu sehen. Aber die Ahnung und die Gewißheit, daß Abbrüche und Anbrüche uns umgeben, ist unvermindert geblieben.

Der Anfang unseres neuen Kunstwillens war von einem außerordentlichen Schwall von kritischen, theoretischen und kunsthistorischen Betrachtungen begleitet; insbesondere hat auch die Kunstgeschichte ein schnelles prinzipielles Ausnützen der neuen Kunstideale im ästhetischen Organisieren des alten Kunstgutes versucht, wobei der Gotik heute eine fast zentrale Bedeutung zugefallen ist. Es war ein überstürzender Eifer, die geschichtlichen Begriffe umzustellen, und neue einheitliche Leitlinien wurden mit programmatischer Liebhaberei fixiert. Geschichtsphilosophische Klärungen, die von weitem an die Romantik erinnern, wurden in kürzester Zeit angestrebt. Es war ein neues Utopien der Erkenntnis gefunden. Von den Schriften, die hier zu nennen wären, wie als hauptsächlich bekannten Rodins „Kathedralen“, dann Benz, Worringer, Scheffler, Dvorak u. a., müßte man vorwiegend als von Belegen sprechen, die das neue Interesse verschiedenartig bezeichnen, die aber mit mindestens ebensoviel Ablenkung und Trübung des gotischen Gedankens sich einfanden, als sie die Empfindungen begeistert, durch Unbestimmtheit, Einseitigkeit, Kategoriensucht fanatisiert und dabei rationalisiert und die Mode beflügelt haben. Man hat diese literarische Kunstflut gegen den Wert des neuen Kunstwollens ausgespielt, indem dieses von vornherein unrettbar in theoretische Begleitung verstrickt erschien. Die eigentliche geistige Aussprache hat aber noch kaum begonnen. Indes wurden uns, während der neue Glaube in der theoretischen Aussprache sehr schnell erlahmte, im Zusammenhang mit der neuen Besinnung eine Unzahl von Veröffentlichungen über das mittelalterliche Kunstwesen, insbesondere über die alte deutsche Kunst beschert, in denen dieses früher so mißkannte und als Werk eines dunklen Zeitalters verachtete Kunstgut aufgeschlossen und in die Breite gebracht wird, und das bleibt schon eine für unsere Zeit wert- und ehrenvolle Tatsache. — Daß aber überhaupt ein neuer Kunstwille, je mehr auch der Kern der Empfindung umgestaltet werden muß, eine umfassende geistige und theoretische Klärung braucht, die der Zukunft als Aufgabe bleibt, das duldet keinen Zweifel. Schon in der Romantik hatte, wie das fruchtbare Beispiel Friedrich Schlegels zeigt, das Ringen um theoretische Bewußtheit eine außerordentliche Bedeutung bekommen. Und wenn immer wir uns zu dem Satze bekennen, daß in einem Zeitalter nicht nur die Form der Kunst, sondern auch die Form des Denkens eine ähnliche Struktur hat, wenn wir also gleich der Kunstform des Klassizismus auch das Prinzip des idealistischen Denkens ablehnen — natürlich nicht in den Leistungen, wo sie sich differenzieren, sondern in der Tendenz, in der petitio principii und humanistischen Gemeinplätzigkeit, während die Leistungen als solche in den Weg zur Gegenwart als Probleme und Verwicklungen eingestellt bleiben —, wenn wir also einen neuen Weltsinn erfahren wollen, dann wird es an einer neuen Ordnung auch alles Denkens nicht fehlen können. Das romantische Denken ist zu einem Thema der Gegenwart geworden; die gotische Kunsttheorie als eine heutige Angelegenheit ist noch nicht erschlossen. Im ersten Reiz der Neuheit stürmte alles nach diesem neubelebten Punkte des Empfindens. Aber das eigentliche Thema wird immer langsamer und schwieriger zu bewältigen sein; denn es handelt sich schließlich nicht mehr bloß um ein Thema der Gegenwart, in dem wir mitbewegt werden, sondern um eine Willensrichtung; es handelt sich auch nicht mehr bloß um Einzelwürdigungen, wie z. B. der Gestalten Dürers und Grünewalds und inwiefern sie schon verschiedene Schaffenskreise bedeuten, sondern es handelt sich um Kunstkomplexe, die nur zu bestimmten Weltanschauungen gehören und nur in diesen, sogar mit der Bestimmung von Rassenschicksalen, möglich sind; und es handelt sich um das theoretische Aufschließen eines Kunstsinnes, der gar nicht erschlossen werden kann, ohne daß eine handelnde Tätigkeit, ein gleichgerichtetes Kunstleben den Sinn begleitet, ihm zuvorkommt und ihn in seine Offenbarung herausfordert. Denn die Auslegung des gotischen Sinnes sucht nicht den Geist und nicht eine schöpferische Idealität aus humanistischer Reflexion, sondern stellt den Weg zwischen Natur und Übernatur her; sie sucht mittelst ihrer zeitlichen Bedingtheit die irdischen und die ewigen Bedingnisse. Die Kunst ist in diesem Sinne eine Mittlerschaft, die zugleich immer mehr und aber immer auch weniger als der Mensch ist; sie bringt dem Menschen ein Plus, in dem die Zeit als Menschheit sich in ihm dahinträgt, und sie bringt dem Menschen ein Minus, in dem die Menschheit und das menschliche Bewußtsein seine Ruhe noch nicht gefunden hat. So wird immer ein Punkt des Menschen in der Menschheit, eine Differenz, ein Abstand zwischen Anfang und Ende herbeigeführt, ein Kern von irdischer Einmaligkeit geschaffen. Das Kunstwerk ist so eine schmerzliche und glückliche Ausgebärung aus dem allgemeinen Plane der Menschwerdung, eine Verspannung zwischen Gott und Erde, in deren Schnittpunkten eine heimliche Offenbarung deutlich wird, deren innerster zeitlicher Kern selber die Geburt des Logos aus der Fülle der Zeit als Regelung aller zeitlichen Distanz geworden und geblieben ist. Darum ist die gotische Kunst auch nicht mehr Idee und Vorbild, sondern Kreaturierung, Menschwerdung, Innbild.

Hier, mit der Zerschneidung des Ideellen in wirkliche Bilder, die um ihr letztes und letztlich unfaßbares, weil nicht bildhaftes, sondern worthaftes Innbild im Logos gruppiert sind, müßte das kultürlich bewußte Erschließen des gotischen Problems beginnen und hier führt es dann über die Gegenwart hinaus. Von hier aus ist wieder die Frage offen, ob es möglich sei, die religiöse Kunst immer nur aus der bloßen Natur der Gegenwart, d. h. aus der unbefleckten Kreatürlichkeit zu schaffen unter Verzicht auf die Tradition des Stoffes, d. h. den Gethsemanegarten an jedem Zeitorte zu erleben, unverbunden mit dem Entfernungs- und Annäherungsgefühle im geschichtlichen Dasein; oder ob nicht der ganze Komplex der Geschichte virtuell immer in das göttlich irdische Drama, das die Kunst ist, einbezogen bleibt und bleiben muß, um unsere ganze zeitliche Reichweite zu erfahren und zu dem Zeugnis unseres Vermögens wie Unvermögens zu gewinnen, um nicht im bloßen persönlichen Erlebnis, wenn auch in humanistischer Schöntypik zu verkümmern.

Diese Frage führt weiter und sie bringt uns auf die Methode des gotischen Sinnes, auf dessen aktives Prinzip. Es ist dies ein aktives Prinzip, das uns mit einem merkwürdigen Geheimnis und Paradox des gotisch-christlichen Kunstwesens bekannt macht. Die gotische Kunst ist eine handelnde Kunst nicht im Sinne der Klassik und ihrer durch die Renaissance verstärkten Bewußtheit; sie hat keine bloße und pure objektivierende Werkgesinnung, sondern sie geht aus der Theoria, aus der Anschauung und Beschauung hervor, und geht zugleich im Gegensatz zur Theoria hervor, indem sie mit sich selber und mit dem Elementlichen der Erde verbunden bleibt. Darin erlebt sie ihr Distanzgefühl, indem sich ihr kein runder und ruhender Kosmos, sondern die eigene Kreatur und der um sie dienende Erdkreis, sozusagen aus der Fläche der Anschauung wie aus einem fruchtbaren Acker herausbildet. Der Gotiker fühlt sein Tun als den Knoten, durch den der Kelch des Überirdischen ergriffen und auf den Fuß des Irdischen gestellt wird. Er wird selber mit seinem Werke und durch sein Werk in die irdische Zufälligkeit ausgeschieden. Aber sein Tun bekommt einen Zusammenhang wie in einem ewigen Gewebe und indem er dieses betrachtet und seines Sinnes mächtig wird, so wird ihm sein Wille aus der Kontemplation gegeben. Die Kontemplation wird in der gotischen Kunst aktiv. Und das ist das Paradoxe, daß der Gegensatz zwischen Maria und Martha in der Beschauung Mariens allein zur Aktion gebracht wird und im Handeln den Sinn verwirklicht. Der Gotiker schafft nicht ein Bild, sondern ein Nachbild, keinen Kosmos, sondern ein Stück menschliche Erde. Aber so wird nun die Anschauung wie in Ahnung jungfräulich schöpferisch, indem sie mit der eigenen Kreatur die Erde wiedergebiert in Nachbildern und dauernden Wiederholungsbildern, die eine stetige fortverwandelte Menschwerdung bedeuten. Hier ist eine stete Analogie zur Fülle der Zeit und ein Prinzip gegeben, das sich im Sinne der gotischen Kunst allein erschließt.

Man kann dieses Prinzip, wenn es sich um das Bewußtwerden einer gotischen Theorie handelt, noch methodischer und erkenntnismäßiger aussprechen. Nämlich: die natürliche Kreaturierung und den Ausgang aus der Zeit, in die ein Mensch hineingeboren ist, wird schließlich jede Kunsttendenz anerkennen und wenigstens als Ausgang ihres Ideals hypothetisch für sich gelten lassen. Hier kann zwar in der Betonung des van Gogh zum Beispiel schon der praktische Schritt von der klassizistischen Geistwelt hinweggetan sein, aber der prinzipielle Unterschied ist damit noch nicht festgelegt. Dieser liegt erst im Glauben und Willen auch zu der geschichtlichen Kreaturierung. Man wird einwenden, daß dem Menschen ja sein geschichtlicher Zeitpunkt und alle daraus folgenden Bedingtheiten ohnehin gegeben seien. Und der Klassizist strebt infolgedessen zu einer reineren Form und Überzeitlichkeit, sozusagen zur Gewandlosigkeit vom Zeitlichen. Der gotische Sinn aber will nun gerade dieses Gewand der Zeit, das er ohnehin hat; er will sein künstlerisches Verdienst nicht in einer reineren Schöpfung, als die in ihm selbst liegt und vorgegeben ist, in einer reineren und reinsten Erfüllung des Zustandes seiner Geschaffenheit. Das Denken ist bei ihm dem natürlichen und geschichtlichen Dasein zugegeben und verliert damit jene künstliche Neutralität, in der sich die Menschheit geeinigt vorkommt ohne die einzelnen Menschen. Dieser gotische, christliche und deutsche Eigensinn, wenn man ihn gelegentlich auch so bezeichnen darf, ist ein paradoxes und sehr gegensätzliches Gegenstück zu dem sittlich angeregten Glauben des Klassizistischen an das Naive und an die edle Einfalt. Aber wenn man in den Blümlein des hl. Franziskus liest, dann herrschte dort auch durchaus mehr dieser Eigensinn als jene künstliche edle Einfalt, mit der man das franziskanische Wesen heute gerne mundgerecht gemacht hat. In diesem Eigensinn liegt übrigens auch eine Wurzel des deutschen Humors. In dieser Eigenheit, in der der einzelne Mensch aus der Gesellschaft getrennt ist, liegt auch das Band der Verantwortung im gotischen Sinne.

Gotik und Klassik sind Gegensätze, die sich in ihrem Weltverhältnis ausschließen. In den geschichtlichen Verläufen gibt es Übergänge, wie gerade die Romantik und das Nazarenertum gezeigt hat. Der letzte Grund solcher Übergänge ist aber nicht mit einer natürlichen Entwicklung und Transformierung zu befriedigen und so ist auch der Anfang der christlichen Kunst nicht aus der Fortsetzung eines natürlichen und menschheitlich personifizierten Kunstgeistes hervorgegangen. Es wird noch eine der schönsten, aber auch schwierigsten Aufgaben der Kunstbetrachtung bleiben, das Prinzip der christlichen Kunst und die Art seiner Entfaltung festzustellen. Das Gefühl bei der Betrachtung dieser Aufgabe, die ein gewaltiges Arbeitsfeld verspricht, ist ein ähnliches wie das, das uns bei dem Erleben der neuen gotischen Ahnung in Mut und Zagen überkam. Es ist das Gefühl von einer noch gewaltigen Jugendkraft, die dem gotischen Sinne noch immer beschieden ist und ihrer Zukunft harrt. Aber auch unter ganz einfachen Aspekten bleibt es erstaunlich, wie stark sich mit der Romantik und dann in der Gegenwart die gotische Welle wieder erheben konnte, die doch nicht in dem rationalen Bette der Zeit fließt.

Es sei nur an den Wechsel der Anschauungen seit und innerhalb etwa 150 Jahren erinnert. Das klassizistische und idealistische Urteil über die gotische Welt hat in Kant einen charakteristischen Aussprecher gefunden. In seinen „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ 1764 sagt er das Folgende. „Die Barbaren, nachdem sie ihrer Seits ihre Macht bevestigten, führten einen gewissen verkehrten Geschmack ein, den man den Gothischen nennet und der auf Fratzen auslief. Man sahe nicht allein Fratzen in der Baukunst, sondern auch in den Wissenschaften und den übrigen Gebräuchen. Das verunartete Gefühl, da es einmal durch falsche Kunst geführet ward, nahm eher eine jede andere unnatürliche Gestalt, als die alte Einfalt der Natur an, und war entweder beym Übertriebenen oder beim Läppischen. Der höchste Schwung den das menschliche Genie nahm, um zu dem Erhabenen aufzusteigen, bestand in Abentheuern. Man sahe geistliche und weltliche Abentheurer, und oftmals eine widrige und ungeheure Bastartart von beyden. Mönche, mit dem Meßbuch in einer und der Kriegesfahne in der anderen Hand, denen ganze Heere betrogener Schlachtopfer folgeten, um in andere Himmelsgegenden und in einem heiligeren Boden ihre Gebeine verscharren zu lassen, eingeweyhete Krieger, durch feyerliche Gelübde zur Gewaltthätigkeit und Missetaten geheiligt, in der Folge eine seltsame Art von heroischen Phantasten, welche sich Ritter nannten und Abentheuer aufsuchten, Turnire, Zweykämpfe und romantische Handlungen. Während dieser Zeit ward die Religion zusamt den Wissenschaften und Sitten durch elende Fratzen entstellet, und man bemerket, daß der Geschmack nicht leichtlich auf einer Seite ausartet, ohne auch in allem übrigen, was zum feineren Gefühl gehöret, deutliche Zeichen seiner Verderbnis darzulegen.“ Kant preist dann die Palingenesie, durch welche sich das menschliche Sein glücklich erhoben habe, und wünscht, daß man sich von der edlen Einfalt nicht mehr entfernen möchte. In diesem Urteil und in diesem Wunsche herrscht durchaus ein ethischer Grundzug, der auf das ideale, humanistische Dasein reflektiert. Ausgang und Ziel sind eine vorweggenommene Ruhe, die ihren Ort aus der Bewegung der Zeit ausschneidet. Es läßt sich diese geistige Optik unmittelbar mit dem Eindruck einer klassizistischen Skulptur vergleichen, die mit Cäsuren in gedehnten Bewegungen in sich zurückschwingt, deren innere Spannung abgeglichen ist, und die über den Bezirk ihres Daseins tätig kaum mit einem bläßlichen Schimmer hinauswirkt. In dieser edel zugerichteten Reflexion hat sie ihren Wirkungskreis und ihre Grenze. Das Weltverhältnis eines gotischen Werkes ist ein durchaus anderes. Es bewahrt und atmet auch in den stärksten Werken immer etwas Fragmentarisches und bewahrt dies gerne. Es ist niemals das Bekenntnis eines ethischen Wunsches, sondern die Form eines Zustandes. Es ist aber innerhalb dieses Zustandes und mit diesem Zustande in Bewegung. Gotik ist nicht Reflexion, sondern tätige Sinnbildung. Der gotische Geist wird tätig dadurch, daß er nicht sich selber, sondern seinen Zustand in der Materie beschauend empfindet. Die Natur kommt ihm entgegen, indem er sich ihr zubewegt. Er ist von einem ruhelosen Willen zur Inkorporation getrieben. Sein Werk ist nicht in ihm allein, sondern nur zugleich auch in einem Stück Natur vorhanden. So wird es in einem besonderen Maße irdisch, und so ist es schon durch das Material in Bewegung gebunden. Das Material gibt Schwere und Ohnmacht, es gibt ein Minus; und es gibt einen Halt im Erfahren, es gibt ein Zeugnis an einem Zeitorte, und so gibt es ein Plus. Zwischen den zwei letzten Tiefen der Schöpfung und der Erschaffenheit geht der Mensch hin und bemerkt Nähe und Ferne, ohne den fertigen Ort zu wollen und zu kennen. Die weitere Offenbarung liegt immer wieder an einem weiteren Ende. Kunst ist eine Offenbarung nicht der Geschichte zuvor, und nicht außerhalb der Geschichte, sondern durch die Geschichte hindurch. Die Natur selber wird erst erkannt durch die in der Geschichte gegebene Bewegung. Sie gibt ein künstlerisches Prinzip nur, indem man sie zu den menschlichen Entscheidungen herbeiruft. Aber sie ruht nicht in dem menschlichen Schoße. Gotik hat eine gegnerische Verbindung mit der Natur.

Aber auch die Ewigkeit und ihr objektiver Glanz ruht nicht im Schoße des menschlichen Geistes. Die gotische Kunst schafft keinen Raum für das Ewige, sondern nur einen zeitlichen Aufenthalt, nur eine Wand, hinter der das Ewige ist, und vor der der Mensch wie ein einzelnes Wort sich hinbewegt. In der gotischen Wand verschränkt sich die Offenbarung, in der das Ewige und das Wort korrespondieren. Davon wird der Stein fruchtbar, und das Nachbild kann ohne eine rationale Ordnung aus jedem Felde wachsen. Darum kennt mittelalterliche Baukunst keine ornamentale Ordnung, sondern nur eine organische Durchwirkung. Der gotische Dom ist kein Bau für den Raum, sondern eine Schale in der Zeit. Es wird in der gotischen Kunst überhaupt etwas getan, was jedem rationalen Sinn widerspricht; denn der Mensch und sein Werk sind schaffend selber geschaffen auf einem Hintergrunde, dessen sie nicht mächtig sind. Der Mensch tritt in seinen Zufall heraus, und aus seiner gegnerischen Verbindung mit Gott wird ein mystischer Körper der Geschichte offenbar.

Das Erstaunen über die Irrationalität der schnell und groß anhebenden mittelalterlichen Kunst kann nicht besser ausgedrückt werden, als mit den Worten, die Georg Dehio in seiner „Geschichte der deutschen Kunst“ dafür gebraucht. Er sagt: „Zu fragen bleibt, was die deutschen Maler dabei gefühlt, als ihre Hand diese Werke schuf? Und was ging bei den Nichtkünstlern vor sich, wenn sie sie betrachteten? Das erste, worauf unser Nachdenken uns hinführt, ist doch, man kann es nicht anders sagen, ein grenzenloses Erstaunen, daß diese Kunst der Malerei (von der Dehio speziell spricht) bei den Deutschen überhaupt möglich geworden ist. In ihrer ursprünglichen Anlage, so weit sie in ihrem Altertum sich entwickelt hat, scheinen alle Voraussetzungen für sie zu fehlen. Sie hatten dahin gelebt, ohne zu der umgebenden Natur jenes geistig-sinnliche Verhältnis zu gewinnen, aus dem der künstlerische Darstellungstrieb hervorgeht. Es fehlte jede Spur eines inneren Bedürfnisses, über die von der Menschengestalt, der Lebensform überhaupt empfangenen Eindrücke sich nachahmend Rechenschaft zu geben. Und doch diese unermeßliche Summe von Menschenbildern, die unverdrossen über die Wände der Kirchen ausgebreitet, mit denen die heiligen Bücher angefüllt und die kirchlichen Geräte überdeckt wurden. Es ist keine kindliche, keine am Anfang ihres Werdens stehende Kunst, sondern eine übertragene, in den ausgelebten Formen uralter Kunsterfahrung sich ergehende. Wäre sie am Ende nur eine, die gelehrige Hand, nicht die fühlende Seele angehende Scheinkunst, eine seltsame und ungeheure innere Unwahrheit?“

Dehio, der mit seinen Verdiensten um die deutsche Kunst so fragen darf, versucht dann die Ergründung natürlicher Erklärungspunkte. In diesen Erklärungen bleibt aber die klassizistische Anschauung von dem zweipoligen, geistig-sinnlichen Prozeß des künstlerischen Schaffens bestehen, eine Anschauung, die die erste Bedingung des Wirkens überhaupt und des künstlerischen Schaffens nicht in dem zeitlichen und geschichtlichen Daseinszustande sieht, sondern eben in der hypothetischen, zu jeder Zeit neu möglichen Reflexion zwischen Natur und Geist; die eben dann auch nicht infolge eines geschichtlichen Zustandes schon inhaltlich und durch den Inhalt schon formhaft bestimmt sein kann. Das Christentum aber war für die Germanen nicht eine inhaltliche Zutat, sondern es wurde ihre eigentliche formhafte Bestimmung; sie wurde es künstlerisch mehr als bei jedem anderen Volke. Das Germanenvolk empfing damit seine eigentümliche innere und geschichtliche Kreaturierung.

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Es wäre nun ein entscheidendes Thema der Kunstgeschichte und das eigentliche Thema der geschichtlichen Gotik, die Formbegreifung davon zu versuchen, wie das christliche Formgefühl entstand, wie in abgelebten Formen, die nur in der äußeren Verspannung übernommen wurden, sich fast unverbunden mit dem Bildganzen einzelne neue Lebenspunkte von innen her rühren und in Bewegung gesetzt werden, die die Textur von innen begannen, wie und wo im starren Bildgefüge sich dann eine freiheitliche Bewegung äußerte, ob sie z. B. an den anatomischen Gelenkpunkten oder selbst widersinnig dazu aber in einer geistigen Gelenkhaftigkeit aufkommt, die ein Plus und ein Minus an Ausdrucksvernunft bezeichnet, ähnlich wie der Reim in der christlichen Poesie. Dies ginge weiter dahin, zu fragen, wann, wo und warum Stein, Holz, Eisen und wieso, in welchem Sinne Schmuck gebraucht wurde, welcher Sinn von Mitteilung im Gebrauch dieser Dinge liegt, die dem Dasein Schwere geben, indem sie es aus seiner dunklen Verschlossenheit erleichtern und ins Licht führen. Es wäre hier die ganze große, z. B. in der musivischen Kunst und im Glasgemälde so deutlich erahnbare Frage der Inkorporation und Kreaturierung des Elementaren zu eröffnen, die das Schicksal der gotischen Kunst bestimmt hat. Das Ende der gotischen Kunst beginnt da, wo die darstellerische Fertigkeit alleiniges Kunstmittel, die Methode der Inkorporation Selbstzweck wird und das Elementliche sich der Kreaturierung entzieht. Im gleichen Maße entzieht sich auch das Göttliche der Kreaturierung.

Geschichtlich bedeutend käme ein weiterer Gedanke hinzu. Die gotische Sinnbildung vollzieht sich in einer Antithese und einem Hintergrunde entgegen, dessen sie nicht mächtig ist. Dies geht so weit, daß dem gotischen Kultursinn der natürliche mutterschaftliche Unter- und Hintergrund entzogen ist, wofür der geschichtliche Auftrag und christliche Hintergrund eingestellt wird. Friedrich Schlegel bespricht in seiner „Geschichte der Literatur“ die Bedeutung, die es hatte, daß sich die mittelalterliche deutsche Literatur nicht aus dem Schoße der deutschen nationalen Volkssprache erheben konnte. Es würde sich noch weiter als mit der Wichtigkeit der rationalen Folgen, die dieser Umstand für das mittelalterliche Kulturleben hatte, darum handeln, die Wichtigkeit und den Zustand der irrationalen Folgen zu begreifen. Dadurch würde man statt der ratio des Geschehens in der Kunst auf die Einzelquellen geführt, die aus der Irrationalität ihren Ursprung gefunden haben. Nur eine Andeutung soll als Beispiel gegeben sein, wie alle diese Gedanken nur unbeherrschte Andeutungen sind, um der Art der gotischen Sinnbildung eines wirklichen geschichtlichen Zustandes nahezukommen. Dieses Beispiel ist die Farbe im christlichen Sinne, die ähnlich wie der Stein nicht bloße gestaltende Zutat ist, sondern zugleich kreatürliches und mystisches Element. Wir sind durchaus gewöhnt, dem deutschen Kunstcharakter vor allem eine besondere zeichnerische Fähigkeit zuzusprechen. Zu dieser Annahme sind wir nicht zuletzt auch durch die Bedeutung der zeichnerischen Entwicklung in der Renaissance gekommen, eben in der Zeit, als das sinnlichgeistig illusionierende Darstellungsmittel einen Selbstzweck bekam. Nun ist aber im Mittelalter in einem durchaus frühen und wesentlichen Sinne die Farbe herrschend, wozu wir nicht nur die bildliche Farbe, dann Mosaik und Glasgemälde, sondern auch Stein und Holz, Schmuck und Textilien, eben die ganze Verwendungsart des Kreatürlichen rechnen, wodurch dem gedachten und gezeichneten Bild immer ein geschöpflicher Charakter, ein Hauch vom Wort: Es werde, ein nicht bloß gedachtes, sondern in der Natur ausgesprochenes, geschaffenes Wort mit Übergewicht zugegeben wurde. Die Farbe ist im mittelalterlichen Bildsinn von einem imitatorischen geistsinnlichen Bildgesetz unabhängig; sie folgt einer eigenen handelnden, aktiven, Schwere gebenden Ordnung. Wir behelfen uns mit der Feststellung der besonderen dekorativen Anlage, aber damit sind wir dem Kern und der geschichtlichen Abwandlung dieses aktiven Kreaturgefühls nicht nahe gekommen. Es handelt sich darum, daß und wie nicht das Rationale in Wort und Bild, in Literatur und Kunst, sondern das Irrationale durch Laut und Farbe, sozusagen das Blut im Geiste festgestellt und vorbildlich begriffen werde. Und dieses Irrationale kann nicht begriffen werden, wie es kein logisches Gesetz hat, nicht in einer normativen These der Vernunft, sondern nur, daß und wie es sich bewegt. Eine jede Zeit begreift auch immer nur einen ihr zufallenden Teil von der Bewegung des Ganzen oder wird von ihm ergriffen. Die Feststellung des gotischen Sinnes kann in allem nicht bloß eine Erkenntnis werden und bleiben, sondern sie muß eine fortgehende Mitsinnbildung sein.

In der Betrachtung der Gegenwart, des vorwaltenden und dann zurückschlagenden Willens ihrer künstlerischen Bewegung erleben wir nun wieder ein geschichtliches Gesetz, ein Gesetz, dem der bloße handelnde, dem aufgeweckten Sinn aber nicht in folgernder und letzter Treue hingegebene Instinkt des notvollen und triebhaften Fortschritts verfällt. Es ist dies ein Gesetz, das etwas Erschütterndes an sich hat: Nämlich daß das ergriffene Nötige und Gute, wenn ihm nicht in letzter Treue gedient wird, einen um so schlimmeren Rückschlag in das verlassene Übel erleidet. Die neue künstlerische Bewegung hatte eine mehr naturhafte und eine andere mehr geistige Linie. Beide haben im allgemeinen ohne eine durchgehende geistige Klärung einem radikalen Formtrieb zu folgen gesucht. Diese Hingabe an eine pathetische Mechanik von radikalem Vitalismus wurde für die neue Kunst charakteristisch. In ihr vor allem wurde das gotische Element empfunden und in ihr war es am wenigsten enthalten. Das Mechanisieren und die bloße Funktion der künstlerischen Mittel erschien als eine Gleichung mit dem gotischen Wege und der gotischen Zeitempfindung. In dieser Hinsicht trat eine vollkommene Zersetzung geistiger und geistig bürgerlicher Komplexe ein. Einer solchen Zersetzung war der Klassizismus der letzten Generationen nicht verfallen, in dem sich zwei ineinandergehende und sich aufrechthaltende Richtungen, eine mehr humanitär idealistische und eine mehr ästhetisch technische unterscheiden lassen; der Träger der ersteren ist etwa Burckhardt, für die letztere ist der Name Sempers charakteristisch. In der gotischen Tendenz konnte sich dementgegen nur ein technisches Raisonement mit dem Einschlag von sozialer Pathetik bilden und gerade dieses technische Raisonement der Formen ist alsbald mit einer bösen Folgerichtigkeit in äußerlichste klassizistische Eleganz der linearen Mittel umgeschlagen, in ein künstlerisches Fabrikwerk, das alle Verantwortung seines anfänglichen sozialen Sentiments verloren hat. Es ist jene bösartige Neutralität der Kulturformen eingetreten, die zu der eigentlichen, auch noch des ethischen Pathos entkleideten sozialistischen Anschauung von der Kunst als eines bloßen Reflexes wirtschaftlicher Strukturverhältnisse gehört. Das ist die Signatur der augenblicklich augenfälligsten Entwicklung.

Indessen das Beste unserer Gegenwart ist damit nicht erfaßt, und das Beste unserer Zeit kann auch kein Gesamtes und Gemeinschaftliches, wie man uns nach dem Kriege von allen Seiten gesagt hat, sondern nur das Einzelne sein. Wir kennen ein neues Naturgefühl, wir kennen Einzelerscheinungen, in denen die neue Generation ein tieferes Bewußtsein mit außerordentlicher Tatkraft verdichtet hat. Geistige Form in Verbindung mit der Naturkraft der Farbe ist seine Signatur. Der Weg der Begegnungen geht aus dem Adamitischen und Vegetativen heraus in das Schmuckhafte, Bluthafte und Heraldische. (Es darf hier, um eine Richtung zu geben, der Name des Münchner Künstlers Karl Caspar ausgesprochen werden.) Und auch im ganzen der zeitlichen Bewegung ist die ahnende Empfindung von einer noch unerschöpften gotischen Jugendkraft unvermindert. Wir können nicht annehmen, daß der Sinn, der des Durchbruchs harrt, verschlossen bleiben soll, und daß im besonderen der weitere geschichtliche Auftrag, der fühlbar noch immer auf dem deutschen Volke liegt, daß seine Kreaturierung des abendländischen Geistes von ihm genommen wird.

Die ideelle Schwäche des Christentums, die Schwäche im rationalen Erkenntnisstande ist zugleich seine kreatürliche Stärke. Wir haben eingangs davon gesprochen, daß die neue künstlerische Bewegung ohne eine entsprechende katholische Beteiligung vor sich gegangen ist. Und wenn wir uns gegen das Klassizistische als den der Gotik feindlichen Geist gewandt haben, so geschah es vor allem unter dem Gesichtspunkt, daß gerade von den deutschen Katholiken etwas Klassizistisches in seiner unfruchtbarsten Weise sich zugeeignet wurde, nämlich alles das, was als eine normative Kulturgeltung in freundschaftlichen Kompromissen herausgestellt erscheint, während doch der übrigen Welt nicht oder nur in einem liberalen Humanismus die Normen geltende Bedeutung haben, während die Energien aber, mit denen um sie gerungen wurde, ausschlaggebende und konstituierende Elemente für die stetige weitere Kulturarbeit bleiben. Es muß wieder betont werden, daß sich eine umfassende gotische Gesinnung nicht gegen die klassischen Leistungen im einzelnen wenden kann; denn sie, in denen sich die gottmenschliche Grenzverlegung aus dem freien zeithaften Ruf und Sinn auf die Abgrenzung der einzelnen Werke in geistiger Bemächtigungsabsicht vollzieht, gehören als reiches und widerhaltendes Thema zur gotischen Bewegung im weitesten Anblick. Die eigentliche und rationale Klassik ist ja auch erst im christlichen Zeitalter möglich geworden. Die eigentümliche Reinheitsabsicht, die der großen gedanklichen Bewegung der menschlichen Vernunft innewohnt und die einen geistigen Spiegel für das menschliche Antlitz und die gesamte Gesellschaft ohne die Unreinheit der menschlichen Kreaturierung zu finden sucht, die tätige Empfindung, die sich in einer edlen Einfalt werkhaft zu vergegenwärtigen strebt, ist ein merkwürdiges Eva-Schicksal des menschheitlichen Erkennens. Auch eine wirkliche und gesamtgotische Bewegung kann sich nicht mehr auf einem bloßen konfessionellen Boden vollbringen.

Während nun unsere Gegenwart sich mit Sinnen und Energien auf das Ergreifen des gotischen Zustandes verlegt hat, und darin besonders auch einen neuen, über die liberale Individualisierung hinausführenden Ausdruck des heutigen sozialen Gemeinschaftszustands mit mancher richtigen Ahnung zu finden glaubte, hat sich das katholische Kulturziel auf eine bloße Vermittlerschaft beschränkt, in der, da hierin ein originaler Formglaube fehlen mußte, die bloße ethische Mitstimmung in der Zeit sich immer mehr vorangeschoben und eben jenen bedenklichen Synkretismus hat entstehen lassen, in dem alles von den kultürlichen bis in die politischen Verhältnisse hinein schwimmend geworden ist. Der gotische Gedanke, der nicht ohne die geschichtliche Kreaturierung eines Volkes besteht, hat heute auch das religiöse wie bürgerliche und nationale Problem zum Inhalte. Es handelt sich darum, den Mutterboden zu finden, der nicht in der zerstörten Natürlichkeit gefunden werden kann, aber mit jeder tätigen Entscheidung fruchtbar gemacht wird, die den Sinn des Daseins wachruft. Der eigentliche Besitz der Welt ist nicht der vernünftige Glaube, sondern die tätige Hoffnung; sie bildet die Gelenke, mit denen der Mensch und ein Volk zwischen Erde und Himmel gebunden ist. Mit ihr verwandelt sich die kultürliche und geistige Neutralität in Kampf und Liebe. Ihre letzten weltlichen Enden sind die Kreatur der Waffe in der Hand des ritterlichen Sinnes.

 

 

 

NACHGEDANKEN ÜBER DAS BÜRGERLICHE KUNSTPROBLEM

 

Worunter das im Erkennen tätige Gewissen zu leiden hat und wodurch dem aus seinem persönlichen Ereignisstande in die Zeitformung oder also zu den innergesellschaftlichen Aufgaben der künstlerischen Verdichtung trachtenden Schaffenssinn sein zeitliches Feld fortgetragener Kreaturgültigkeit immer schwerer zuteil werden kann, das ist der um die hergekommenen Verhältniskräfte gebrachte bürgerliche Zustand.

 

Unter der Freiheitsbestimmung verändert sich die Arbeit, von welcher alles nach der bürgerlichen Mitte hin seine wahre Gebundenheit erreichen will, gleichzeitig und noch schneller zur bloßen Objektfertigkeit hinaus und verliert die große Haltung des Zustandes. Jene dunkle Durchsichtigkeit, in welcher die Dinge mit dem Menschen und gleichsam hinter seinem Rücken stehend auf das Glaubende warten, jene ziellose Einsamkeit, die außerhalb der entseelten Gesetze brütend und wankend das verschlossene Buch anruft, jener weibliche Sinn in der Harrung auf die Frucht der Theoria ist gleich dem sibyllinischen Grundgefühl, das die christlichen Weltformen begleitete, wiederum und mit noch ungefaßterer Notwendigkeit in die Mitte unserer Zeit gerückt.

 

Während die Geschichte dem unmittelbaren Menschen die Erfahrung der kreatürlichen Form zubringt, worin der Passion ihr in aller Mitte ereigneter Sinn gegeben ist, setzt sich im Geiste auch eine mittelbare Gegenweise gegen die Natur fort, angezogen aber wie von dem Echo einer großen Klage. In der Passion, wenn die Natur ihr ganzes menschliches Ereignis betritt, ist die Geschichte bei sich selber. In dieser Klage, wo die Kunst mit ihrem abständigen Spiegel allein steht, spricht man von Schicksal. Wie von Gegenspiegeln richtet sich von umstehenden Wänden die Gegenklage der Körper gegen die Schöpfung und die eingedachte Mitbildung in der zeitlosen menschlichen Mitte steht immer mehr durch Sinnbeschwerung am Rande. (Michelangelos Figuren lagern als hinausgestoßene Voluten, als „Morgen“ und „Abend“, „Tag“ und „Nacht“ zeitgeworden in der Ersinnung des Gewichts.) Von den beiden Ereignungen, Mitte der Erlösung und Rand der Schöpfung, ist nicht nur jene immermehr aus dem großen Anwendungssinne und der Innengrenze im letzten Zeitalter verloren, sondern auch dieser ist klagender unter dem Schöpfungssinn gewachsen. Die Pietàform der geschichtlichen Geborgenheit wird immer mehr von der stummen Sphäre der Schöpfung begleitet.

 

Das Bürgerliche, an sich Mittel und Spiegel aller Herkünfte und darin zur Mittelung ihrer Beziehungen bestimmt, treibt, da es seine nächstwirksame Stärke in der unverbundenen Aktionsfähigkeit ersehen hat, wo das Mittel frei und ohne Herkunft wird, von selber dazu, auf die Grade der Herkünfte zu verzichten und sie durch bloße Nutzung abzustellen. Es versteht sich am wenigsten zur letztlichen Pietàform aller Geschichte.

 

Der allgemeine bürgerliche Geist arbeitet mit den nebeneinander und gleichgestellten Begriffen. Er glaubt die Mittel zu besitzen, um welche Gott kämpft und die Schöpfung sinnt. Das Wort, die Summe der einzelnen, verliert im grammatischen Gesetze die Spanne.

 

Dante nennt in der Erhebung der zeitgeschaffenen Volkssprache (de vulgari eloquentia) diese gegen die Grammatica eine illustre (im Spiegelsinn) und eine cardinale. Wie auffallend und wichtig ist es, daß, wieviel mehr doch im Hin- und Hergange die äußere Grenze bewegt ist, von ihm die wirkende Bewegung der inneren Grenze ausgesagt wird.

 

Die Kunst ist immer um ein tantum dic verbo verschieden von einer Vollkommenheit; dieser Schmerz ist zugleich das Glück ihrer Zeitform. Es ist in dieser Verschiedenheit des Gegebenen und des Sinnes die Spanne, worin die Geschichte ihren Platz hat und in ihr die menschliche Gesellschaft, von welcher die Kunst getragen wird. Aber in dem Einzelnen liegt wie in einem Worte die Entscheidung oder vielmehr die Unentscheidbarkeit, welche das Vollkommene von seiner Gabe trennt und beides im Sinne kreatürlich macht. Davon entstehen die gegen- und eingeschriebenen Sinnbilder der sichtbaren und kreatürlichen Formen, die wie ein unerreichter Himmel um die tote Sohnschaft kreisen.

 

Heute beobachtet man immerfort die Zertrennung der gesamten geistwirklichen, in der Kunst und ihrer Zeitortlage schaubaren Angelegenheit und dafür die Versuche einer Formung der aus dem mütterlichen Gegenblick verlorenen, nicht mehr spiegelnden Erkenntnis durch bloße Begriffspaare von Gegensätzen. Bald, in der Annahme einer neutralen Kunstsubstanz, die sich wesentlich von der klassizistischen Idealhypothese herleitet, wird ein gegensätzliches Wechselspiel von Entwicklung kategorienhaft zu ordnen versucht, mit Spiralen und Wellen um die gedachte humanistische Objektform, während die mensch- und zeiteigenschaftlichen Inhalte ungefunden bleiben. Dieser formale Liberalismus, der das Bild des Auferstandenen nicht berühren kann, hat — im paradoxen Gegensatz, obgleich oder weil er die accidentelle Kreatur erkenntnislos verdirbt — auch nicht die gefährdende Begegnung im noli me tangere der Magdalenagestalt. (Die christliche Kunstanschauung, soweit man etwa eine solche behauptet, verfolgt, mit einigen abgetrennten Reservaten, die ähnlichen Bahnen.) Dann wieder — und dies ist der überhaupt allgemeine Fall in der Annahme der populärphilosophischen Dualität — setzt man einen stets verschiebbaren und ausbesserlichen Gegensatz von Natur und Geist voraus, der die wirkliche Dreiförmigkeit des Daseins und ihre accidentelle Zeiterscheinung am wenigsten kennend allenfalls und mit Eifer zur ethischen Betrachtung geneigt ist. Hier füllt man in immer abseitiger Tätigkeit das Grab der Erde oder öffnet es, ohne die Faltung der glänzenden Tücher im Grunde und die dabei wachenden Engel zu erblicken. Sodann heute besonders geht man, in der Annahme und Fortsetzung des Gesellschaftssinnes als einer anonymen sozialen Spiegelform, dazu über, alle Kunst als das bloße Strukturbild formaler und materialer Entwicklung zu sehen, in welchem auch das Ethische nicht mehr Sinn hat, da der Einzelne nichts entscheidet, sondern nur die Gesamtheit handelt. Himmel und Erde bezeugen nichts als gleichartige Trümmer.

 

Was sich neuerlich gegen den leeren bürgerlichen Ideen- und Objektgebrauch gesetzt hat und als eine neu gesichtete und unausweichliche Strukturform, eine gegen die „Topik“ ankämpfende „Chronik“ der Anschauung verstanden sein will (wenn man diesen beiden Worten „topisch“ und „chronisch“ eine solche Erkenntnisform geben und sie in ebenfalls einem Gegensatzsinne zur Zerteilung des üblichen Raumbegriffs der bildenden Kunst anwenden darf), hat, ebenso wie die zu ihr gegensätzliche und überfreie Schicksalsklage im Humanistischen einen Teil von zwangvoller Wahrheit. Jedoch in dieser sozialistischen Utopie, in dieser neuen Stellung eines Hintergrundes und einer umständigen Form zu der uns ins Erbe gefallenen humanistischen Neutralität ist die geschichtlich-christliche Verortung, der gott-menschliche Hergang, die wirkliche Empfängniskraft, der damit eingesetzte Spannungsgrund durch die Geschichte hin, das Gethsemaneleben in der Kreatur und diese Ehrung der unbewußten Beständigkeit aller Zeugnisse ausgeschaltet. Es kommt in der bloßen visuellen Konstatierung nicht das Leid der Sichtbarkeit zu seiner Mitte, wodurch alles Geschaffene blühend wird.

 

Überhaupt ist das Bedürfnis, in Gegensätzen zu erkennen, die Folge des für die eigentliche geschichtliche Mittelung und Entmittelung eingesetzten Erziehungs- und Zweckgedankens, der, indem er die Pole einer wahrhaften nature morte in der Verschränkung ihres inneren Lebenspunktes nicht erhalten kann, zerspaltend in die Erkenntnis zurückwirkt.

 

Der Gedanke der Erziehung des Menschengeschlechts hat langsam die Immaculataform des göttlichen Planes verdorben.

 

Auch die christliche Anschauung hat sich durch die zunehmende Ethisierung im Gemeinschaftsgedanken aus ihrer einzelhaften christophorischen Aktion verdrängen lassen. Und während also der einzelseelische End- und Anfangspunkt, der durch die Fülle der Zeit in jeder Gegenwart zugleich bedingt und aufgehoben ist, während das eigentliche Zeitereignis im ewigen Gleichnis, das Wort im Bilde, das den Zwiespalt der Erkenntnis als eine in das Tor gestellte Gestalt verschließend dieses Tor nicht weiter öffnet, als wie es von ihm eingeschlossen ist, während also diese erlebende Gestalt aus der offenen Mitte schwindet (gewissermaßen ist der ins Einsame gesetzte Schmerzensmann am Ende des Mittelalters die Sinnfigur dieser Hinschwindung), ist auch der Zugang zur Zeit, die Gebrochenheit im hohen Beginn gleichend dem Sinne der mittelalterlichen Bogenform verlorengegangen.

 

Kunst und Kunstanschauung als der bildhafte Einblick in die durch das Mittel gegründete Beständigkeit — geschöpfliche Entsinnung durch die Zeitform, wodurch ihr Nachsinn entsteht —, wodurch auch die Kreaturen wirkliche und wie gegen eine Hoffnung unbewußt werden, — man erblickt das Geschaffene künstlerisch nicht als durch das Mittel —, ist eine aktive Kontemplation. Der Sinn einer realen Anonymität, wodurch das Namenlose über dem Namen liegt, der durch diesen Sinn bestimmte und verschränkte Knoten oder die Kreuzung, was alles sich in den Richtungen der Kreuz- oder Kelchform auftut, vermehrt das Ausgeborene durch das Eingeborene. Kunst liegt in der Wahrheit der Differenz.

 

Schon in den unereigneten Anfängen, wo Sinn und Ding noch im äußeren Zeichen Deckung fühlt, und noch mehr im ereigneten Fortgange, wo das Zeichen wie vor einem gegen das Licht gebrochenen Worte aus der Fühlung strebt, ist die Differenz oder figürliche Trennung der im Mittel gegründeten Dinge wie Ehrfurcht und Flucht vor der letzten Eingründung, in der unser eigenes Mittel wie ein abgehaltener Schatten ist. Kunst ist in diesem Sinne nie ethisch, sondern ein wirklicher Zustand. Der bürgerliche Geist, der alle Herkünfte in sich aufhebt, müßte um die Schau und die Scheu der Eingründung wie ein Ezechielisches Feld lebendig sein. Aber gerade die Konservativen und die Katholiken sind die eifrigsten Hüter der leeren Objektivität.

 

Man muß die Begriffe nach der Bildhaftigkeit hin klar machen, das heißt aufheben in die ereigneten Formen, damit sie Wahrheitsmaße bekommen. Das ist eine Kontemplation, die in der Geschichte immerfort geschieht, eine Relation der Formen, die gegen das Absolute der Begriffe beständig bleibt. Das mütterliche Nichtbegreifen im Übergriffe über die entseelte Körperhaftigkeit ist geschichtlich zu Bau gebracht. (Die mittelalterlichen Blendformen sind schon wieder in äußere blühende Gelenke gebrachte Schmuckfassungen der unmittelbaren Kernersinnung.)

 

Aus der Zelle der Verkündigung, die Schranke der geschichtlichen Verschlossenheit aufbrechend, ging die Geschichte den Gang ihrer Sinnhaftigkeit gegen die Natur hin; gewissermaßen dabei den Sinn im Angesichte der Sichtbarkeit löschend. Davon kommt eine sinnentgegnete Mehrung und das einzelne wird darin gegen das Allgemeine durch eine gegenräumliche Verortung ermächtigt. Durch die jungfräuliche Einmaligkeit, welche den um das geschlossene Schöpfungswort erstarrten Raum der Geschichte einmal ganz zur ungefaßten Spiegelkraft der Schöpfung zurückwendend diese innerhalb der menschlichen Grenze in einem um das Wort gebrochenen Mehr von Sichtbarkeit geöffnet hat, ist der Sinn der Kunst wie von einer Negation durch das Zeitwirkliche doppelt erhalten. Er geht aus der reflektierten Nachbildung in die magdliche In-sich-stellung. Das Ebenbildliche wird wie durch Tötung größer.

 

Der Gang der Kunst kann uns in seiner Folge bildhaft werden wie in drei getrennt und unlösbar durcheinanderscheinenden Zustandsformen, einer Reclusaform, einer Immaculataform und einer Pietàform. In dieser untrennbaren Durchmessenheit der Formen ist Kunst Geschichts- oder Gesellschaftslehre.

 

In der großen Spanne einer bis zur Täuschung ausgespielten, d. h. in dieser Weise zur Ausgleichung getriebenen Blickgerechtigkeit, wobei früher die direkte Konfrontierung, die auf das Wort verzichten muß, ungemessen stattfindet (bis sie, unverschränkt geblieben und dadurch unbegegnet, sich neutral zentriert) und demgegenüber eines heroischen Genres, das allein durch die ins Zeichen gesetzte Naturstummheit die schweigende Kreatur zu sich geoffenbart findet, zwischen Blickgerechtigkeit und Werkberechtigung geht, hier mit Verlust der Eingeschlossenheit oder Ergriffenheit und hier mit zahlloser Entmittelung, die Kunst in ihre Möglichkeiten, bis die innere Triangulation eingetreten ist. In der christlichen Zeit verneint sich der nominalisierte Begriff der Kunst ebensosehr, wie er sich in der realisierten Tatsache des theophorischen Zustandes, je bildlicher desto bildloser, je vermittelter desto mehr ohne seine mittelnde Substitution bejaht, Leib und Schrift kommen nun in den Miniaturen zwischen Tier und Pflanze sinnvoll zusammen.

 

Der Spiegel, der den Rand der Schöpfung bedeutend die Mitte nicht erlangen kann, bleibt als Nachbild des Vatersinnes erhalten.

 

In der Bewegung zur und nach der Reformation ereignen sich Blick- und Werkgerechtigkeit wieder in ihren ausschließenden und sich dadurch nun noch mehr begründenden Trennungen. Glaubenssinn und Rechtfertigung sind das bürgerliche und künstlerische Problem, in dem wir stehen.

 

In der heutigen bürgerlichen Gesinnungsweise ist es bis zur materiell-staatlichen Deutlichkeit eingetreten, daß der bürgerlich übergreifende Glaubenssinn durch die neutrale Objektfertigkeit und die religiös übergreifende Rechtfertigung durch die Reservate von Konfessionen ersetzt wird. Diese beiden Gegenbestände, zum praktischen Gebrauche konstitutionell zusammengeschweißt, können doch nur einen quantitativen Einfluß ausüben auf die Bewegung oder Festhaltung des allgemeinen Geistes, welcher, je mehr man, der Herkünfte und des Gedankens vom doppelten Schwerte sich entschlagend, in einer zweckmäßigen Erfolgsgemeinschaft unglaublich sich dafür zusammenhängt, um so mehr qualitativ stagniert. Das Individuelle wird nach der radikalen Seite gedrängt.

 

Unsere Himmelsgründung, vom unfaßlichen Zustand zum natürlichen Schein und von da zu ersetzenden Begriffen geführt, hat auch den hohen Beginn der Denk- oder Sinnform und die alles in die große Einzelformung tragende mütterliche Gegenbildung der Erde in ähnlicher Weise verkleinert. Man lebt gewissermaßen zwischen Himmel und Erde nur noch in einer grünenden Zone, in der man die Gemeinformen des Daseins illustriert. Die Kunst kommt noch zu den Dingen als eine Findung durch unzählige Verluste; die aus der inneren Bildhaftigkeit fallenden Reste werden immer allgemeiner. Auch das gedankliche Wirken fällt zwischen den leer verknoteten Begriffen wie durch ein Sieb in den aufenthaltslosen Anblick des Sandes. Der entscheidende Sinn des Beispiels ist aus den sogenannten Ideen, die bloße Zwecke sind, verloren und das Denken geschieht dadurch in eigentlicher Niveaulosigkeit.

 

Wie ist Lebensform möglich? Sinn durch Bilder errungen, Stil und Rede in der Bildhaftigkeit gereinigt, die Begriffe im vorgegebenen Gleichnis zeitlich fruchtbar, lebt die Kreatur aus der Metapher der Geschichte.

 

Dürers „Melancholie“ entsteht, als die Mutter und der Schmerzensmann in zwei Bildungen auseinanderkommen. Nun bildet sich für die brütende Kontemplation die neue Reclusaform unter dem ausgeschlossenen Himmel. Der Sinn der Differenz fällt in das neue Werkgerechte der bloßen und ausschließenden Sichtbarkeit. Das Geschaffene zergliedert sich durch Zahlen und Instrumente. Auch das Wort wird bloße Schrift.

 

Unser heutiger Bestand lebt in der Verdeutlichungsabsicht und Fertigkeit vor dem Lichte, wo die Geschaffenheit als vom Lichte weggehobenes Zeugnis nicht mehr im Geblüte und dieses als Ausgang gegen den Schatten nicht mehr im Verdienste und Maß der Verwirklichung miterhalten wird. Mit der ähnlichen Mißerkennung des Mittels beginnt auch die haltlose Restauration.

 

Das Ziel des Künstlers in dem gotischen Sinne ist, nicht überlegen zu sein. In dem gotischen Sinne, in dem die Wirklichkeitsverhältnisse weder zeitlich noch räumlich eine gleiche und mittlerisch unbezogene Ordnung halten (durch welche die Vereitelung und Niveaulosigkeit entsteht), die Wirklichkeit vielmehr selber aus dem Sinne in eine Proportion zur Geschaffenheit kommt, ist alles im Übergriffe. Durch die Bilder übergreifen sich die Erkenntnisse, durch die Worte die Bilder. Sinn und Dinge sieht man auch heute, wo eine Hoffnung ist, durch Übergreifung im Mittel nicht mehr sich im Zeichen decken, um sich dadurch um so mehr für die Sinngeburt zu vereinigen. Das Wort der Erlösung geht in den Geist der Differenz durch das Bild der Schöpfung.

 

Das Konservative will die geschichtliche Rekapitulation einer Geborgenheit, aber es hört auf, ein Gleichnis zu bleiben. Es wird dem Nachsinne nichts vorgeboten, das als Zeitgeburt immerfort aus dem Gleichnis träte. Die vaterländischen wie die christlichen Formen begnügen sich mit gewissen Anstandsregelungen.

 

Die stärkste Offenheit ist der stärkste Abschluß. Die Absonderung zur bloß konfessionellen Auswirkung, wo das Religiöse als eine Zutat außerhalb des geschichtlichen Zustandes, dessen große Sinnfigurierung in der Kunst geschaffen wird, erhalten scheint, bringt die aktiven Kräfte der Weltreligion zusamt der bürgerlichen Konkretion zum Verkümmern. Und was ein dauerndes Verhängnis werden will, die Kunst des christlichen Ausdrucks wird ungeprüft vom Wettbewerb eine Angelegenheit, die sich künstlich mit leichter Notwendigkeit weiterträgt. Nach innen treibt man eine Förderung ohne den letztlichen Glauben, nach außen bringt man einen Geist des Defaitismus.

 

In München ist der Zusammentritt der neutral objektiven Bestände mit den christlichen Behalten nach dem Kriege besonders deutlich geworden. Für einen rühmlichen politischen Befestigungswillen muß sich die im geistigen Sinne museale Zurückhaltung und zeitliche Ungläubigkeit besonders schädlich geltend machen. Die Frage eines Bildzutrags aus unserer Zeit in den Bamberger Dom, bei welcher Gelegenheit sich die allgemein ethische, im großen Anwendungswerke unaktive Kunstgeistigkeit und der ähnlich wirkende katholische Defaitismus im gleichen Widerstande zusammenfanden, hat die geistig-künstlerische Lage an einem selten hervorragenden Beispiele beleuchtet.

 

Man glaubt — und gibt sich darin gerne den Vorzug —, praktische Arbeit zu leisten, wenn man die allgemeinen sowie die konfessionellen Bestände ohne durchgekämpfte Tragweite in Parallelisierungen ihrer Notwendigkeit oder tatsächlich ihres gegen höhere Formbesinnungen neutralen Vorhandenseins befördern hilft. In dem konservativeren München noch mehr als im übrigen Deutschland ist die augenblickliche geistige und geistig-politische Meinung ganz dafür eingestellt. Der Verbund der beiden Parallelen ohne eigentliche Konkretion wird ebenso wieder auseinanderfallen.

 

Die Untersuchung der christlichen Brauchbarkeit oder das Bedachtsein auf Mittun in einem „objektiven“ und sohin immer vorerst ethisch angenommenen Mittelgrunde — was zum Gegenteil von der eigentlichen Mittlerschaft geworden ist — stört den Sinn der wirklichen Geschehensmöglichkeit, eben diesen Sinn der kontemplativen Ohnmacht, die als eigentlichste Tatkraft im Mutterschaftlichen das Geistschaftliche zur großen Anwendung bringt.

 

Wie der Absolutismus der Vernunft und ihre unzerschnittene Apriorität das erblindete Handeln zum neutralen Schaffen leitet, so ist auch die christliche Meinung, während sie einerseits auf die bloß theoretische Mitklärung bedacht bleiben will, anderseits in eine gleichlaufende Parallele der ermatteten Praktik mit konfessionellen Retardierungen und in ein gleiches Schicksal der Zerstreuung und figürlichen Sinnverlorenheit hineingegangen.

 

Es erscheint als das eigentümliche Schicksal des Menschlichen, daß es, um an einem einheitlichen Sinne eine vermeinte Sättigung zu bekommen, zwischen Bild und Wort die geschichtliche Bindung aufheben will. Zwischen Bild und Wort ist sein fortwährender Hingang; in dessen Mitte seine unerreichbare Sättigung.