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Konrad Weiß: Wanderer in den Zeiten

Süddeutsche Reisebilder

Bamberger Bilder

Heute besucht man die Stätten des alten Deutschland wie auf der Suche nach den verlorenen Inkarnationen unseres deutschen Grundwesens. Die alten Städte — man kann diese Neigung in unseren heutigen Tagen wohl und wiederholt beobachten und mit Hinweisen belegen — wollen zu uns sprechen als Formzentren geistiger Wesenheiten, nicht mehr bloß als malerische Winkel und volkstümliche Restidyllen, wie noch etwa in der letzten Generation. Auch die künstlerische Schilderung begnügt sich nicht mehr mit einem gefälligen malerischen Abhub, sondern sie möchte in die wesenhafte Struktur eindringen, welche ein ebenso durchsichtiger wie verborgener Geist der Geschichte auferbaut hat. Noch mehr als die spätere Gotik, welche das zeitlich-geistige Wohnwerk der Menschheit in ihre Bilder hineingepflanzt hat, möchte sich ein heutiges Gefühl in Plan und Existenz der Dinge hineinversetzen, von deren tieferer Wirklichkeit unser bloß praktisches Dasein kaum mehr Besitz ergreifen kann. Ist es eine bloße Nachromantik, die in diesem Bestreben steckt, daß wir in dem Augenblick, da wir ganz voraussetzungslos geworden scheinen, um so mehr zu den Wurzeln unserer Herkunft und Bedingtheit zurückfühlen? Wie jene geistig herrlichen Skulpturen Adam und Eva im Osten des Bamberger Doms, weil sie von Sonne und Wetter durch lange Zeiten angewittert sind, für uns in der Erinnerung ein um so angezehrteres Leben bekommen haben, so treten uns die größten der alten Städte, angezehrt von der Zeitenwitterung, um so heischender nach Leben in den Geist. Sie verlangen ein Gefühl, das jede Gegenwart überflügelt.

Bamberg, diese Stadt voll wechselnder und doch mit der Einheit einer stillen Kraft zusammengelegter Bilder, hat, wenn eine, das Geheimnis wahrer städtischer Schönheit, das sich nicht repräsentieren will, sondern ganz und vor allem in der Schönheit gewachsener geistiger Proportionen liegt. Eine schöne Lage, von Hügeln zur weiten Niederung über Flußarme greifend, anschaubar mit der Klarheit von Himmelsrichtungen, in denen die Kirchen ihren Ostsinn unvergeßlich im Stadtbild aufstellen, kam dem zuvor. Aber dann spricht alle weitere Schönheit aus dem künstlerischen Siedlungswerk, aus dem Artefakt der Zeiten selber.

Eben noch fährt man heran durch die abgeernteten Fruchtfelder, welche die Farbe von Gartenerde und die Reste von starken Herbstfarben haben. Die gestuften Silhouetten der Altenburg und der Domstadt heben sich aus dem milchigen Dunst, überschienen von Lichtstrahlen aus einem wolkendunstigen Himmel, wie er sich schwer in seiner atmosphärischen Erscheinung darstellen läßt und wie ihn etwa Hans Thoma gerne gemalt hat. Die Landschaft entläßt uns in die Stadt; aber sie geht mit hinein und das erste Viertel zeigt seine Bewohner in der erdgewohnten Schlichtheit des tätigen Lebens; Scheunen und Durchgänge voll von Feldfrüchten und farbigem Obst; der große Verkehr ist gebrochen und der rührige Ernst der ländlichen Fuhrwerke mischt sich dazwischen und tritt an seine Stelle. Man sieht in die offenen Gesichter einer unverkennbaren Rasse und horcht auf die beweglich verfeinerten Laute der fränkischen Sprache. Es sind die Leute, die hier an den Sonntagen noch alle Kirchen füllen und damit jenen natürlichen Wechsel zwischen Arbeit und Ruhe in ihrem Leben haben, der auch über dem äußeren Stadtbilde Bambergs lagert. Man trifft auf den friedlichen Bezirk des Klösterchens zum heiligen Grabe, neu im Innern gerichtet in der schönen Aufgeräumtheit des Gotischen. Ein alter Bilderzyklus erzählt von einem Gottesräuber und bringt Erntefelder durch das Wunder seiner Entdeckung mit dem geistlichen Sinne zusammen. Man kommt zu der Doppeltürmigkeit von Sankt Gangolf voll romanischen Hauches, fühlt die schwärzliche Witterung der Steine wie eine Rustika der Farben und empfindet von dieser geistigen Aufgehobenheit der Formen in der Witterung der Geschichte die ganze Verwandtschaft und gegensätzliche Spannung zur Ackererde, diese herbe geistige Farbempfindung, die uns in ganz Bamberg nicht mehr verläßt und die in dem Dome ihren größten Auf- und Abklang hat.

Indem man sich durch Teile geöffneteren, technisch sichtbareren neuen Lebens der Mitte der Stadt nähert, kommt man zu Sankt Martin mit dem populären Wahrzeichen des »Gabelmann« auf dem Neptunsbrunnen. Hier ist zwischen Mittelalter und Barock der Zusammenstoß, in natürlicher Lage wie architektonischer Aufrichtung die ähnliche Enge und Weite, Krümmung und Fortsetzung, eins im andern begriffen und aufgeführt. Es ist das geschichtliche Grundverhältnis im Bamberger Stadtbilde, kernhaft ins bürgerliche Dasein gelegt, das sich auf den jenseitigen Höhen ins Geistliche und ins repräsentativ Monumentale steigert. Da ist mit den Brücken über die Pegnitz die so künstliche wie selbstverständliche Dominante des Rathauses, diese ganz im Blicke faßbare, mit dem spielenden Ernst der Balkone ornamentierte Schönheit eines Baues, der wie eine Waage im Mittel der Stadt schwebt und ankert. Man sieht rechts und links die Mühlen, den Kranen und die Speicher und Lauben der Flußhäuser, weiter die Frachtkähne des Flußverkehrs und in allem einen Komplex von bildnerischer Lebendigkeit. Aber man wird sich bewußt, daß dies nicht im üblichen Sinne malerisch ist. Es ist ein strengeres Daseinsgesetz in schwereren Proportionen, das auch die spätbarocken Skulpturen auf diesen Brücken nicht auflockern wollen, sondern betonen. Man kommt hier dem Gewicht des Steines, der In-sich-Gehaltenheit eines geistigen Gesetzes näher, das Selbständigkeit neben Selbständigkeit setzt und das man nun auf die geschichtliche Eigenart des fränkischen Charakters ausdeuten könnte. Es ist nicht mehr das einfachere Gefühl der Ackerscholle, sondern das Gefühl steigt in die zwingenderen Formen der genauen Geschichte, die ihren Kern aus dem Geiste hat; und hier jedenfalls ist es auch die Begegnung zwischen dem weltlichen und geistlichen Leben. Jenseits, vorbei an einem gewesenen Kloster, geht es in steilen Lagern zu Heinrichs und Kunigundes fruchtbarer Urzelle, der künstlerischen Stadt, zu jener zweiten abseitigeren, aber größeren Waage, welche von Dom und Residenz flankiert ist. Und im Hintergrund blicken die Liebfrauenkirche mit Sankt Stephan und die Bauten des Michaelsberges seit Alters ins weite Land hinaus. Kirchen, Kapellen und geistliche Höfe füllen die Räume und steile Mauern um die mächtige Mitte erhärten die Erinnerung an den Namen Roms. Man möchte immer wieder zum erstenmal durch diese Stadt und besonders durch diese Hauptviertel gehen, wozu noch das Quartier um die Märkte und die Bildungsstätten um den Maximiliansplatz, schließlich die Bauten großer Bürgerkultur gehören, um immer wieder die erste Frische der Eindrücke und der Gedanken zu erfahren. Diese Stadt schenkt dem empfänglichen Sinne überreichlich und man möchte kein Geschenk zur Gewohnheit werden lassen. Aber auch dies noch, ein ruhiger Gang zu dem unvergeßlichen, statischen Eindruck der Konkordia, zu den Parken und zwischen den Gärten, gehört zu dem wechselsinnig beharrlichen Bilde dieser Stadt.

Als ich von einem langen Gespräche mit dem Bamberger Weihbischof Adam Senger, dem unermüdlichen Betreuer des Bamberger Doms, aus Balthasar Neumanns Kapitelhaus herunterkam, war schon das Abenddunkel herangekommen. Im Dome war die sinnschwere Farbigkeit des neuen Apsisbildes von Karl Caspar, für das sich der Weihbischof so tapfer und, wie man jetzt immer mehr einsieht, erfolgreich eingesetzt hat, in Dunkel gefallen. Am Nachmittag war mit der hereingekommenen Sonne der Eindruck der gemalten göttlichen Gestalt wunderbar und feierlich zwischen Last und Entlastung in der Waage gewesen. Der Bamberger Reiter schien an der Seite des Chores gegenüber der romanischen Strenge des Ortes wie eine schon in ihm begonnene gotische Lyrik in den Lichtstrahl getreten. Jetzt schwieg alles in seinen zunehmenden Schatten. Die Figuren vom Adamsportal und Fürstenportal rückten in den nächtlichen Eindruck eines geheimeren Lebens, und über dem weiten, in große gemauerte Blickfluchten gelegten Domplatz waren die starken Schläge der Aveglocke verhallt. Es war, als wollten die steingefügten Grenzen des Platzes, die der hohe Pavillon des Residenzplatzes jählings wie eine ungeheure Steinzinne gen Himmel reißt, noch weiter tönen, und die Schluchten der Gassen nach oben und nach abwärts waren wie Gruftgänge und wie ein nachhallendes Echo. Der weite, schräg im mächtigen Winkel herumgreifende Platz war einsam und der Eindruck war so, daß, je mehr sich das Gewicht des Steines und der Formen in der nachtenden Schattung verlor, desto mehr sich dieses Gewicht ins Gemüt geben wollte. Die Steine des Domes, der alten Hofhaltung und der neuen Residenz, die am Tage an jedem Bau eine verschiedene Sprache reden, am Dom die Sprache der ewigeren Gelassenheit, an dem alten Hofe die profilierte, schmuckvolle Sprache der Renaissance, an dem Barockpalast eine aus kleineren Ordnungen gefügte, prunkendere und gleichsam blendendere Sprache, diese Steine rückten in die nächtliche Stummheit. Nur die großen Proportionen der Massen wurden deutlich, jene Proportionen der Räume und Körper, die durch die offenen Lücken dazwischen zustandekommen und welche, gerade für diesen Platz charakteristisch, gerade dieses Gefühl einer gewaltigen Waage erregen. Der einsam über den Platz Gehende verliert sich aus dem Zwielicht ins Dunkle und die Erde ist wie im Verschwinden gegen diese gedrungene Raumweite.

Wieder zu den nun auch nächtlichen Teilen der Stadt herabgekommen, zu den tiefen Dunkelheiten der Umrisse, den widerspielenden Lichtern im Finstern der Flußläufe, wieder in diesem Komplex von Aufbruch und Geschlossenheit, empfindet man das Ähnliche der Lücken und der Waage, diese geistige Wirkung des von der Natur gegebenen und bebauten Niveaus, dieses ganze Proportionsverhältnis, das ein natürliches und ein geistiges zugleich ist. Proportionen der Vertikale und der Horizontale, in kleinen und in großen Verhältnissen von Natur gegeben und jeweils zur stärksten verhältnismäßigen Wirkung ausgebaut, profiliert im kräftigsten Maße und doch nicht überladen, ruhig in der Bewegung und bewegt in ruhenden Gegensätzen, dieser immer wieder gleiche Formenklang gehört zu dem eigentlichen Charakter dieses Stadtbildes. Er setzt sich ausgewogen fort in der gärtnerischen Waage des Prellhauses wie in der mächtigen Terrasse des Michaelsberges. Dieses Formgesetz ist nicht malerisch; in ihm möchte man wieder das Gesetz des fränkischen Charakters deuten. Das Barock ruht dabei auf der Waage des Mittelalters.

Oder man bedenkt dann einfach wieder den Bausinn geschichtlicher Ideen, der sich in diesem Gemeinwesen unverfälscht erhalten hat. Man sieht die hoch herkommende Lage der oberen Pfarrkirche, diesen Ansprung eines Baues aus der Geraden. Sie ist in die Flanke der Stadt hineingesprengt wie eine mittelalterliche Fortifikation, und der Chorbau mit seinen Streben ist wie eine hohe Krone, deren Bügel in ihrer Hauptspitze nochmals einen Chor in die Höhe tragen. Oder schließlich geht man in einem anderen Abendzwielicht durch den Bezirk der Domherrenhöfe mit und hinter der Residenz des Erzbischofs, eine Priesterstadt von einer Stille und unfaßlichen Gelassenheit des Eindrucks. Wappen und Kapellen, breite, gotische Tore, Fachwerkaufbauten mit der Verschlossenheit langer Horizontalen, Mauern, die einer Straße Raum machen und was hinter ihnen ist, wie in eine Klausur zurückschließen; ein Weg von schmiegender Freiheit und das Gefühl von Gärten und Zellen, aber alles nicht kleinlich, sondern mit der Weite des geschichtlich Gewordenen; — man kann diesen gewissermaßen lautlosen und doch so beständigen Abendeindruck nicht definieren. Oder man besucht den baulichen Zeitgenossen von Kaiser Heinrichs Dombau, den Michaelsberg mit seinen barocken Ausbauten. Der Dom und die Altenburg blicken herüber. Die herbstlichen Bäume entblättern sich und stehen wie große Kandelaber; sie gehen in verschiedener Richtung und doch gibt alles zusammen mit Terrassen und Balustraden einen großen Gang der Ruhe. Fluchten der Mauern im Rücken und ihre Risalite sind wie ein großes sicheres Körpergefühl. Die Landschaft schreitet gewissermaßen von allen Seiten herauf zu dieser Ruhe. Der Sinn sucht keine Maßstäbe des Geistes mehr, sondern man überblickt einfach das Gärtnerische und das Architektonische dieser Stadt mit seiner gleichmäßigen Beständigkeit, so wie es notwendig und einmal vorhanden ist.

Regensburg, Nürnberg, Bamberg; die erste Stadt, die auf einem römischen Lager steht und bei der sich mit der Gelassenheit der Geschichte alles, ohne sich zu zentrieren, mit einer gleichen Teilhaftigkeit ordnet und findet. Die andere Stadt, in welcher unter der Burg der Mensch sich in den Ausdruck seiner selbstmächtigen Persönlichkeit bürgerlich zusammengeordnet heranbildet. Die dritte Stadt, Bamberg, ist wie eine Waage zwischen den zwei Zeiten der deutschen Geschichte, zwischen dem Gesetzten und dem Lebendigen. Welchen Besitz hat ein Land mit solchen Städten!

[Bamberg, Neue Residenz und Michelsberg]

[Bamberg, Regnitzufer]

Bamberg, die fränkische Domstadt

Das Mittelalter baut sich und wölbt sich und ruht heute noch mit den königlichen Maßen seines geistlichen Lebens auf den Gründen einer ritterlichen und kaiserlichen Geschichte. Klöster schieben sich als feste Bezirke dazwischen und bauen aber in der wetteifernden Großsinnigkeit mit. Bis der bürgerliche Geist erwacht, sind die großen Formate alle schon gegeben und angelegt; er kann sie nur in der engeren Nähe steigern und füllen durch eine ausweitende Gemeinsamkeit. Aber die gewissen Grundlagen sind immer noch unverrückbar eingezeichnet. So steht Bamberg, die Stadt, die mit ihren Hügeln gerne das fränkische Rom genannt wird, im Lande.

Eine Burg verwandelt sich in einen geistlichen Besitz; Kaiser Heinrich II. gründet den romanischen Dom, ein Werk, das heute noch seinem Orte eine geschichtliche Weihe und Feiung gibt wie nur irgendwo; auf dem Michaelsberg zur Seite erwächst gleichzeitig die Anlage mächtiger Klosterbauten. Weitere Plätze und Hügel krönen sich, alle ostwärts gerichtet in einer seltenen landschaftlichen Schönheit ihrer Parallelen, mit Kirchen; die Stadt sammelt sich im rhythmischen Gefälle abwärts und siedelt sich an in wohlverteilten, teilweise einzigartigen Mauerwerken zwischen den Flußarmen der Pegnitz bis hinaus zum flachen Tal eines Bauern- und Gärtnerlandes, das um die mit dem Dome gleichalterige steingraue Kirche von Sankt Gangolf sich noch einmal sammelt. Über allen Höhen aber hat noch die Altenburg als eine uralte Wachtstätte ihren resthaften Bestand. Dieses rhythmische Gefälle erlebt bis zu einem gewissen Grade schon der Besucher, wenn er mit dem Zuge von Norden oder von Süden kommt. Ohne noch mit dem Blick ins Innere dringen zu können, erblickt er die Altenburg, sieht dann die zwei Helme des Michaelsberges, dann im Zickzack weiter herab die vier Helme der Domtürme — vielleicht daß eben auch noch durch die Steintabernakel der Türme die Sonne in Lichtspalten gefiltert wird und das ganze viertürmige Werk über dem Gewirr der Dächer zwischen Stein und Erde erhaben blickt —; er erkannte vielleicht den Saum der betürmten Hügelfront, und während die Stadt in der Ebene gegen ihn herausschreitet, bekommt er die Vorahnung ihrer so natürlichen wie kunstvoll ins Geistige und Geschichtliche erhöhten Maße.

In diesem ersten Anblick Bambergs ist eine zugleich ernste und frohe Lebendigkeit. Es ist wohl etwas von den tieferen Stimmungskräften des fränkischen Wesens, das sich zusammenschart und doch einzeln bleibt und über der fruchtbaren Erde hier überall in der weiten Runde ernstvornehme Bilder der Zeiten in gebauten Denkmälern wie Burgen erzeugt hat. In dem Anblick der Türme, besonders des Geviertes von spitzen Helmen, die über den vier Domtürmen, vom achtzehnten Jahrhundert aufgesetzt, wie in einem luftigen Felde stehen, ist auch ein Gefühl wie von Lanzen, Wimpeln und Zelten, etwas aus dem Ritterlichen in die Luft des achtzehnten Jahrhunderts Übersetztes, kirchlich Lagerhaftes und militärisch Festliches. Man kann die steinerne Sprache des Barock und eines leiseren, aber souverän vornehmen Rokoko ahnen, die sich dann um das romanische Kernwerk bis herab zu dem einzigartigen, inselhaften Rathaus zwischen den Flußarmen auftut. Man kann vorausdenken an den so vornehmen und doch zum Teil sibyllenhaften Eindruck, den die steinernen Domskulpturen wieder machen werden, wie sie immer noch etwas rätselhaft und doch als Wahrzeichen des großen dreizehnten Jahrhunderts an ihren Orten stehen, darunter der immer noch unbekannte fürstliche Reiter. Nie ist die Rasse ihrer selbst so bewußt geworden wie damals und doch kommt ihr Formsinn nicht von der Natur her, sondern steht unter einem ewigen Gesetze, das man seitdem nicht mehr kennt. Bamberg selber aber erscheint in allen seinen alten Verkörperungen ausgewogen in einem starken, und doch nirgends überlasteten, sondern sonderbar gerechten Maße. Für die Erde des fränkischen Landes und unter dem weit darüber gezogenen Himmel ist diese Stadt wie ein Horizont und eine Mitte. Bauerntum und Bildung sind hier heute noch vereinigt durch jenes Dritte einer Exklusivität gegen alles bloß menschlich Zweckhafte und Rationale, wie sie nur und immer wieder in der kirchlichen Geschichte geschaffen worden ist. Das Stadtbild Bamberg fesselt jeden Besucher durch seine rhythmisch wechselnde Offenheit; und doch kann dieses geistige Existenzbild bei jedem Besuche gerade durch die scheinbare Natürlichkeit seiner geistigeren Maße jedesmal von neuem befremden; so wie auch der Dom in allen Maßen offen liegt und in seiner Natürlichkeit eine unbegreifliche Hieratik zur Schau trägt.

[Bamberg, Dom und Kanzleibau der Alten Hofhaltung]

[Bamberg, Dom, gegen den Georgenchor]

Nochmals verschaffen wir uns, nach Durchquerung der Stadt, von der Höhe der Altenburg herab dieses rhythmische Maß eines zeithaften Gefälles und respondierenden Widerganges der Kulturformen bis in das Zivilisatorische der Ebene hinab, und dann in die weiten Garten- und Feldergebreite hinaus, die sich in den Bedürfnissen eines stetigen und arbeitsamen Lebens bis zu den jenseitigen Bergen hinüberfächern. Rings um die Altenburg und um die unter ihr in der Flanke versammelte Stadt gehen diese ausgebreiteten und ausgefächerten Felder, mit Dörfern und Obstbaumstücken und kleinen blitzenden Spiegeln von Teichen und mit Flußläufen dazwischen innerhalb eines weiten, von lauter Höhenzügen in seltener Schönheit gerundeten Horizontes, der über alle Unterbrechungen hinwegschwingt. Das Land wird unter dem blauen, von weißen Windwolken überfluteten Himmel zu dem bildhaften Begriff einer erntevollen Windrose. Dabei scheint alles Menschliche durch die freie Höhe des Ausblicks entfernt und nur der Wind scheint zu sprechen, die Himmelsräume scheinen in einem gewitterigen Kampfe ihrer geviertelten Wölbungen zu stehen und in einem eigentümlichen hellen Zwielichte auf der weiten Höhe bekommen die mit restaurativer Romantik gepaarten alten Burgsteine ein romantisches Leben. Eine starke Blutbuche rieselt mit ihren dichten Blättern zwischen Rot und Grün im Winde, und wir denken durch sie an die tragischen Dinge der Geschichte. Hier ist eines Abends, als er sich zum Schlafen legen wollte, der Hohenstaufe Philipp von dem Pfalzgrafen Otto von Wittelsbach ermordet worden. Es war zur Zeit des dritten, nach den zwei Dombränden endgültigen Dombaues in seiner heutigen Gestalt, die über sieben Jahrhunderte alt unter uns liegt. Und fünfzig und etliche Jahre früher, zur Zeit als der Dom noch in seinem zweiten Baue stand, ist in Bamberg, matt von Kämpfen, Kreuzzug und Krankheit, der Hohenstaufe Konrad III. gestorben; jener Hohenstaufe, auf dessen Kämpfe zum erstenmal der die folgende Geschichte weithin bestimmende mittelalterliche Kampfruf »Hie Welf, hie Waibling« zurückgeführt wird und dessen Name neben anderen auch dem Bamberger Reiter gegeben wurde. Der Dom aber ist in seinen Grundrissen ein Heinrichsbau geblieben, eine Gründung des Kaisers Heinrich II., dessen Gestalt mit seiner Gemahlin Kunigunde unter den edlen Skulpturen am Adamsportal steht und zu dessen Ehre auch die Spätgotik durch Tilman Riemenschneiders figurenreich reliefierte Tumba ihren Beitrag in den Dom geleistet hat. Man blickt auf die Stadt mit ihrem Wechsel von schweren Baukörpern und leichtem Dächerwerk hinab, ein Wechsel, der etwas Analoges hat mit dem Wechsel der Berge, der Einsenkungen und der Ebene; und während man das reiche Bild bedenkt, wie die Hügel bald mit den Osthäuptern der Kirchen selber, mit der apsidialen Stirne wie der Dom, mit dem monumentalen Filigran des Chores der gotischen Liebfrauenkirche, oder mit Mauern und Terrassen über die Stadt treten, bleibt der Blick wieder in dem luftigen Felde der Domtürme haften. Es sind nicht mehr die alten Turmhelme; sie zeigen den Mangel einer viel späteren, nicht mehr so gedrungenen, nicht mehr in der schweren Gedrungenheit so kontrastreichen Form. Sie dienen mehr einer einsinnigen Aufrichtung; sie wirken mehr in die Weite. Die pyramiden- und kegelförmigen alten romanischen Turmendungen sieht man auf einem Relief im Gewände des schönen Renaissancebaues der Alten Hofhaltung überliefert. Sie schließen die Kraft der Bauform zusammen, gewissermaßen ohne ihr ein Ende zu geben.

So kommt man wieder auf die geheimen Sinne der mittelalterlichen Kunst. Die mittelalterlichen Formen wirken nicht eigentlich in der Weite, sondern in der Nähe, nicht nach außen, sondern nach innen. Unser Blick, der hier auf der Höhe eines Berges ins Weite gestoßen ist, ziellos und unbegrenzt bis zum Horizonte, der davon gewissermaßen einsinnig und fassungslos und sehnend wird ohne ein Wollen, ist anders als ein Blick für die Kunstdinge des Mittelalters. Es ist ein Naturblick und das, was die mittelalterliche Kunstform von uns will, ist, wenn man so sagen darf, mehr als bei anderen Kunstzeiten ein Kunstblick. Dieser Blick ist gewissermaßen nicht fassungslos sehnend, sondern in den bestimmtesten Grenzen brennend. Er ist in seinen kleinen Maßen das, was das Gehäuse des Domes im großen ist: durch die bestimmtesten körperhaftesten Grenzen ein unbegrenzbares inneres Mehr-Wollen. Die Apsis des Ostens, in ihrer so stark gespannten Rundung, ist ein eingefangenes »Ja« des Raumes; die Wölbungen wälzen es im Inneren über dem zeithaft unbehaltbaren Raume fort, und der Westchor ist der auffangende Widerhall. Die gestuften Längsgewände sind hier in stärksten Graden, was sie dann in der Gotik im einzelnen verdeutlichter geworden sind, für dieses innere Geschehen nur eine gemauerte Schale. Dieses Gewände trennt ab, aber es schließt nicht repräsentativ aus. Es ruft alles Weite auf seine gebrochenen Stufungen heran und saugt es in seine Portale.

Am Abend besonders hat der Dom von der Seite des Karolinenplatzes, während der prächtige Bau der Alten Hofhaltung mit ihrem steinernen Schmuck und die Neue Residenz mit ihrer fränkisch-barocken Liniengröße in Ruhe lagern, eine ziehende Macht. Es ist noch etwas anderes an ihm als die positiven und objektiv fertigen Kräfte jener anderen Bauten. Und indem man da und dort wie eingesprengt in Mauerwerke noch eine mittelalterliche Kapellenform erblickt oder dieses und jenes heraldische oder figürliche Zeichen des Alters und eines alten Sinnes, erhebt sich der wache Geist einer anderen Zeit, für welchen Tag und Nacht nicht bloß natürliche Trennungen sind, sondern die ineinandergreifenden Grenzen eines tieferen Lebens. Lebensräume öffnen sich wie Schachte und am Figürlichen wird alles Bewußtsein zugleich dunkler und heller. So scheint uns etwas vom Urgefühl mittelalterlicher Skulptur deutlich zu werden, von dem her die berühmten Figuren an diesen Domportalen und im Innern der linken Chorseite, sowie die heftigeren, sich diskutierend befreienden Doppelgestalten in den Chorschranken schon in das hellere, bereinigtere Licht des weiteren Mittelalters getreten sind. Und so scheint uns auch etwas von der kontemplativen Ruhe fortzubegleiten, die auf diesem Domberg lagert.

Der frühere Morgen in der ländlich-bürgerlichen Stadt der Ebene erlebt sich am schönsten am Grünen Markt, wo der barocke »Gabelmann« steht, wo die barocke Martinskirche, ein ausgezeichneter Vergleichspunkt für barocke Kirchen Frankens, ihren Platz hat und ständig von Gläubigen besucht ist, wo dann die Nähe des einfachen Lebens gespürt wird, das am Maximiliansplatz die vielfarbigen, vielfruchtigen Erzeugnisse seiner einfachen Tagesarbeit zum Verkauf bringt. Man sieht dann die Stadtbilder an der Pegnitz, die malerischen Uferbauten nach Norden, die Mühlwerke und die merkwürdig stilvoll und im engen Raume groß vornehme Partie bei der »Concordia« nach Süden. Nicht leicht, daß eine Stadt ihren Fluß so situationsreich vorgefunden und so kunst- und natursinnig sich zu eigen gemacht hat. Die Krone und das schönste Zeugnis dafür ist das berühmte Rathaus, ein Bild von einer eigentümlichen Freiheit und auch bei allem Verkehr nicht vernichtbaren Zeitlosigkeit einer städtischen Situation. Bamberg ist, wie schon früher gesagt, eine merkwürdig ausgewogene Stadt. Es hat die Naturgegebenheiten in bestem Sinne künstlerisch besetzt, und die Situationen sind jetzt so, daß sie jeweils eine Einmaligkeit haben, welche Veränderungen nicht mehr zuläßt. Es hat zu seinem frühen Mittelalter eine beschränkte aber charakteristisch schöne Gotik, eine ebensolche profane Renaissance und dann das starke fränkische Barock der Dientzenhofer und des Balthasar Neumann. Man müßte noch vieles anmerken und, indem man von der Terrasse des Michaelsberges wieder das Nahe und Weite zusammensieht, wieder auf jenes dieser Stadt eigene Maß von Lebenssinn zurückkommen, das zwischen Großem und Kleinem eine eigentümliche Waage bildet. Andere Städte sind im Alterssinne noch größer oder als Schaubilder noch festlicher. Aber Bamberg hat etwas Richtiges, eine Art iustitia, die man nicht so leicht definieren kann und wie sie mit einer gewissen Zeitlosigkeit in seinem deutschen Heinrichsdome steckt.

[Bamberg, Kanzleibau der Alten Hofhaltung]

[Bamberg, Dom, Grabplatte des Kaisergrabes von Riemenschneider]

Bamberger Tage

Vorausgehende Landschaft

Wenn man in diesen Anfangstagen des Dezember in das Land hinausfuhr, von München durch das Altmühltal nach Bamberg, so sah es aus, als ob das Land überall in den letzten Wochen keine Änderung seines natürlichen Lebens mehr gehabt hätte. Alles war schweigsam unter der gleichen grauen Bedecktheit des Himmels, die Erde erschien auf den Feldern, Wegen und über die Ortschaften hinweg weiß bereift, in einem Hauche, der durch jeden wärmeren Atem aus dem aufgehenden Himmel tauend und farbig werden konnte, der aber wie eine vor Wochen, ja Monaten hingeregnete Asche die unbeweglichen Dinge noch unbeweglicher machte. Wenn man Farbe suchte, fand man da und dort das Grünspanige der Saatfelder, die der Reif streng und unwirsch machte, oder dann das laubig Gebräunte von Baumstellen zwischen den Nadelbäumen in den Wäldern, das wie eine Ansammlung von Wärme erschien, und wo auch der Reif, wie man deutlich sah, wenn ein solcher Laubrand vom Wald her dem Geleise nahe kam, keinen rechten Zutritt hatte.

Außerhalb aber war das späte Laub in diesem Jahre nicht vom Sturm geschüttelt, sondern langsam mit jedem Tage mehr verkommen, und was noch klein und verkümmert etwa im Nebeldunste hing, vermehrte den Anblick der Stille. Sah man dann plötzlich eine Wagenspur auf der bereiften Straße oder der nur dichter gleichbereiften Wiese, so war das wie ein gesprochener Laut, indem es Beweis gab, daß man sich doch im Tun des täglichen Lebens befand, das in seiner Regel geht, auch wenn die Jahresregel tot gelaufen scheint. Ein lebendiges Zeichen übrigens fiel gesondert auf, die strähnigen, gelb in die Länge gekämmten Uferborde, die erkennen ließen, daß vor einiger Zeit hier überall Überschwemmung gewesen war. Aber auch die strähnigen Uferborde waren geeignet, den Anblick der harten Unbewegtheit der noch unbeschneiten Landschaft, über der einigemale große Krähenscharen schwingend flogen, zu vermehren. Was jedoch außerdem noch dem Blick entgegenkam, und zwar mehr dann dem inneren als dem äußeren, das war in dieser Gleichförmigkeit der Eindruck von Steinen, von den Felsen im Altmühltal und dann weiter im Fränkischen von den einfachen Sandsteinhäusern, welche dort sich auch in den Bauernorten befinden. Der Sandsteinblick hat etwas merkwürdig Ernstes; es ist etwas vom Grundgefühl des romanischen Stils mit seinem Mangel und Widerspiel in der Farbe, das dann in Bamberg immer wiederkehrte.

Nachteindruck im Dominnern

Die meisten kennen den Bamberger Dom wohl nur als Besucher im schönen Tageslicht. Ein solcher Besucher kann wohl nicht ganz leicht das andere Erlebnis zuerst des Innern in sich aufwecken, das man hat, wenn man nach stundenlangem Aufenthalt in der ganz hereingesunkenen Nacht zu höchst bei dem Scheitelstein der Halbkuppel stehend, Stirn an Stirn mit diesem nun nach Westen fort die Bogen und Rippen in gleicher Höhe mit den eigenen Augen als ein in seiner Festigkeit unergründbares und deshalb fast schreckliches steinernes Gerippe aus der Wölbung heraustreten sieht. Man kommt, obgleich diese in-sich-drehende und sich-befreiende Aufstehung der Glieder raumeinwärts geschieht, doch zu dem Gleichnis von der Auferstehung aus einer Gruft. Man hat die Krypta als das Symbol der christlichen Grabstätte, die im Kirchenraum auferstehend fruchtbar wird, und das hohe Gerüst, das gegenwärtig in der Chorapsis zur Halbkugel hinaufgeführt ist, im unkenntlichen Dunkel unter sich und erlebt nun eigentlich den Sinn des Baues, der wie eine schwere und welthaft kühne Auferstehung aus der Krypta ist, die sich Joch an Joch ohne räumliche Zentrierungsabsicht fortsetzt. Das steinerne Leben des Mittelalters schließt sich aus der Verschlossenheit nach innen auf, indem es sich zugleich nach außen immer mehr dem Lichte öffnet; und es tritt damit, wenn man so sagen darf, in seinen bestimmungsmäßigen, geschichtlichen Zufall oder in sein formhaftes Akzidens. Das aktive Leben einer gegliederten Auferstehung ist wichtiger als ein begriffliches Raumdasein, und hierin liegt wohl der erste Sinn der mittelalterlichen Kunst.

Jedoch um wieder auf diesen hohen Stand bei dem leise gotisch geknickten Scheitelsteine in der Nacht zu kommen, so wird man glauben, daß die hohe und schwebende Farbigkeit des in der Halbkuppel neu geschaffenen Fresko, noch wärmer leuchtend im wenigen elektrischen Lichte, ein so gutes und sicheres Gefühl des sinngemäßen Daseins gab, wenn man sich danach umwandte, als eben die Farbe das eigentliche, heimliche und große pulsende Leben der Kunst ist. Der Sinn der steinernen, zwischen Dunkel und Erscheinung verlorenen Gruft war irgendwie gelöst und so gab schon das natürliche Erlebnis etwas von dem Begriff, der hier bildlich ausgeführt wurde, von der Idee des mit den ausgebreiteten Armen thronenden Christus, der, von Karl Caspar neu geschaffen, aus dem östlichen Kuppelfeld heraus zu sich das Leben weckt.

Vor dem Domplatz

So oft man auf der gegen den Domberg hin gekrümmten, steil zu ihm auf seiner abschüssigen Flanke aufsteigenden Straße hinaufgeht, wird man von dem gleichen architektonischen Anblick wie von einer Ausrufung gefesselt. Es geschieht schon, bevor das Pflaster der Straße sich zu dem weiter in der Schrägung aufsteigenden, großen Platzraume ausbreitet, welcher Karolinenplatz heißt, und dessen linken Teil nach rückwärts der Dom einnimmt, dessen rechte Seite aber mit gewaltiger rechtwinkliger Anlage die Neue Residenz umrahmt und besetzt hält. Von diesem Gebäude ist es der auf mächtigem, steilschrägem Sockel in die unnachahmlich orthaft aus dem Boden gehobene Lotrechte eines turmartigen Baukörpers herausgestellte Frontkopf, der gewissermaßen das Gewicht des Gebäudes aus dem Winkel bis hierher verlegt. Der Blick gleitet an den beiden Kanten des Baukörpers hinauf, er bleibt dabei wie ausgeschlossen von der materiellen Schwere und wird in die gestaltlose Freiheit der Luft, des Ausgegrenzten und Unbegrenzbaren verwiesen. Es ist ein selten typischer Barockeindruck, die exklusive Wirkung von Kanten gegen Räume, das Unterwerfen des Lokalen unter ein Geometrisches, die dabei an Obelisken erinnernde, aber in der räumlichen Ganzform ursprünglichere Bejahung eines Platzes, die Überbietung einer abschüssigen Kurve oder Höhe durch nochmals eine abstraktere Steilhöhe und also diese doppelte Bejahung in einem Formcharakter. Auch der Anblick des Steines ist dabei mehr durch den Dienst im Formgesetz, aber nicht so sehr als ein Material mit seiner empfindbaren Naturhaftigkeit wirksam.

Das verhält sich nun, wenn man, vollends auf den Platz gegen den Dom heraufkommend, diesen für sich betrachten will und indem man, den gesamten Eindruck des aufgetanen Platzraumes wägend, zurücktritt, bei dem romanischen Dome bis zum Gegenteile anders. Hier ist schon das Steinempfinden nicht so formal, sondern irdischer, materialhafter im mittelalterlichen Sinne, nicht wegen seines höheren Alters, sondern wegen einer direkten Lebensmöglichkeit. Es ist jene Lebensmöglichkeit, die in den Rundbogenfriesen überall ansetzt und die auch zu jener plastischen Fruchtbarkeit des Mittelalters geführt hat, von welcher der Bamberger Dom mit Naumburg die unerreichbaren Beispiele besitzt.

Aber auch seiner Lage nach, mit welcher der Dom in dem Georgenchor nach Osten herantritt, ist das Gefühl des Wägens oder wie er sich selber mit der Erde in der Waage hält, ein ganz anderes. Die geometrische Abstraktion ist nicht antithetisch auf die Erde oder gegen sie gerichtet; sondern die im Widergang mit dem Organischen entstehenden geometrischen Formen greifen in einer inneren und tieferen Wesenheit um sich selber. Die Apsis ist der unsagbare Anhalt und Ausdruck dieser Wesenheit. Der romanische Dom hat gegenüber dem barocken Bau J. L. Dientzenhofers nur eine Bejahung in sich selber, eine einfache und um so wesentlichere.

Man könnte sich noch weiter in ähnliche architektonische Betrachtungen verlieren; aber was hier zu sagen versucht wurde, soll einen anderen Zweck haben. Es soll, wenn man nun in Betrachtung des machtvoll zwischen Dom und Residenz aufgeschlossenen Platzes vertieft ist, diesen ganzen Platz wie selber in einer Waage befindlich erklären. Links ist das Gewicht und die Wesenheit des Domes, rechts das andere architektonische Wesen der Residenz, und in der Mitte im Hintergrund ist der prächtige Renaissancestock der alten Hofhaltung, wie ein Zünglein der Waage und auch so verziert, wie die Renaissance in ihrer neuerwachten Freude an den exakten Wissenschaften ihre Instrumente verzierte. Also steht der ganze Platz in der Waage mit allem, was vom geschichtlichen Alter und mit den Formschriftzügen verschiedener Vergangenheit noch hinzugehört. Aber die beiden Hauptgewichte links und rechts stehen nicht im gleichen Verhältnis; sie haben verschiedene, ja entgegengesetzte geistige Verhältnisse in sich verkörpert, von denen sie ihrerseits wieder ihre quantitativen Verhältnisse empfangen. Und doch bleibt es eine große und gültige geschichtliche Waage.

Diese Betrachtung des Platzes kann man mit einem Einwand zusammenbringen, der auch gegen die neue Ausmalung der Koncha des Ostchors erhoben wurde. Es wurde nämlich eingewendet, daß, da die Figuren der Ausmalung in der Kalotte andere Verhältnisse haben würden als der berühmte Bamberger Reiter, der gerade am linken Pfeiler vor dem Ost- oder Georgenchor seinen Platz hat, ein Mißverhältnis hereinkäme. Das konnte vielleicht eintreten bei einer geringwertigen neuen Lösung. Aber tatsächlich gibt es in der mittelalterlichen Kunst keine solchen erstbestimmenden rationalen und quantitativen Verhältnisse; sondern wie das Geometrische selber erst als die Folge einer formhaften Aufschließung erscheint, so könnte man vielleicht auch die rationalen Verhältnisse selber als die Ereignisse in einem irrationalen Zustande begreifen. Jedoch, wie es sich mit dieser schwierigen Frage verhalten möge, so findet jedenfalls tatsächlich eine Unverhältnishaftigkeit auch direktester Art in mittelalterlicher Kunst immer wieder statt; auch die Figuren im Adamsportal mit der Behelfslösung ihrer Aufstellung könnten noch als Beispiel gelten. Im übrigen aber ist die farbige Erfüllung der Koncha mit den drei Gestalten und den Evangelistensymbolen, die Karl Caspar geschaffen, so sehr im Ausdruck des Schaffens verschieden von dem Reiter an dem Pfeiler, daß man zum Vergleich erst kommen wird, wenn man direkt über das Gesetzliche der Kunst nachdenkt.

Weihbischof Senger

Daß Weihbischof Adam Senger, der die unermüdlich treibende und alle Hindernisse bekämpfende Kraft bei dem Plane der Ausmalung im Bamberger Dom war, recht habe, wenn er vor allem auch das religiöse Bedürfnis dabei betonte, das konnte der Besucher einsehen, auch wenn er nur einen Sonntag in Bamberg war. Die Reihe der Kirchen, die man kennenlernen wollte, war mit Andächtigen besetzt, teilweise überfüllt und nur dem Dome mangelte der Strom der Kirchgänger. Der lebendige, altgeschichtliche und gegenwärtige Sinn dieses Bauwerks und der blasse, vom Leben abgespaltene Museumsgedanke gehen hier wirklich auseinander. Auch hier gibt es übrigens, was sich mit Scherzhaftigkeit bemerken ließe, keine gleichen und rationalen Verhältnisse. Was man in Berlin schon lange ins Museum stellt (und in Amerika noch gar nie anders außer in künstlich erzeugten Museen hatte), das gilt anderwärts wirklich noch lange nicht als Museumsobjekt. Der Bamberger Domberg, bei dem man an den vatikanischen Stadtteil denken könnte, ist heute noch eine vollkommene geschichtliche Wirklichkeit. Man braucht das nur einmal recht anzusehen, um zu begreifen, auch ohne auf religiöse Begründungen einzugehen, daß eine solche Wirklichkeit im Volk und Geiste das Recht zur Ausgestaltung ihres Daseins hat, das ihr nicht von zivilisatorischer Ästhetik verboten werden kann. Freilich handelt es sich dabei um Kulturgüter, die unbestreitbar auch zum Gesamterbe des Volkes gehören, und man wird die regulierenden Momente ebenfalls nicht unterdrücken dürfen. Übrigens hat aber gerade auch mancher literarische Katholizismus bei dieser Gelegenheit gezeigt, welche Art von Aktivität er hat und welche nicht.

Am Nachmittag dieses Dezembersonntags gingen wir über den Domberg abwärts gegen den Dom zu. Es war dort die Ahnung einer Kapelle, hier ein schönes Relief, ein merkwürdiges Wappen und eine wohl von geistlichen Wohnungen eingefaßte stille Straße. Die Vesper war beendet und man sah die Gestalten der Domkapitulare, voran allein den Erzbischof von Hauck als eine jüngere Gestalt von freier und einnehmender Bewegung, alle im Ornat nacheinander oder zu mehreren entgegenkommend, wie in einer natürlichen Prozession auftauchen. Vom späteren Morgen an hatte an diesem Tage der Himmel den Anschein gegeben, als ob er sich auflichten wolle. Dies trat nicht ein, aber er behielt in rosig angehauchten und dazwischen tiefer blau gelagerten Wolkenbänken oder breiteren Furchen, die sich über die Häusergiebel hinzogen, diese farbige Wintererscheinung auch in der Nachmittagskühle bei; und nun war es gerade in dieser stillen, mit Steinmauern umhegten Straße ein Bild voll gewählter Farbigkeit, das sich da vor den Augen im eingeschlossenen Raum vollzog und mit dem Bild des freien oberen Raumes verband. Man kann einen solchen Vorgang leibhaftig vor sich und doch gewissermaßen geteilt auch in sich haben, daß man, als ob man in der Ferne wäre, sich selber mit den Kommenden begegnen sieht und auch während des Grußes die ganze farbige Erscheinung wie etwas Fremdes betrachtet. Neben dem stark rosigen Violett des Ornats trug besonders auch der weiße Pelzkragen der Gehenden zu der Erscheinung bei, der bei einigen Nachkommenden dunkel war.

Weihbischof Senger, der an diesem Nachmittag durch eine Verpflichtung abwesend gewesen, lernte ich am anderen Tage näher kennen. Man wird wohl nicht leicht, wie man den Eindruck hat, einen Mann mit mehr Ursprünglichkeit in seiner Stellung finden, mit einer Unbeirrbarkeit, die, auf das Ziel sehend, es auf das Notwendige ankommen läßt, ohne sich in einer engen Richtung zu bewegen. Der Dom ist ihm, der schon Jahrzehnte im Domkapitel sitzt, seine besondere Sorge und die Wegschaffung der auf die romantische Purifikation zurückgehenden Nüchternheit seine Aufgabe. Er hat inzwischen auch schon aus dem Dom veräußerte Stücke, einen Altarschrein, Bilder, wieder ausgefunden und zurückgebracht. Nun war die Ausmalung der Apsis ein sich durch Jahre hinziehendes, nicht eben in lauter Freundlichkeiten verlaufendes Thema geworden. Wie er davon in seiner Kanzlei, als ich ihm gegenübersaß, erzählte, auf das dicke Aktenbündel verweisend, das ihm nun leicht in den Händen lag, wie er mit Humor auch von den Disputen mit dem jetzigen Maler berichtete, das zeigte sein schnelles und starkes Naturell; es war aber auch der durchgebrochene Beweis seiner Zufriedenheit mit dem jetzigen Erfolge. Das war nicht von Anfang an in dieser Gewißheit gewesen, als man ihm den neuen Künstlernamen vorgeschlagen hatte und als wahrscheinlichster Weise er auch mit eifrig gemeinten Warnungen über den zu befürchtenden »Expressionismus« angegangen wurde. Zwar hatten ihm dann die Entwürfe nicht mißfallen; aber daran sah man die farbige Ausführung doch noch nicht und man muß die gesteigerte Verantwortung nicht nur des Künstlers, sondern auch des Weihbischofs in diesen letzten Wochen verstehen. Immer wieder war die bei ihrem Alter außergewöhnlich rüstige Gestalt — man erzählt in Bamberg von Gewaltmärschen des Weihbischofs zu seiner Erholung, wobei er ohne Niederzusitzen im Gehen etwas ißt, Erholungen, die von anderen gefürchtet sind — auf dem Gerüste zu sehen. Dann, als nach den Evangelistensymbolen, die für modern eingestellte Augen zunächst mehr bedeuten mochten als für Augen, die nach dem Ausdruck der endgültigen Figur Verlangen hatten, die große Christusfigur geschaffen war, trat an die Stelle der Verantwortung die Gewißheit. Es war also kein eitles Beginnen gewesen.

[Bamberg, Dom, Adamspforte rechte Seite: Petrus — Adam — Eva]

[Bamberg, Dom, Adamspforte linke Seite: Stephan — Kunigunde — Heinrich]

Tägliche Bilder

Man muß immer wieder in die kleineren Städte des Landes mit ihrer ursprünglichen, unverstellten und großen künstlerischen Vergangenheit kommen, um nicht den kleineren und ausgeglichenen, sondern gerade den großen, unmittelbaren, im Unausgleichbaren beständigen Kunstsinn deutscher Vergangenheit neu in sich zu erleben. Es sind da nicht bloß die öffentlichen Denkmäler der Architektur und der Skulptur, sondern es ist das bürgerliche, durcheinander gewirkte und sichtbare Lebensganze, das, ohne sich meist mit letzter Klarheit aussprechen zu lassen, immer wieder einen einmaligen künstlerischen Ortsinn in dem Hindurchgehenden weckt.

Es werden sicher für jeden Besucher einige glückliche Tage sein, wenn er etwa aus der Langen Straße mehrmals täglich mit dem Blick auf den Grünen Markt, wo der Gabelmann-Brunnen steht, und auf die barocke, vornehm kräftige Fassade der Martinskirche, dann zur oberen Brücke geht, durch den altgewölbten Durchgang des Rathauses mit dem schönen Wahrzeichen der Turmbekrönung, durch die Gassen mit ihrer von der Architektur bestimmten Winkelung zum Domberg mit dem Bau des Mittelalters, der in tagelanger Betrachtung nicht zu erschöpfen ist. Vorher bei den Brücken — ein Wasser wie die Regnitz mit ihren Lastkähnen und den dazugehörigen Ufermauern gibt einer Stadt immer eine zwiespältig gehobene Verbindung von Nähe und Ferne — blickt man nach allen Seiten, beengt und doch geweitet, in die verschiedensten Stadtbilder. Nach links sind es die Mühlen, deren von Wasserfällen durchbrochenes, von Bäumen durchsetztes Gelände auch im Dezember besonders in den Lichtern der Nacht eine rauschende und doch für den Blick malerisch stille Offenheit hat. Nach rechts weiter hinab ist das Häuserviertel, das man KleinVenedig heißt, das aber auch wie überhaupt diese Häuserfronten zum Wasser hin mit ihren Ausbauten und ihrem speicherartigen Aussehen etwas Nordisches hat. Dann kommen aber die größeren, im Vergleich mit den Wasseranlagen wieder gegensätzlichen und burgartig gehobenen Blicke, rechts nach dem Michaelsberg hinüber und anderseits auf die giebelige Abstufung von Gebäuden mit der erhaben stehenden oberen Pfarrkirche. Es ist diese burghafte Aufgiebelung auf Hügeln, die uns unwillkürlich immer ein altes, festes Zeitgefühl in den Sinn legt. Und es war dann, wenn man in die Nähe dieser letzteren hohen Kirche mit ihrem gotischen sterngliederigen Strebenwerk kam, ein Eindruck, der, ich weiß nicht recht warum, auch an einen bestimmten, schnellen aber nachhaltigen Eindruck in einer Gegend von Paris erinnerte.

Aber auch ohne bestimmtere Bildvergleichungen bleibt eine Stadt mit dem mittelalterlichen Architekturgute wie Bamberg aufs höchste mit dem besten Kunstgeiste einer ganzen Weltzeit verbunden. Es ist das Geheimnis des Mittelalters, das keine rationale und soziale Abstufung der Kunstschöpfungen in unserem neuen Sinne kannte, daß es sein inneres Gesicht an jedem empfänglichen Orte ganz entfalten konnte. Ob der Dom Heinrichs II. hier wuchs oder etwa in Basel, es kam immer ein Ortsgesicht dabei heraus und zugleich der sowohl zeithafte wie übernatürliche Zustand, den diese Architektur ausdrückte. In dieser Bauform war zugleich ein Weniger und ein Mehr gegenüber einer späteren, geistig konstruierten und künstlich dem Volke übermittelten Architektur. Man muß das Geheimnis der mittelalterlichen Bauformen immer wieder in einem Warum suchen: warum nämlich diese Architektur, je weniger sie des Volkes war, um so mehr doch des Volkes war?

Man trifft dann in Bamberg immer wieder auch das herrliche Barock, um nur noch neben der Martinskirche die strengere Concordia oder das Böttingerhaus mit seiner in kraftvoll üppige Formungen ausgeschlagenen Fassade zu nennen. Wenn man in den letzten Jahren sich gewöhnt hat, Gotik und Barock gerne in einem Atem zu nennen, so sieht man dabei wie bei anderen Stilparallelen mehr auf die Haltungs- und Bewegungssysteme, statt auf die ort- und naturhaften Entstehungen und auf die direkten Gegensätze der Formbewegungen. Schon die in Bamberg terrassenförmige Anlage der Gärten, die zugleich die Landschaft ordnet, indem sie das Erdhafte und von der Natur Gegebene verneint, ist ein ganzer Gegensatz gegen die große Bindung des Mittelalters in die jeweilige Landschaft. Aber allerdings, welche fremdartig schönen Akzente bringen diese Gärten in das Bamberger Stadtbild. Wie klangvoll paßt diese barocke fürstliche und bürgerliche Freiheit in die Umgebung des Domberges, wo sich dann Balthasar Neumanns Kapitelhaus, direkt an den Dom anschließend, mit der Front zur Seite hinbreitet.

Indem die wirkliche und freie Kunst kein zweckmäßiges und ästhetisches Ziel hat — sie ist eigentlich immer nur wie eine zeitliche Brücke über das lebendige Wasser —, läßt sie auch jeder neuen Zeitgesinnung ihre neue Möglichkeit. Das ganze Menschliche wird nie erreicht, am wenigsten, wenn man es zum humanistischen Mittelpunkt nimmt. Das ist das große Reizvolle der Blicke in die kleineren alten Städte, der täglichen Bilder, wie man sie in Bamberg um sich hat, daß man, je mehr man das werktätige Leben innerhalb der großen geschichtlichen Formen um sich sieht, um so weniger doch von dem enger oder von dem prinzipiell Menschlichen belastet ist. Dies ist in die größeren Formen hinausgehoben und lebt in ihnen aus der gebundenen Freiheit der Vergangenheit.

Viele denken über die Verantwortung nach, die mitsprechen muß, wenn man neue Kunst in die große vergangene einfügen will. Die Vergangenheit gibt uns nur den Maßstab der Größe, aber eigentlich kein nachgestaltbares Vorbild. Dazu muß vielmehr die Naturkraft immer wieder aus der Gegenwart wachsen. Und wenn dann ein neues Werk entsteht, das sich in das alte einfügen kann, wenn das neue sogar die Formprägungen des alten annimmt, wenn man dann sogar denken muß, daß es nur bestimmte Lösungen gibt, die im Alten vorgebildet sind, so ist doch die neue Naturkraft das Wesentliche geblieben, die dem Alten begegnet ist. So mußte es auch schließlich kommen, daß nicht eine am Alten geschulte, mehr handwerklich gute Lösung jetzt als Malwerk in den Bamberger Dom gebracht wurde, sondern eine Schöpfung, die im neuen Naturgefühl arbeitet; so wie man oft sagte, daß eine neue Kunst der alten wieder begegnen müsse.

[Bamberg, St. Michael]

[Bamberg, Böttinger-Haus]

Das neue Werk im Ostchor

Im Ost- oder Georgschor des Bamberger Domes ging nun eben die neue Apsisausmalung, das neue Malwerk von Karl Caspar, das er in dem alten Dome schuf, seiner Vollendung entgegen.

Man kommt den Domberg herauf, besteigt auf den Stufen die mächtige Terrasse, auf welcher der Dom nach Osten hergelagert ist, hat die große Rundung der Ostapsis mit ihrer aufgeschlossenen Zwerggalerie vor sich, an ihrer rechten Seite im Gewände die Gnadenpforte mit ihrem feierlich skulpturalen Tympanon, an ihrer linken die berühmte Adamspforte, wo auf einmal die Gestalten von Heinrich und Kunigunde und vor allem von Adam und der unvergleichlich edelgeformten Eva auf niederem Standpunkt mit wenig Sockel dem Besucher entgegenstehen. Das Fehlen einer großen Sockelung erzeugt sofort auch unbewußt die ganze Naturerlebung des Mittelalters, die ohne eigentliche und absichtliche Aufstellung in den Gliedern selber lebendig wird und die geschaffenen Körper mit einer nur ihr eigenen Plötzlichkeit und Ruhe zugleich vor Augen bringt.

Wenn man nun in den ersten Dezemberwochen von Osten her durch die Adamspforte in das Seitenschiff des Domes trat, vorbeiging an den Chorschranken mit ihren berühmten Apostelgestalten, bis sie aufhören, und wenn man sich dann wieder nach Osten umwandte und nun das Innere des ganzen Ostchors vor sich hatte, war die ganze Apsis, in die man blickte, durch das Gerüst verstellt; nur oben aus der Halbkuppel fiel der Ernst und doch die Wärme eines tiefen, figurig getrennten farbigen Scheins und Hintergrundes. Auch dieser Hintergrund der Halbkuppel, der schon mit seinem in den Kalk gebundenen, mit strenger Macht der Einfachheit leise glänzenden Blau bekleidet war, wurde gegen die Ansicht von unten durch ein vielteiliges und bewegbares, hohes Gerüst noch weit versperrt, das auf dem Hauptgerüste aufgebaut war. Wenn ich sage Einfachheit, so ist es aber nicht die hieratische ausgeglichene Glätte, die oft üblich geworden ist und den kirchlichen Stil neutral macht, sondern eine in der malerischen Herstellung benervte Dichtigkeit, ein bewegtes, in den Raum wirkendes Widerspielen des Hintergrundes durch die Farbe mit den Figuren, wodurch diese wie notwendige Körper im Gegenhalte aus der Wölbung entstehen. Zunächst war, von unten gesehen, links oben in der Wölbung das Evangelistensymbol des Engels mit um den Körper fortgreifenden Flügelfaltungen sichtbar, eine Gestalt, die ebenso schwebend wie durch ihre innig in sich geschlossene Haltung am Orte fest erschien. Dann, als das Gerüst möglichst zur Seite gebracht war, kam, fast möchte man sagen mit einem Schlage, die thronende Christusfigur als Hauptgestalt aus der Mitte zum Vorschein, deren ausgespannte Arme wie eine mächtige Welle alle Bewegung in Raum und Bild ebenso zu beginnen wie auch abzuhalten schienen. Man erkannte, daß sich diese ausgekreuzte Bewegung, die sich aus dem Körper zwischen dem frontalen Haupt und der Strenglinigkeit des Thrones als eine leibliche Welle fortsetzt, eine ursprüngliche Formhaftigkeit war, die, wie sie auf alten Apsisbildern vorkommt, überhaupt wie ein Gesetz vom Übergang der Halbkuppel in das Lebendige Geltung hat.

Wenn man diese Arme stärker betrachtete, erkannte man an ihnen einen strengen geometrischen Teilungssinn, der aber im einzelnen durch eine noch vollere und äußerst kräftige körperliche Formung überboten wurde; einen geometrischen Sinn, der die bildliche Figuration in den Raum stellt, und eine Körperhaftigkeit, die, sich gleichsam entgegenstemmend, dem Natürlichen sein erhabenes Dasein an dem hohen Orte sichert. Hier kommt man, mit einem Worte, an eine gesetzhafte Notwendigkeit der kirchlichen und an ein Geheimnis der mittelalterlichen Kunst bei Betrachtung des neuen Werkes. Das Natürliche wird von den Ausgrenzungen der geistigen und religiösen Architektur im großen Zustande bestimmt; es setzt sich aber mit einer Eigenfülle dagegen, und obwohl es gegen die große Bestimmung das zweite und geringere ist, wird es nun das Mächtigere. Das ist das letztlich Individuelle oder, wenn recht verstanden, wahrhaft Subjektive, um was es sich in den Fragen der christlichen Kunst handelt. Und auch die herrlichen Skulpturen des Bamberger Domes kann man in diesem Sinne betrachten. So ist denn auch die ganze Komposition des neuen Apsisbildes eine Durchdringung von Geometrie und Naturhaftigkeit. Der Thron und die einschließende Mandorla erhalten ihr inneres Gewicht und werden überragt oder übergriffen von der thronenden Gestalt. Im weiteren Umkreis sind in den vier Schrägpunkten die vier Evangelistensymbole eingesetzt; diese nur mit Köpfen oder als Halbgestalten in Flügeln sind die eigentlichen Quellpunkte des natürlichen Überflusses, der auch mit freiesten Farben, Rot aus Grün, gegenüber dem starken, warmen Violett oder Altpurpur der Christusfigur und der hellen gelben Mandorla, im Raume getragen wird. Nach links und rechts folgen die in fester körperlicher Haltung geschaffenen Standfiguren der beiden Kirchenpatrone Petrus und Georg mit ihren Attributen. Es ist auch formhaft gewissermaßen die Abstufung aus der alles bildhaft bewirkenden Mittelerscheinung über die schwebenden Lebenspunkte zu der realen Festigkeit an den Seiten. Oben reicht zum Christushaupt die einfache Gotteshand herein und gibt eine besondere Scheitelempfindung. Unten am Throne nahen zwei trinkende Hirsche dem Wasser. Hier sammelt sich also alles noch in einer anmutigen kreatürlichen Symmetrie, in einer Symmetrie, die auch im ganzen ist, die aber der Betrachter falsch anschauen würde, der nicht innerhalb derselben eine viel tiefere und stufigere Ordnung des Natürlichen in und über dem Kompositionellen erkannt hätte.

Gedanken im Gehen

Man kann im Gehen durch alte Städte wie Bamberg plötzlich zu einer Frage an sich selbst kommen, in der sich das eigentümlich Angenehme des augenblicklichen Hierbefindens und die stetige neue künstlerische Angeregtheit verschwistern, nämlich zu der Frage, warum eben hier Mensch, Geist und Genuß sich auch in starker künstlerischer Bewegtheit so sonderbar gut und ruhig zu Hause fühle. Man kann antworten, das sei der geschichtlich erhaltene Zustand eines alten und bewährten, volkhaft verwirklichten Menschheitsgeistes, in dessen Behaustheit man sich befinde. Die Antwort wird stimmen und man möchte ihre Richtigkeit doch noch näher erfühlen.

Hunderte von Straßen neuer Stadtwesen haben keine Eindrücklichkeit, wie die wenigen, die sich um und in die Mittelpunkte alter Städte ziehen, wie es vor allem der Bamberger Domberg ist; diese wenigen Straßen, die sich mit dem Gehenden in Gangbilderformen verwandeln und mit Raumsinn und Figuren noch in das Innere des Hindurchgegangenen hergekehrt bleiben, auch wenn er diese Straßen schon lange wieder verlassen hat. So geht eine Straße am Domberg unter der Residenz hin wie ein mächtiger Schacht, mächtig durch die Beschattung des gewaltigen Steinhauses, das an seiner einen Seite hinaufgeführt ist. Es ist eine Mauer, so mächtig, als ob sie zur Scheidung zwischen Morgen und Abend in den Tag gesetzt sei, und wenn man an ihr Ende hinaufblickt, begegnet man in der Höhe der freien Luft dem Zuge der Vögel. Die Straße geht schräg in die Tiefe und schlägt sich dann aber mit scharfer Abbiegung über den schmäleren Hals des Berges. Nach dieser Biegung kommen auf der rechten Seite die steinernen Tafeln der Stationen, in der Art des Adam Krafft gearbeitet, die wie große, aber in Menschennähe herabgesetzte und mit Figuren einwärts gekehrte Zinnen nun den Weg des Gehenden unterbrechend begleiten. Ihre steinernen Tafelformen schaffen mit der steigenden Straße zusammen einen sowohl festen wie freien Bezirk eines aufgebauten Daseins. Das Feudale verbindet sich mit dem Bürgerlichen zu einem beständigen Zusammenklang. Aber man ist noch nicht zufrieden, denn man fühlt im tiefer Mittelalterlichen noch ein menschlicheres Kunstverhältnis, ein solches, das in die klaren Bezirke noch ein individuelleres Dasein bringt. Wenn man wieder am Domberg steht, um zu schauen, was der Anblick eines solchen Platzes noch Unerklärliches habe, so kann man dann plötzlich auf den Gedanken kommen, daß das Mittelalter eine besondere Liebe zur Schräge gehabt haben müsse. Dieser Gedanke kann, indem man sich selber fast mit Plattheit aus einem beabsichtigten Tiefsinn in eine natürliche Äußerlichkeit versetzt zu haben scheint, etwas Komisches haben. Und doch in Erinnerung an die Leibungen, die eingestuften Portale, Wasserschläge und vieles, was die Lichtlinie in eine innere Grenze hineinbringt, bis zu den schrägen Hintergründen der spätgotischen Bildtafeln, bewahrheitet er sich auch sofort und nur das kann noch seltsam berühren, daß das Natürliche eines Ortes und das künstlich Geschaffene in gleicher Wirkung zum Ausdruck benützt sein können.

Bei den Skulpturen und Reliefen wird aber diese Bedeutung der Schräge ausnehmend deutlich und ihr Sinn oder ihre Formwirkung führt noch weiter ins Einzelne und Menschliche. Man betrachtet die Gestalt des Kaisers Heinrich, die in dem Tympanon der Gnadenpforte links neben der Madonna steht. Er ist darin trotz der Kleinheit ein schwer erklärbares Element von großer, repräsentativer Schönheit. Sicherlich macht die leise und doch betonte Schräge in der Figurstellung nicht wenig dazu aus. Wie der Fuß mit dem wenigen Sockel herauskommt, so wird überhaupt alles Charakterhafte der Gesichter und der Haltungen als eine Stellung aus der Bauform in den Anblick gesetzt, vielmehr man empfindet es als eine gebundene Bewegung, die, in der Schräge herausknospend, ihr bloßes Dasein durch etwas im Bewegten Geschaffenes überholt. Die Schrägen sind als Ganzes um so deutlicher in den Portalen; sie sind aber auch in den berühmten Gestalten der Chorschranken und sind ebenso noch, allerdings vom Architektonischen nun ins Malerische gesetzt, in den Reliefs des über zweieinhalb Jahrhunderte späteren Grabdenkmals für Kaiser Heinrich und Kunigunde von Tilman Riemenschneider, das noch in der Mitte des Domes steht.

Es ergibt sich in diesem Kunstgeiste ein neben und gegen die Frontalform gültiges, aktives Element, wodurch das Repräsentative und das Natürliche, das Schmuckhafte, wie in Formzier so in Kleidung und Stoffzier, und das Charakterhafte im Lebenssinn sich zuerst und bestimmend in Erscheinung bringt. Für letzteres könnte man sagen: das Individuelle; aber dieses Wort klassizistischer Auffassung paßt hier nicht und wir haben für die mittelalterliche Art des Wesenslebendigen tatsächlich keinen Ausdruck. Man muß die Worte: Kreatur und das Kreaturierte in diesem Sinn verstehen. Dieser Sinn liegt nun aber auch in ganzen Platzanlagen, auch wenn sie weithin umgeschaffen sind, und er liegt überhaupt mit im wesentlichen eines mittelalterlichen Stadtbildes. Er macht das Wesentliche unseres besonderen Mensch- und Daseinsgefühles aus. Der Außenraum und der darin gehende Mensch sind gewissermaßen auch aus dem Bau heraus erst geschaffen; sie stehen dazu in einer Ordnung, die nicht nur horizontal, sondern gewissermaßen auch vertikal ist; sie sind selber mit in die künstlerische Aktion gesetzt. Und nun kommen wir zu einer näheren Antwort auf unsere Eingangsfrage. Jenes Gefühl des bewegten Geborgenseins an Stätten des Mittelalters liegt sicher mit darin, daß weder die feudale Repräsentation noch der humanistische objektive Raumgedanke in seiner ästhetischen Abstraktion hier herrscht, sondern daß der Hindurchgehende sich als ein einfacher und selbsthafter Mensch, als Individuum, als zeitliche Kreatur im Ganzen des gebauten Geschehens auch heute noch mitbestimmt fühlt. Es ist da eine sonderbare und echte Menschwerdung immer noch erlebbar. Man könnte davon aus aber auch auf Fragen kommen, um welche die neue Architektur sich wieder für einen neuen sozialen Charakter bemühen möchte. Anderseits kommt man aber auch auf die Fragen der Denkmälerpflege und der Restauration.

[Bamberg, Rathaus auf der Oberen Brücke]

[Bamberg, Liebfrauenkirche]

Gang zur Altenburg

Ein früher Vormittag mit matter Dezembersonne lieh dem Steinkörper und der vierhelmigen Silhouette des Domes über den Häusern der Stadt empor einen selten schönen, fast unwirklichen, aber in der Beständigkeit der geometrischen Grenzmaße zauberig natürlichen Schein. Der andrängende Morgenschimmer kam noch tief vom ferner liegenden und in einzelnen Wasserspiegeln gleißenden Lande gegen die Hügelstellungen her. Der Himmel selber drückte mit einer zusammengeschichteten Wolkendecke der Nacht und des langen Nebels auf die niedere Sonne. Die gelblich-rötlichen und die wasserbläulichen Beleuchtungen der Luft waren in dieser schrägen Morgenstrahlung wie feste Spiegel und doch auch wie stets verändert auf dem Gewände des Domes. Man sah jeden einzelnen Stein in seiner Fuge, der ganze Dom war steingrau und dabei doch in einer vielfarbigen Erscheinung. Aus der Umgebung der Stadt waren die laublosen Bäume an den Hängen herab nach den Häusern hereingestellt und dem weiter erhobenen oder ferner gehenden Blick begegnete das Morgendunkle des Waldes.

Auf der Straße zur Altenburg war da und dort ein weißer Nachtreif. Der Weg hob sich, und obgleich auch die Sonne sich hob, war es doch, wenn man durch Baumzeilen und später vom Walde nach ihr hinabschaute, wie sie unter der Wolkendecke hervorglühte, wie ein vertauschter Eindruck der Tageszeit. Es schien am Abend zu sein und die kleinen glänzenden Spiegel von Bächen oder Weihern auf dem Gelände zur Sonnenzone hin verstärkten diesen Eindruck. Man ging wie in einer Jean Paulschen Landschaft. Die Ruinen und die festumgürteten Gebäude der Altenburg ragten daraus empor.

Vierzehnheiligen in Franken

Begriff der barocken Gottesinsel

Man denkt voraus, wie der Anblick sein wird, den man erleben will; und wenn man alle diese Blicke erlebt hat, welche dem Sinnenden gegeben werden an einem dieser geweihten Orte, dieser weithin sichtbaren Steinkörper aus der großen Kirchenbauzeit der Wallfahrten, dann sammelt man sie wieder in eine Nacherinnerung; man sucht sie wieder in seine erste »Erinnerung«, welche eine Erinnerung war, bevor man gesehen hatte, einzustellen wie ein Gesetz! Das Gesetz der barocken Gottesinsel.

In jenen Jahrhunderten aber, während der Geist alle Aufklärung in seine eigene Kraft und Fassung hineinzutun glaubte, hat die Mutterschaft der Kirche sich vervielfältigt wie in ihren fruchtbarsten Zeiten. Während sich der Geist absolut machen und zentrieren wollte, hat sie alle Fassung aus ihrem Zentrum hinausgetragen wie eine neue Mission an alle Orte. Der gleiche Geist, der sich zentrieren wollte, mußte in der Kunst zentrifugale Kräfte wie Wogen hinausschlagen über das erhellte Land, und das Absolute ist in einem Maße Herr geworden, welches über seine eigenen Kräfte ging; es wurde kein Ort zum Besiedeln und es ist keine menschliche Individuation darin Herr geblieben, sondern es wurde die unfaßbarere Helligkeit einer göttlichen Kraft. Das Souveräne hat sich in sich selbst noch höher begriffen und es hat sich vollendet in Wallfahrten. Nie ist das Souveräne mit dem einfach Volklichen so nahe zusammengekommen, wie zwei Spiegel gegeneinander.

Alle diese Voluten, diese gebrochenen Giebel, diese zwischen Halt und Lösung geschwungenen Fassaden bilden wieder Rückschläge; sie bilden noch mehr die Ausschweifung für ein ungestaltbares Drittes. Die Baukörper stehen wie durch die innere Ausdehnung sparsam gewordene Steinschalen, ohne Einreihung, oder auch, wenn sie zu anderen Baukörpern eingereiht sind, doch monarchisch und in ihren Vertikalen inselhaft; sie sind im Verhältnis zu ihrem inneren Leben wie zusammengepreßt. Die Gewände sind zu diesem Inneren wie Abtrennungen und nach außen wie Negationen; aber um so mehr sind sie wie eine bloße Naht, hinter welcher die in Klarheit stürmenden Kräfte der Länge und Quere, der Kreise und der Ovale, der Kuppeln und der Raumkompartimente wie eine Sichtbarmachung und eine Konkretion sind der noch größeren Kräfte der Unsichtbarkeit im Draußen. Zu allem sind die Altäre wie Kerne in der Auflösung, und um diese Kerne gleitet alles Baurechte wie in sein vollkommenes Gegenteil, welches die Muschel ist. Auch sind diese Bauwerke, welche das Ungeheuerliche in der Schönheit der Belichtung wagen, wieder am nächsten bei dem Begriff der Höhle. Und so flüchten denn diese Kirchen von inselhafter Erhabenheit doch wieder wie in das Geborgene vor der Uferlosigkeit der Zeit und sind wie unzerbrechliche Muscheln an ihrem Strande.

Es ist eine große Zeit der Bauinseln und in ihnen, wenn wir es bizarr ausdrücken dürfen, der große Kulturausdruck eines katholischen Polynesien. Bizarr und fremdartig war aber auch vieles in dieser Formwerdung, welche auf das Kennzeichen der Rocaille hinstrebte, dessen Formzersprengung das ganze Bauwerk ins Höchste ausspannen und dann wieder gewissermaßen spielend abdichten konnte. Eine solche Abdichtung mit dem farbigen Wolkenspiele eines Gemäldes ist zuletzt noch das Gewölbe. Es fließt schließlich über den Kirchenraum hin so grenzenlos wie gebunden. Seine Spannungen werden windschief verlagert und durch alle Mittel des Bauens wie verloren; so steht es über den Ankern der Sockel ohne Stand und — auch das ist inselhaft — der Himmel ist über der Erde in einer anderen Ordnung. Im Innern kann das Gefühl der wiegenden Ganzheit der Palme uns so nahe kommen wie das Gespaltene der Balken unserer heimatlichen Bäume; denn so sehr die ganze Raumform aufgespalten ist, um so weniger sind die Dinge in ihrem figürlichen Kerne geöffnet. Hier tritt die namentliche Befestigung eines besonderen Realismus ein. Deshalb auch diese menschlichen Figuren, die nicht so fast Menschen als vielmehr deutende Eigenschaften und Personnagen sind und die mit der Tracht ihres Zeitalters auch die Kontroversen der Geister in augenblicklich verdichteter Dramatik bühnenhaft austragen; und, um nochmals an das Bizarre zu denken, auf diesen hellen Raumbühnen, wo alles sich mit letzter Sichtbarkeit wie teleskopisch sammelt, kann neben dem Weißen auch der schwarzhäutige Mensch erscheinen. Der Zug des Schwarzen der Drei Könige ist umgekehrt zu seinen Ländern. Gold ist nicht mehr im Grunde, sondern im letzten Glänzen der Ornamentik, und so hat unser ganzes näheres Kreaturgefühl in dieser Zeit eine andere künstlerische Ordnung erlebt. Das Elementliche wurde im fließenden Umschlag eines neuen geistigen Kosmos begriffen. Jedes Ding war wie auf fremden Inseln und doch fand es sich mit jedem Punkte seiner Erhaltung geregelt durch ein unsichtbares Drittes in einem heiteren Lande; der Souverän und der Hirte kamen auf dem gleichen Felde zusammen.

 

Diese Kirchen, obwohl sie in ihrem eingekörperten, wie von der natürlichen Sonne durch Verwandlung getrennten und in sich selber erzeugten, irrationalen und zugleich logischen Lichte schweben und die also wie Funde erscheinen und irgendwie das Zeichen des Meteoriten tragen, stehen und wachsen doch erstaunlich auf der Scholle. Sie haben den Charakter von Land und Menschen, sie wandern leise in ihrem Gesetz mit dem Gelände, die spiritualisierte Sprache ihres Gefüges hat auch die geheimere Notwendigkeit des Dialekts, welcher immer mehr ist als die Grammatik, weil er dem Gesetz des Raumes einen anderen Hauch und der gegliederten Form des Sagens und Bildens eine andere Folge gibt. Das Fränkische zum Beispiel ist nicht malerisch im Sinne eines anderen Stammes, es hat etwas Rechtendes sowohl in der Sprache wie in der Bildung des Sichtbaren; es entscheidet sich aus Gegensätzen und richtet sich in die Höhe aus geringeren, aber gedrängteren Maßen; so im Lande wie im Geiste; und so begegnet sich das Vornehme mit dem Geringen, das Ackerbäuerliche im Tale mit dem Spiritualisierten auf dem Berge, und die Scholle geht durch die Brandung der hängenden Wälder in die Unendlichkeit einer umzirkten Kuppel.

So im Maintal; und so hat Balthasar Neumann, der Vornehmste dieser gewaltigen Kirchenbauer seines Zeitalters, seine Kirche, seine fast letztmögliche Komposition und Materialisation aus dem damals über den Nationen schwebenden Formgeiste, im Angesichte einer zweiten ähnlichen Höhenkirche und ihr gegenüber auf dem etwas niedrigeren anderen Randauslaufe eines Höhenzuges über dem Maintal hingestellt. So steht sein Vierzehnheiligen gegenüber der um etliche Jahrzehnte früheren Kirche von Schloß Banz; zwei hehre Flanken, zwischen die man im Tale hineinfährt und zwischen denen, noch die einsiedlerische Kuppe des Staffelberges hinzugenommen, man sich in einem unvergeßlichen Triangel fränkischen Landes befindet. Nichts schließt sich hier ein, alles bleibt noch offen und doch von jener engeren Weite, welche den Sinn unruhig macht; aber diese drei Punkte begrenzen den Blick aus dem Tale und dann erfaßt ihn links zuerst das höhere Banz mit Türmen und Firstlinie und Gesimsen über dem Horizonte, bis rechts die Brust der breiten und hochgekrönten Fassade von Vierzehnheiligen hergewendet ist, dessen Baulinien etwas tiefer gelagert um so vornehmer aufschnellen, je mehr sie aus dem ruhigen Sinn eines noch barocken Hauses in die Winkelungen einer zugleich heftigeren und geschmiegteren, gewissermaßen hausloseren Raumrechnung ein- und aufgebrochen sind und davon linienhaft geschärftere Umrisse haben. Dies sind links und rechts zwei Flanken über dem Tale, die wie aus den Obelisken als den Gegenzeichen der Lichter raumund lichthaft fortentwickelt sind; und es sind zwei getrennte steinerne Inselkörper, vergleichbar den sagenhaften Symplegaden, welche zusammenschlugen, während die Vögel und die Blicke zwischen ihnen hindurchfuhren. Sie wecken die Unruhe und die Gefahr, ob der Blick imstande sein wird, ihnen wie durch Überwältigung zu entgehen und sie in ihre aus dem unendlichen Kreislaufe des Werdens enthobenen Maße zu bannen; eine Gefahr in der tieferen und religiösen Schönheit, welche in der Kunst stets und rastlos bereitet ist, welche aber der Unempfindliche nicht kennt.

Es hat eine stille und irdisch poesievolle Richtigkeit, daß diese spirituellen Tempel, wenn sie nicht aus dem direkten Komplex einer Tradition von oft klösterlichen Bauherren herkommen, dann oft in der Legende ihren religiösen Ackergrund und Erdenfleck finden. Indem man durch Ackerfelder von Lichtenfels auf ländlichem Wege nach Vierzehnheiligen hinaufschreitet, vergegenwärtigt man sich die Legende. Kerzen spielen eine Rolle, die auf dem Felde standen; ein Kind war dazwischen, das auf diese Weise einem Hirten erschien; die Erscheinung geschah mehrmals, und einmal wurde das Kind von den Heiligen umgeben, welche man die Vierzehn Nothelfer heißt. Der Erdenfleck ist zur Vorderseite unter dem Gnadenaltar eingegittert als ein kleiner, gefeiter Naturbezirk; Kerzen brennen immer in dieser Kirche, und sie brennen um so seltsamer und selbstloser in ihrem leise zehrenden Lichte, je heller und durchgelichteter dieser sphärisch kreisende Kirchenraum selber ist. Der Erdenfleck ist wichtig; er erinnert an alle diese dinglichen Anhalte, die in Wallfahrtskirchen sind, und es ist da kein »Erdenrest zu tragen peinlich«, sondern das genaue Gegenteil. Das war in dieser vornehmen Zeit, die zu unserem Heute so gegensätzlich ist, daß das Kleine mit dem Großen so restlos im Glauben zusammenging; und das Kleine war der Kern und Anlaß des Großen wie das Kind zwischen den Heiligen.

Man steht auf der terrassenhaft gebreiteten Staffel vor der hohen, zweitürmig geflankten und mit ihrem Mittelbau im Verhältnisse leicht heraus schwingenden Fassade. Diese Fassade ist nicht Natur und kein Urlaut, sondern bei all ihrer Mächtigkeit hat sie die Reserve eines geistig vornehmen Schöpfers, eines Rechners in Kräften, dessen Geist sich nichtsdestoweniger entzünden konnte und der, was er rechnerisch an Fundamente band, dann erst mit entflammterer Begierde immer freier in die heiße Kühle von Lufträumen schickte, welche er beherrschte. Das schwere Sockelgefühl eines Zeitalters war auch in ihm lebendig und er hat es mit den stärksten Kontrasten in die Vertikale hinauf wie mit kreisenden Kegelschnitten erledigt. Aber die Fassade ist davor in Sicht gesetzt als eine in sich beständige Grenze. Man steht auf der Breite der Staffel, die ist, als ob sie aus dem Kircheninnern herausgeschüttet sei zum Talabhang wie ein Geröll, das aus lauter Gesetzen gebrochen ist und sich ebenfalls nicht anders lösen kann als im stufenhaften Gesetz. Man blickt von hier ins Weite und um diese hohen späten Kirchen ist die Luft wie gerodete Wälder, wie ein Raum, in dem nichts mehr von Wirrnis vorhanden ist, außer wenn die Ruhe selber zu einer Unruhe wird in einer unersättlichen himmlischen Bläue. Wenn der Wind brandet, erscheint alle gebaute Bewegung um so weniger beweglich. Vielmehr ist die aus der Schweifung in Flächen, aus Fläche in Öffnung, aus dem Körperlichen in fassende und freie Glieder, aus Pilastern zu Säulen, aus den kubisch lagernden Zonen zu den Kurven, aus den Sockeln in die architektonische Endfrucht der hellen und oft wie gestielten Zwiebeln geschickte Bewegung immer in sich selbst beendet. Sie ist eine aus aller Geraden immer ins Amorphere und zuletzt in Figur geschickte bauliche Sendung und das ganze gekrönte und doch mit allen Fenstern wie blinde Gesicht steht um so unberührter in seinen Profilen; zumal bei dieser Fassade, bei welcher die luft- und körperhafte Gewalt schon in die leisere, logisch reservierte Dynamik hinüberwechselt.

Das Mittelalter kannte dieses starre Widerspiel mit Luftraum und Erde nicht; es hat eine andere Ordnung und eine aufgespaltenere Empfindung, welche nichts von dieser dialektischen Monologie einer Einheit wußte, bei der die Kante eine immer wieder in sich selbst zurückgespielte und am Amorphen selbst noch gesättigte Grenze ist. Das Mittelalter stand jeden Augenblick in zwei Reichen, während hier ein Reich ist, der künstlerische Versuch eines Zwischenreichs, eine Bannung im höchsten Zwecke, ein Augenblick und sein Widerspiel, ein bewegtestes Inneres und ein um so erstarrteres Außen, eine Erkenntnis in immer weiteren Fluchten und ein kristallisierter Blick, der keine Verluste kannte. Dieses Reich, welches nicht auf den mittelalterlich geteilten Menschen ausgeht, hat einen zugleich näheren und flüchtigeren Ruf in seinem Gebilde. Es ist der Schall psalmischer Worte, das Fortschallen über Grenzen und Enden, die forteilende Mitteilung zwischen Tagen und Nächten und die unaufhörliche Zurückkunft, die sich selber in ihrem höchsten Zweck hat, ohne den Raum zu erfüllen. Man wird diesen Ruf und diesen Begriff der Flucht erst ganz erfahren, wenn man in das Innere tritt.

Indem man eintritt, hat man vielleicht im ersten Anblick, bevor der ganze Raum sich öffnet, einen Eindruck wie von Porzellan, das heißt von solchen am wenigsten im Wachstum und am meisten doch in Vitalität gespannten Kräften, die sofort in den großen Schein irrationaler Weite hinaufgepfeilert sind. Gepfeilerte Weite ist die erste Kraft dieses architektonischen Geistes; und dies um so mehr, als diese Weite ganz anders ist als etwa eine gotische Weite; diese Weite, alles aus dem stationären Äußeren in das in Wellen fliehende Innere verlegend, erfolgt im Widerstreit mit der kurvierten Fülligkeit ihrer eigenen räumlichen Illustration; und gerade dies Letzte ist in Vierzehnheiligen gegen Banz bis zur Übermacht vermehrt und wieder entsinnlicht. Diese wellenhafte Flucht von Räumen, die sich überall wieder nach oben und außen an den Zwickeln wie an Klippen strudelnd verhängt und wodurch die unteren und die oberen Räume zwei verschiedene Schnelligkeiten zu haben scheinen, bringt die Hauptänderung des Weitegefühls in der Vierung und der Funktion des Querschiffes hervor. Das Querschiff ist nicht mehr der Schacht einer aufgestauten Ehrfurcht in der Vorrückung der Räume, sondern es ist eine gangbare Quere zwischen den Altären, die Großform all der ins Gerade und Kurvige, in schalige Kompartimente und Umgänge gesetzten Massenformen gehender Gemeinschaften; Gemeinschaften von Wallfahrern, welche gewissermaßen nicht individuell kenntlich sind, sondern wie Kreise und Ovale, wie geometrische Kristallisationen von Gemeinschaftsbewegungen sich in die Bauformen einbezirken und hineinzirkeln. Der Begriff der Vierung wird anders schwebend sichtbar; in ihr ist die Brechung und Gegenbrechung, Auf- und Abstieg der Kuppelwellen, die stärkste Scheidung des Sphärischen vor dem Chore und hier ist die Weite wie eine Zäsur in sich selber eingebrochen. Hier ist die innere Raumform am meisten struktiv verhärtet und doch kann sie gerade hier am meisten im kosmischen Gefühle bildhaft werden. Wenn man vom Hintergrunde des Mittelschiffs das Gewölbe entlangblickt, entsteht bis zur illusionären Magie unter den sphärischen Überschneidungen hin das Gefühl einer kosmischen Wasserwelle, die zwischen Ebbe und Flut bleibende Anschwellung eines schöpferischen Meerlaufs, der den von Menschen begangenen Luft- und Lichträumen wie mit einer merkwürdigen Verkehrung übergeordnet scheint. Dies ist ein Umtausch in den Kräften des Sehens, für welchen Säulen und Pfeiler nur Aufspannungen sind und wozu die in der Mitte umlaufenden Emporen und Balkone nur die mitspielende Dramatisierung eines Zuschauersinnes in der entscheidenden Zone und Hälftung hineinschieben. In der schwingenden Gebrochenheit der hohen Gesimslinien erhält dies alles nochmals seinen positiven und abstrakten, bindenden und lösenden Takt.

Noch anders und doch ebenfalls wieder wie eine Umkehrung wird diese Raumform deutlich; so nämlich, als ob sie aus dem Leichten ins Schwere herabgesenkt einem Zelte gleiche, als ob die Säulen mit ihren schweren Sockeln, womit sie mit ihren Hinterlagen auf dem Boden ankern, Pendel wären, an denen die Sockel wie Gewichte hängen. Daher auch der Eindruck, als ob der Raum sich erniedere und unter der aus den sphärischen Abschnitten zusammenströmenden bildhaften Wölbung für den Blick noch hallender und also zwischen Blick und Schall nochmals unterteilt werde. Und darin unter der Mitte nun ein Altar, der mit keiner Form zu beschreiben ist; er ist selbst wie ein Zelt aus Muschelungen steigend, ein hochgestellter Pavillon, eine Sänfte, ein Brunnen mit Gittern um unsichtbare Wässer, eine Höhlenform, eine Ampel, eine Komposition aus meteorischen Lichtflüssen, wie auch die Formen an den Scheitelsteinen der Kirchenfenster hier sind. Er ist ein Element der Sichtbarkeit in den unsichtbaren Schällen der Raumhöhen, und wenn die ganze Grundrißform dieses Baues in die Quere treiben will, so faßt er alles wieder mit dem Chore in Kreis und Länge. Der ganze Raum greift aber um ihn wie Musik ineinander und zugleich wie ein einziger, echogetragener Hall. Balthasar Neumann ist ja auch der Architekt, der, als man die Festigkeit des Gewölbes an einem seiner Bauten bezweifelte, sich erbot, Kanonen darunter abfeuern zu lassen. Man denkt an diese Geschichte, indem man immer wieder diese Ganzheit eines Baues betrachtet, dessen Räume wie Schälle und wie Salven sind und der etwas in seinem Wesen hat von den Feierlichkeiten einer theophorischen Prozession oder des Fronleichnamsfestes.

Man wird nicht fertig mit der Betrachtung dieses Baues im fränkischen Lande, dessen Erbauer ein Militäringenieur, ein Mathematiker und ein Universalarchitekt war und der seine Kirchenbauten unter den Titel gestellt hat »die Lieb zur Zier des Haus Gottes«. Man bricht ab mit dem Gedanken, daß sich die Formen unendlich fortsetzen können; aber die Zeiten versagen.

[Vierzehnheiligen]

[Vierzehnheiligen, Gnadenaltar]

Würzburger Postkarten

Allerdings, indem man sich beifallen läßt, die Schönheit der fränkischen Stadt Würzburg an der Hand von Postkarten wieder in die Erinnerung zu locken, ist gleich der Anfang, nämlich wie man in die Mainlandschaft herein- und unter dem feingemischten Duft von Wasser und Sonne zwischen den grünzeiligen und steingrauen Hügelweiten heranfährt, für die kleine photographische Ansicht nicht faßbar. Wie nach Durchfahrung der Frankenhöhe die Nähe der Stadt sich anzeigt, wie sie vorbereitet wird durch Mauergürtel als Reste alter Zeiten um kleinere Orte, wie von diesen Sedimenten der Geschichte der Blick hinüberspringt zu dem steinernen Zwischengefüge von Mauern, Treppchen und schrägen Bergstraßen in den Rebhängen, wie dann das grüne Gras dicht und strähnig am Ufer hineinhängt und der Mainlauf oft wie ein grüner Weiher die offene Natur widerspiegelt, dies mit seinen vielen und feinen Kontrasten ist ein Erlebnis, welches man nicht in eine Ansicht fassen kann. Es ist so vielteilig und fließt doch so einheitlich zusammen wie der kommende Wein in dem Werden der unzähligen Traubenbeeren. Oder es ist wie der Duft und die Erinnerung der Geschichte, wenn sie ihre augenblickliche Schwere verloren hat. Und ein solcher Duft liegt über der schönen Stadt Würzburg, wo das Schwere alter Zeiten immer wieder in die leichtere Gelöstheit verwandelt jetzt um uns ist.

Auch der volle, grüne Rundgürtel, mit dem das Stadtbild im Umlauf des alten Mauerringes an den Main geschlossen ist und den der Stadtplan zeigt zugleich mit der natur- und architekturvollen Unterbrechung durch die Residenz, dieses ruhende Band mit seinem Inhalt von Häusern, Kuppeln und Türmen, entgegengeschwungen der anderen Mainseite, wo über Felsgassen und alten Kirchen die Festung des Marienbergs ein trotzig-liebliches Widerlager bildet, auch dies ist noch kaum in eine überzeugende Ansicht zu bringen. Das landschaftliche Ortsbild ist geschlossen und offen, lieblich und mächtig; es hat Mittelpunkte und doch keinen Mittelpunkt; es ist in Takte gestellt mit der ganzen Freiheit, die hierin das Mittelalter gab und das Barock hier fortgesetzt hat. Und die Natur ist hier diesem Sinne ähnlich; sie begegnet sich und entflieht sich; sie begrenzt sich, indem die fränkischen Auen sich über lange Hügelsäume wie über scharfe Firste hereintragen, und sie öffnet sich kräftig nach oben für eine kräftige Sonne. Lebendige Nähe und Unmittelbarkeit kann hier sein wie ein leichter Wirbel der Sinne, und doch legt sich alles wieder auseinander in schöne, ruhige Maße.

Doch, um nun die Postkarte zu ihrem Rechte kommen zu lassen: — man besieht etwa in einem Schaukasten die neuen photographischen Ansichtskarten, die noch nie so schön wie jetzt von Kunstdingen, aber auch von Naturansichten auf den Markt gebracht werden. Architekturen und Skulpturen kommen in ihnen durch die Mittelwerte des Grau zwischen Licht und Schwärzen besonders schön zur Erscheinung; und so wie das plastisch Sichtbare im Augenblick den merkbaren Vorzug hat, so kann auch eine ganze Gegend im plastisch sichtbaren Relief mit dem Wohllaut des sachlich-natürlichen und orthaften Rhythmus vor Augen gebracht sein.

Hier kommt nun wieder unser Würzburger Thema, indem wir darauf aufmerksam werden, wieviel und wie Verschiedenes gerade diese Stadt der Postkarte an Motiven und Ansichten gibt, sowohl aus der Landschaft wie aus den kunsthistorischen Objekten. Bau und Bildwerk, Umriß, Innenraum und figurale Gliederung fällt vor allem auf. Es gibt da ganze Kartenreihen voll baulicher und plastischer Zier und man ist versucht, diese Art bildnerischer Kraft und vielteiliger Schönheit, wie man sie in den Karten sieht, als den besonderen Charakter der fränkischen Stadt Würzburg anzusprechen. Etwas Figurales als Ort und Werk in unmittelbarer und lebensnaher Position begegnet uns überall. Es ist eine in sich gesättigte und auch im großen frohe Schaubarkeit, die etwa wie die Fassade von Neumünster oder auch in den Innenräumen vor dem nächsten Blick aufsteigt; und die kleinen Postkarten sind hier wie die einzelnen Noten dieses Orchesters einer kunstreichen Geschichte.

Man möchte sagen, Würzburg habe etwas »Steinseliges«, wie man es auch in den Karten sieht. Das Wort klingt nahe mit »weinselig« zusammen; und in der Vielzahl steinerner und profilierter Bildung ist auch eine Lust des Auges, welche sich mit allgemeiner Stimmung nicht erschöpft, sondern immer einem höheren und freieren Grad von Dasein zuzueignen ist. Dabei ist aber in dieser Stadt das einfache Leben mit den städtischen und geistlich-fürstlichen Kulturgraden untrennbar ineinandergeschoben, auch dies übrigens eine Eigenschaft eines mehr südlichen Stein- und Weinlandes; und in dem geklärten und profilierten Reichtum der mächtigen und vornehmen Residenz ist alles wie in dem Herrscherlager eines Souveräns beisammen. Sie besteht aus Motiven wie aus Einzelblicken, gesammelt zu einem großen Gesamtblick. Der ganze Formklang ist nicht malerisch, sondern folgt einem anderen, aus dem Kleinen ins Große greifenden oder auch das Große wieder mit nahen Elementen umziehenden, im Logischen strengen und im Sinnlichen heiteren Rhythmus. Das dürfte auch sonst für Franken und mit Betonung der zunehmenden barock-sinnlichen Heiterkeit für Würzburg gelten.

Die erste Ansicht soll uns die Patrona Franconiae sein, die zwischen den spätbarocken Heiligen- und Fürstengestalten mitten auf der alten Mainbrücke steht. Wenn vom Mittagläuten hier von all den Kirchenglocken der Sonntagvormittage die Töne melodisch über den Main hinhallen, daß sein gleichmäßiges Rauschen über ein langes Wehr hinab überwogen wird von ihrem vielfachen Klange, ist diese Patrona schon vom Sockel herauf wie ein kräftiger, aber schweigender und nur im Blick wirksamer Jubel. Dies ist ein besonders fränkischer Augenblick, weil die dichte Stadt auf einmal ganz offen ist und die Natur in diesem Zusammenspiel der Töne und Blicke von nahen und fernen Horizonten her gleich kräftig mitläutet. Die Blicke suchen das Echo für die Töne; die Festung Marienberg scheint noch näher und doch fremder mit ihrer starren und wehrhaften Schulterung über ihrem Rebhange, der wie eine Zeittafel oder Uhrtafel schräg am Berge liegt, zu ihren alten Türmen aufzusteigen. Dieser ganze Augenblick ist marienhaft wie ein Wort aus der lauretanischen Litanei.

Der Blick geht weiter zu Balthasar Neumanns »Käppele« auf der nächsten Höhe nach der Festung, zu dieser großen verschobenen Idylle von Zwiebeln und Türmchen, welche ebenfalls zusammen wie eine freudige Glockenmelodie sind. Ansichten locken hier die Erinnerung überall hervor. Eine Ansicht über die Kuppeldächer des Käppele hinweg greift über die unten verschwindende Stadt bis zur fernen Horizontlinie nach Norden und Westen. Eine andere Ansicht zeigt den aus barocker Kleinarchitektur gestuften Kreuzweg zum Käppele, diese Mischung von Passion und künstlerischer Lösung in katholischen Gegenden, welche auch an die notwendigen Passionen in der Geschichte und an die Rolle des Marienbergs im Bauernkrieg für Würzburg denken läßt. Die Stadt selber ergibt von diesen Höhen aus Ansichten, welche auch in der Postkarte, zwar entkleidet von der »altfränkischen« materialhaften und farbigen Gegenständlichkeit, doch ihren Reiz im Wechsel von Fluß und rhythmischen Baukörpern mit der hohen Freude der Vogelschau immer wieder öffnen. In der Steile der Hänge hier widerleuchtet die Sonne und die nächsten Rebenfelder reichen bis in die Stadt herein. Eine Ansicht vom Burghof mit einem unvergeßlichen Konglomerat von Kanten, Kuben und Rundformen erinnert uns an die Marienkapelle als eine altchristliche Zelle im fränkischen Lande. In der ganz gedrungenen Zentralform mit Nischen, worin sich Inklusion und Exklusion unlöslich verbinden, ist das Religiöse selber wie der unverbrüchliche Kern einer Festung.

Wieder auf der Brücke läßt uns eine Karte mit Türmen noch die Art ahnen, wie sich am Rathaus vorbei vom Brückenlauf zum Dome leicht hinab und hinauf wie ein Vogelflug die Straße gegen die Stadt wirft und so zuerst die Domfassade trifft. Etwas schmalhüftig, fast wie gotisch, steigt dieser Dom aus seinem romanischen Zeitalter auf, im Innern wie das benachbarte Neumünster barock inkrustiert und überflutet, wie sich in Würzburg die mittelalterliche Kunst der Räume so oft und reich barock überwölbt und ausgezweigt hat, wenn nicht wie bei Stift Haug ein strenges Barock selbst die Nachfolge antrat. Kerne und vor allem Wachstum kirchlicher Architektur enthält Würzburg, wie uns etwa als eine schöne und aparte Ansicht der von Neumann umgestaltete Innenraum der Augustinerkirche zeigt, wo das Neue wie ein Wind durch die alten Glieder geht. Aber um auch der Rivalin Bamberg zu gedenken, einen Dom wie den Bamberger, der wie eine schwere Waage die ganze »Justitia« der romanischen Baukunst sinnbildet, hat es doch nicht. Dafür zweigen sich aber seine Kräfte reicher auseinander auf engem Raume. Die Ansicht der Schönborn-Kapelle und wie sie einfach an einen Querarm des alten Domes angefügt ist, bleibt das unübertrefflich charakteristische Beispiel dafür. Das Lichtbild zeigt dies prächtig; aber die unerwartete und selbstsichere Wirkung muß man doch am Orte gesehen haben. So ist auch die in Maßen und Zieren wahrhaft städtisch schöne Gotik der Marienkapelle am Grünen Markt zu vielen Ansichten ergiebig; an ihrer Westpforte war ja auch der Standort von Riemenschneiders Adam- und Eva-Figuren. Aber auch dieses mittelalterliche Stadtbild gewinnt erst für die Besucher die lebendige Natürlichkeit; es soll auch der Markt des gesegneten Landes dazukommen, die Farbe der Früchte, und wie der einfache Mensch mit ihnen sein Fortkommen findet.

Überhaupt, indem wir dann die große formale Renaissancedialektik der Universitätskirche betrachten, indem wir an die Trakte des Juliusspitals denken, an das Leben des Geistes und der Bildung, an die geschichtlich großen Formen der Fürsorge, wofür noch weitere Beispiele vorhanden sind, was hat doch diese Stadt für eine eigentümliche Lebensmischung, alles sich gegenseitig vergleichend und erhebend fast ohne Kontraste. Das liebliche Mittelalter mit Walther von der Vogelweide und dem »Lusamgärtlein« darf man nicht vergessen; und die Säle der Residenz muß man einbeziehen mit dem Treppenhaus, das zu einer Bauform geworden ist, als ob alle Lebensformen zu einer feierlichen Abstraktion vereinigt werden könnten.

Um nochmals an unsere Ansichten zu denken, da würde nun erst recht die lange Reihe besonders der skulpturalen Einzeldenkmäler beginnen, und voran im Dome nur die außerordentlich rassenhaft schöne Dreikönigsmadonna zu nennen sein, oder auch das Taufbecken aus dem späteren dreizehnten Jahrhundert; und dazu aus Neumünster der Kruzifixus mit überkreuzten Armen, der wie ein Mittelpunkt mystischen Lebens aussieht. Man würde mit diesen Dingen an kein Ende kommen.

Und nun muß man noch an das erinnern, wofür es keine Postkarten gibt, den Glockenklang über der Stadt, das Vogelsingen im Hofgarten und dazu den Duft der Rosen, den Weintrunk in den kleinen Volksräumen des Juliusspitals und des Bürgerspitals und sonst noch, wo auch Mund und Zunge des kleinen Mannes an dem feineren Genüsse seinen Anteil hat; wieder diese Lebensmischung, wo auch das Geringe sich mit dem Feinen vereinigen kann; schließlich auch die Mozartstimmung um die Residenz, wenn von der abendlichen Aufführung die Lichter herausleuchten. Mit vielem anderen soll auch der ruhige Abend auf dem Balkone höher über der Stadt nicht vergessen sein, als der Besucher von dem Würzburger Kirchenhistoriker Sebastian Merkle mit noch einem schwäbischen Landsmann von der Universität zu einer kühlen Bowle eingeladen war. Die Reden flossen ruhig, die schöne Stadt lag tiefer unter ihren nächtlichen Lichtern und seitlich hoch hinter einem nachtdunklen Baume stand die feierliche Mondsichel scheinbar nah über dem gartenreichen Hügellande.

[Würzburg, Alte Mainbrücke und Festung Marienberg]

[Würzburg, Das »Koppele«]

[Würzburg, Residenz, Treppenhaus]

[Würzburg, Neumünster, Christus]

In Ulm und um Ulm

Schwäbische Kunde

Der kurze Blick, der sich plötzlich schräg über den weiten Lauf der Donau zum Münster öffnet, während die Bahn über die Brücke nach Ulm hereinrollt, ist einer jener Reisepunkte, die im Gedächtnis bleiben. »Malerisch«, sagen wohl die meisten Betrachter, wenn sie sich das zugleich landschaftliche und städtische Bild vergegenwärtigen, wie es über dem beweglichen Wasser am langen Uferrande zu den Häusern und Giebeln, mit einer festungshaften Bestimmtheit, und dann zu der Stadtkrone des Münsters aufsteigt. In der Farbigkeit des Sommers ist der Blick noch malerischer, obgleich der Fluß schon den Zug von Größe hat, der über den kleinmalerischen Begriff hinausweist, und obgleich das Gürtelförmige des Festungsgefühls ebenfalls auf eine strengere Schönheit Anspruch macht. Ein anderer Betrachter jedoch ist vielleicht, besonders jetzt im Winter, mit dem Ausdruck »malerisch« nicht befriedigt; das Dunkle und das Helle verschränken sich im kälteren Winterlichte schärfer, das Fließende, das Feste und das Offene stehen in festen Sätzen und Gegensätzen, und er empfindet diesen Ausschnitt im Himmelsraum, der besiedelt ist, diese gestufte Schichtung, vom Wasser zur Erde, Stein und Mauer bis zu dem unbewegten Anker des hohen Turmes in der Luft wie ein tiefer eingezeichnetes und ausgewogenes geometrisches Gebilde. Ulm bedeutet keine entscheidende Landesoder Volksgrenze; aber in dem Bild der Stadt, so gesehen, erlebt man immer dieses feine und dabei sehr bestimmte Ortsund Grenzgefühl. Der Ausbau des Münsters, erst in unserer Zeit geschehen, hat es noch einprägsamer gemacht.

Es ist ein etwas abstrakter Bildsinn, den wir hier anrufen; aber seine Eigenart betrifft immer noch unsere Gegenwart. Es ist auch die Eigenart der Spätgotik; und wie sehr sind wir noch in der Spätgotik angesiedelt. Man erlebt es, wenn man durch ein gedrängtes, altertümliches Gemeinwesen, wie es Ulm und sein Münster und sein Rathaus noch bieten, hindurchwandert. Und will man dieses Stadtbild noch konkreter haben, indem man aus der tieferen Perspektive an seinen Mauerfronten zu den Türmen und dem Münster hinaufblickt, so fährt man im Zwange der Strömung mit der Fähre über die Donau von Ufer zu Ufer. Die Wintersonne steht schräg und blinkend über dem gleitenden Wasser und die Mauern halten sich dagegen in einem warmen Scheine. Oder man geht auf der Stadtmauer entlang, wo im Frühjahr kleine Gärten von Blüten sprühen und jetzt im Winter die ungehemmtere Sonne mit den steinernen Schatten eine architektonische Stille bildet. Auch das ist nicht malerisch in einem billigen Sinne. Was geschichtlich gewachsen ist, verdichtet sich zu einem tieferen, gesetzmäßigeren Hausgefühl. In diesem Gefühl sammelt sich das Gefüge dieser Stadt wie ein altes graphisches Bild, und in der Mitte, durch die Freilegung des Platzes demonstrativ sichtbar gemacht, steht das Münster als die Symbolform des geschichtlich gewachsenen Hauses.

Schwäbische Kunde - ich weiß nicht, ob man irgendwo in Deutschland so sehr zu achten geneigt ist auf den Klang des Dialektes, auf die Art von Denken und Verkehr, auf das eingeborene Wesen des Stammes, der, mag auch der publike Geist noch so eifrig die menschliche Uniformierung betreiben, seine private Natürlichkeit unvermindert behält. Der schwäbische Sinn ist scheinbar leicht zu durchdringen. Aber schon die ungemeine Angeregtheit und Rührigkeit des Charakters, die sich in einem Gemeinwesen wie Ulm nach dem Kriege geltend macht, bildet einen eigentümlichen Kontrast zu der gleichzeitig lustigen Bodenständigkeit, die jeder aus schwäbischen Liedern oder im Anblick des ländlich-städtischen Gebarens zu erkennen glaubt. Der Schwabe hat auch seine besondere Art von Beschaulichkeit. Vom Bahnhof herein ging ein älterer Herr, barhäuptig und etwas martialisch in der Wintersonne, begleitet von einem jüngeren Herrn, von dem er sich nun verabschiedete. Er hatte offenbar von dem jungen ein Geschenk bekommen, bedankte sich und versicherte: »I gucks immer wieder a.« Eine einfache Philosophie der Beschaulichkeit; wer mag sich in Deutschland noch so drollig ausdrücken? Aber schließlich sind aus solcher schwäbischen Beschaulichkeit einige unserer bedeutendsten deutschen Philosophen herausgewachsen. Friedrich Theodor Vischer hat sich einmal über das eigentümlich gemischte schwäbische Naturell breiter ausgesprochen und dabei den Sinn des Württembergers in ein kurzes Wort zusammenzufassen gesucht: »Es ist, was der unlösbarste Widerspruch scheint, das Moment der Reflexion in sich, des freien und kritischen Selbstbewußtseins in der Form der Naivität.« Vischer warnt dabei den Landfremden, der etwa glaubt, sich zu der erwarteten Naivität ironisch verhalten zu können, und meint, daß ihm diese »etwaige Lust leicht selbst als Naivität könnte zu stehen kommen.«

Neue Kirchenbaukunst

In Neu-Ulm ist in den letzten Jahren eine Kirche fertig geworden, die nach Bau und Ausstattung im Zusammenhang mit den modernsten Stiltendenzen steht. Der Bau, eine katholische Stadtpfarrkirche, zum Gedächtnis der schwäbischen Krieger mit einer besonderen pagodenartigen Nebenkapelle versehen, stammt von Dominikus Böhm, der durch seine Tätigkeit am Rhein noch weiter bekannt ist. Es ist soziologisch besonders anzumerken, daß heute in kleineren Städten die neue Entwicklung schneller zu Resultaten kommt, daß man sich schneller entschließt und dem Gedanken der Tradition voraussetzungsloser gegenüber steht. In Ulm ist ja übrigens auch Th. Fischers Garnisonkirche entstanden, welche in die Substanz des älteren Formgedankens ein neues Bauempfinden einschweißt.

Böhms neue Kirche, die in Etappen, zuerst mit Portalbau und Eingangquerschiff, dann mit den drei Schiffen des Langbaues, mit Chor und Kapellen entstanden ist, kann der Gesinnung nach zu einem Beweise der augenblicklich fortschrittlichsten Empfindung im Kirchenbau dienen. Sicherlich ist diese Kirche sehr stark Empfindungssache. Ob sich die Kraft der Gestaltung in dem Sinne, wie wir eben das Wort »eingeschweißt« gemeint haben, in gleichem Maße weiter entwickelt hat, bleibt eine andere Frage. Ungewöhnliches liegt besonders in Einzelheiten, in den gezahnten, in Zickzack gebrochenen Längsmauern, die mit schmalen Fenstern (von Thorn-Prikker) besetzt sind, welche meist unsichtbar bleiben, wie überhaupt die Raumhaftigkeit immer von architektonischen Kanten und von gedämpften Lichtreflexen gebildet und gespeist wird. Die formal blasse, »astrale« Art des Gewölbes, die geschichtlich neutralisierte, gotische Spitzbogenform, alles scheinbar scharf ausgeschnitten, gerippt und räumlich gemacht und dabei doch manchmal wie zu einem Beleuchtungsproblem zusammenschrumpfend, alles zusammen bildet eine eigentümliche zeitliche Empfindung. In der gedämpften, gegen heftige Kraftpunkte abgestimmten Gesamthaltung bekommen die Zutaten von Plastiken, Wandbildern und Ausstattung eine besondere Bedeutung. Es machen sich dabei die Stil- und Empfindungsformen geltend, die sich heute gegenüber der Entwicklung auf eine bewußte Naivität zurückziehen wollen. Und überhaupt ist es merkwürdig, daß ein bestimmter Sinn des Fortschritts auch wieder in ein bestimmtes Gegenteil davon umschlägt. Zweifellos beweisen Kirchen, wie die von Böhm, daß sich ein neues Kapitel kirchlichen Kunstempfindens heute ziemlich schnell aufgetan hat. Wie sich dieses Kapitel schließen wird, ist eine andere Frage. Sie hängt mit den religiösen Problemen der Gegenwart zusammen.

Wiblingen

Im grauenden Morgen, als der Himmel von Sternen schon abgeräumt war, aber die Lichter aus den nächtlich dunklen Häusern noch wie rote Sterne einzeln gegen die grauschimmernde Straße schienen, welche in das winterlich erdige Land hinauslief, ging die Fahrt nach Kloster Wiblingen, nahe südlich von Ulm.

In solchem Zwielicht erschien der mächtige Baukomplex noch mächtiger, wenn man ihn auftauchen sah und wenn man dann in dem großen Hofe, umgeben von Pavillons und Bautrakten, stand und die geschweifte Fassade mit dem schräg vorgestellten, nur bis zum starken Kranzgesims des Gesamtbaues ausgeführten Türmepaar vor sich hatte. Der gewaltige Sattel des Daches wuchs in die Morgenhelle hinauf. In dem weiten, nur in Weiß und Gold getönten Innenraum, wo die Schulranzen der Kinder wie Tornister hinten an den Gewändesockeln lehnten, war gottesdienstliche Stille, in welche militärische Kommandorufe von außen hereindrangen, weil die kleine Garnison, die im früheren Kloster Wiblingen liegt, schon in Tätigkeit war.

Dieser herrliche Kirchenraum, in seiner spätbarocken, gegenüber der Rokokofreude durch Zurückhaltung vergrößerten und auch durch das Eindringen von klassizistisch kühlen Elementen ruhig gesteigerten Pracht, gibt einen Eindruck von hoher Geistigkeit. Dabei hat aber auch das Gefühl noch jene große Rokokoempfindung wie von Milch und Honig. Kuppel und Scheinkuppeln mit der Kunst des Januarius Zick, die flachen Korbbögen, die Ausbuchtungen, die das Raumgesetz lockern und zugleich wieder betonen, die Vierungspfeiler, die den Blick fesseln und den Raum befreien, die Verhältnisse von Sockel, Empore und Gesims, die schwere Architektur, die zugleich in manchen Partien wie zelthaft luftig ist, alles ist voll von einer geistigen Art, die man fast überpositiv nennen könnte. Es ist kultureller Reichtum, zugleich gehirnlich wie organisch kräftig, und man wird unwillkürlich zu weiteren Überlegungen gedrängt, wenn man etwa die Problematik des heutigen neuen Kirchenbaues dagegen betrachtet. Man wird auch an die Diskussion erinnert, die nach dem Kriege über einen Gegensatz von Katakombenkatholizismus und Barockkatholizismus (Hermann Bahr) eingesetzt hatte. Welche große künstlerische und geistige Kraft hat allein die merkwürdig kurvierte Linie des Kämpfergesimses! Ihre hochgeschwungene Feinheit wirkt vor allem nach, wenn man die Kirche verlassen hat.

Der Zufall wollte es, daß der Pfarrherr von Wiblingen ein Landsmann und Jugendbekannter war und auf diese Weise der Aufenthalt in dem prachtvollen Bibliotheksraum des Klosters, umgeben von den allegorischen Skulpturen, unter der geschwungenen und säulengetragenen Galerie, mit dem Blick durch die hohen Fenster bis nach Ulm, mehr sein konnte als ein bloßer Passantenbesuch. Die Schränke für das Buch möchte man fast mit Bienenstöcken vergleichen und die Architektur für das Buch im achtzehnten Jahrhundert ist selber ein äußerst verfeinerter Kunstbegriff, in dem die Resultate des Geistes in den künstlerischen Bestand eingeholt sind.

[Wiblingen, Klosterkirche]

[Wiblingen, Klosterbibliothek]

Ausfahrt ins Schwäbische

Ulmische Gedanken und Gänge

In diesem späten und stillen Frühling war die Erde wie verstockt und unbewegt geworden. Das Land hatte, soweit man sah, gewissermaßen seine geographische Fertigkeit, in der nichts geschah; es lag und schien ohne Erwartung. Nur an südlichen Hängen oder auch wenn man in die dürre Winterstille der Donauniederung blickte, gab es eine eigentümlich starke Farbansicht. Es waren die roten Farben von Zweigen der Weidenbüsche oder von den Kronen der Birken. Letztere waren kaum auffallend und doch, wenn man sie sah, bemerkte man die waldigen Hänge belebt wie Teppiche mit einem warmen violetten Rot, das über den weißen Stämmen regungslos stand. Es schien keine Farbe des Wachstums zu sein, sondern sie trat aus der stummen Landschaft wie eine andere Grundstimmung. Der Blick in die Vorfrühlingslandschaft zeigte eine nahende Natur an, aber er war doch noch ein Blick in eine Naturferne. Es war wie ein Gleichnis heutiger Kunst in ihrer besonderen und schönen Entwicklung.

Die Kunst ist nicht Natur und das Wort Naturnachahmung, mit dem man früher vor der Kunst theoretisiert hat, liegt uns heute nicht. Aber die Kunst hat Zeiten oder gewissermaßen seelische Gezeiten, in denen sie sich mit Natur füllt; nicht mit der Natur als einem neutralen Allgemeinbegriff. Sondern aus einem in der Kunst verborgenen Grunde erwacht eine Wahlverwandtschaft, aus dem Bedürfnis seiner Erfüllung erhebt sich ein Gefühl für das Kreatürliche, die Grundstimmung einer Farbe wird mächtig, und wenn man eine also gesättigte Kunst später wieder prüft, weiß man nicht, was nun zuerst mächtiger war, der wesenhafte Trieb der Kunst zur Selbsterblickung in einer Farbe oder diese Wahlverwandtschaft, welche sich in einem Spiegelsinn der Natur gefunden hat. Solche großen Zusammenhänge der Farbe haben gegenüber der leichteren Beweglichkeit des Impressionismus besonders in unserer neuen Kunstbewegung nach Geltung und Erfüllung gerungen.

Als ich in der großen Ulmer Ausstellung der beiden Münchner Künstler Karl Caspar und Maria Caspar-Filser die starke Leidenschaftskunst der letzteren auch in Frühwerken und die Gemälde des ersteren, besonders auch das frühe »Noli me tangere«, wieder sah, schlossen sich solche Gedanken über Natur und Kunst in ein gemeinsames Zeiterleben zusammen. Es war etwas Verwandtes mit dieser stillen, starken Vorfrühlingsfarbe, was, schwäbisch gespeist, am Anfang ihrer Kunst stand. Es war ein siegendes Hervorbrechen aus dem Grund der Natur in die farbige Bildfülle, was immer mehr zunahm. Und wenn man dieses Geschehen bedachte, das auch sonst in unserer Zeit gefunden werden kann, so kommt die unmittelbare Überzeugung, daß, entgegen allem Totsagen, die freie Kunst noch ganz in einer großen deutschen Jugend steht, daß sie noch eine ganze Geschichte und Zukunft vor sich haben muß. Zugleich fühlt man das Geheimnis zwischen Natur und Kunst selber wie etwas zuletzt Unbegreifliches, wie ein »Noli me tangere«, das in jeder Zeit einen neuen geheimen Zusammenhang schafft.

Ich sprach diesen Gedanken, so wie er zwischen mystischem Anschein und tatsächlichem Anblick angesichts der Bilder schwankte, aus, als ich unter den fremden Ulmer Gästen Theodor Fischer nahe kam. Eigentlich ist man mit solchen Gedanken gerne selber im Zweifel, weil rein die Tat entscheidet und der künstlerische Entstehungsgrund im Persönlichen verborgen bleibt; und weil hier auch der Zweifel wirklich zum Positiven und Zweifellosen fruchtbar antreibt. Man sieht es deshalb gerne, wenn in dem Gesichte des Angeredeten, wie in diesem Falle, ein leises und feines Lächeln erscheint, indem man doch weiß, daß in dem Geiste einer selber im Weiten schaffenden und denkenden Persönlichkeit wie Theodor Fischer auch der Spielraum vorhanden ist, der das Hintergründige mit dem Positiven verbunden kennt.

Im übrigen sah man gerne, wie in einer so praktisch tätigen Stadt, wie es das schwäbische Ulm ist, die Kunst Anziehung auszuüben vermochte. Man sah die Herren aus dem Kreise der Bildung, darunter etwa das geprägte Gesicht eines Geistlichen aus dem Schatten des Münsters, die sich dem neuen und ungewohnteren Bildsinn hingaben. Und man sah aber auch junge Menschen und Kaufleute, die man sonst im Ausstellungspublikum wenig findet. Auch fand man mit manchem Erstaunen, wie stark noch im Schwäbischen der Sammlersinn tätig ist, etwa in Stuttgart oder auch in kleineren Städten, ein Sammlersinn ohne viel Aufhebens, aber mit einer selbstverständlichen Besitzfreude. Es gibt in kleinen Städten, wie Biberach, noch eine Tradition in diesem Sinne, die wieder allgemein erwachen müßte. Den Ulmern macht es Freude, zu betonen, daß sie der Mittelpunkt Schwabens sind. Sie haben nicht Weniges getan, um diesen Anspruch auch mit Taten, die über den nächsten Lebenszweck ins Kulturelle greifen, zu beweisen. Es gehörte eine starke Initiative für das Bewußtsein des städtischen Organismus dazu, die Früchte trug. Das neue Ulmer Museum, das von Professor J. Baum geleitet und äußerst stattlich ausgebaut wurde, ist eine dieser Früchte. Das Museum ist in kurzer Zeit wieder um drei Räume mit Kunst aus der Grenze des Mittelalters zur Renaissance, an der Ulm reich ist, erweitert worden.

Am Blautopf

Es war kein Morgen von Frühlingslicht für das rätselhafte blaue Wasser in seinem großen Rund unter dem Halbdunkel der Bäume und in der Buchtung der Bergwand. Die Stille des Nachwinters hielt die weitere Alblandschaft unsichtbar und gefangen, und in dem mit Felsen wie Ruinen und Steinkanzeln besetzten Blaubeurer Tal lag der Morgennebel, aus dem die Höhenzüge und Felsenfirste oben heraus gezeichnet waren wie auf japanischen Landschaften. Um das alte Kloster, das ein protestantisches Seminar ist, lag philologische Stille, und auch ein Autobus konnte die Abgeschiedenheit nicht stören. Gepflegte, aber noch unbewachsene Gärten mit den gekrümmten Körpern der Obstbäume, vorkragende. hohe Giebel von Häusern, still umlaufende Bewegung von Menschen, gescheitetes Holz auf der Straße und immer wieder die schöne rostbraune Farbe von altem Gebälk und Holzteilen in den Mauern, es war in der blassen Nebelsonne fast wie ein noch wenig verändertes Mittelalter.

»Der Blautopf ist der große runde Kessel eines wundersamen Quells bei einer jähen Felswand gleich hinter dem Kloster. Gen Morgen sendet er ein Flüßchen aus, die Blau, welche der Donau zufällt. Dieser Teich ist einwärts wie ein tiefer Trichter, sein Wasser ist von Farbe ganz blau, sehr herrlich, mit Worten nicht wohl zu beschreiben; wenn man es aber schöpft, sieht es ganz hell in dem Gefäß.«

Mit diesen Worten, die in den Tonfall Adalbert Stifters hinüberführen, beschreibt Eduard Mörike das wunderliche poetische Wasser; damit beginnt er die neckisch reizvolle Historie von der schönen Lau, die in seinem »Stuttgarter Hutzelmännlein« steht und die für Schwind der Anlaß zu Zeichnungen von lächelndster Anmut wurde. Man geht in der Anlage um das Rund des märchenhaftblauen Wasserkessels, welcher ein Blau hat, das mit der Natur nichts zu tun zu haben scheint. An der Seite ist unter dem Wasserspiegel das lebhafte Grün von blätterigen Wasserpflanzen; die immer bewegte Mitte zeigt ihr reines, fast materielles Blau, eigentlich ohne Naturstimmung. Auch Märchen haben keine Naturstimmung, was man so Stimmung heißt. Damit ist der Anblick hier verwandt. Es ist Träumerei um dieses von alten Bäumen an den Seiten herein überkreuzte runde Wasser; aber es ist schwäbische Träumerei, die sich nicht verliert. Sie blickt vom Engen ins Weite, sie hat in ihrem Spiegel ein bewegliches Leben.

Im alten Klosterchor

Eine Schar Kinder kam mit herein, welche im Autobus gekommen war und im halbsonntäglichen Anzug ihren Konfirmandenausflug machte. In dem hohen hallenden Chor, voll und doch leicht gefaßt von dem figürlichen und dekorativen Spiel spätgotischen Zierats, war zuerst staunende Zurückhaltung und dann eifriges Sprechen und Betrachten. Der große Schreinaltar, ein Komplex schwäbischer Kunstarbeit, wurde ausgefaltet und zeigte wie ein Buch sein farbiges Gold in den heutigen Alltag. Die berühmte Madonna des Gregor Erhart stand in der Mitte. Das braunhölzerne Chorgestühl von dem jüngeren Jörg Syrlin, dem Sohne des Syrlin, der das berühmte Chorgestühl im Ulmer Münster geschaffen hat, faßt mit seinen schlanken Linien und seinen Büsten den Raum ein. Es ist eine merkwürdige Stimmung von Historie und einem darüber weilenden zeitlosen Lichte.

Eigentlich hat ein solches Ausladen des Chorgestühls seitlich in den Raum herein etwas Museales. Aber es ist kein Museum von Dingen, sondern ein Sammeln von Menschen, eine historische Gewordenheit. Es ist ein Schaugedanke, aber er geht aus einer geistigen Betätigung hervor, und die Büsten am Gestühl betonen mit einer lehrhaften Kraft diese geistige Sammlung und Betätigung. Auch das Dreikant des zierlich in den Raum vorspringenden Abtserkers, die Emporenöffnung über dem an der Vierung abgeschlossenen Chore, alles gibt dem aufgelockerten und doch geschlossenen Raumcharakter einen eigentümlich beschaulichen und doch lebhaften Sinn. Man steht wieder an einem Orte der Gotik. Der ganze Bau ist wie ein Schrein, in dem sich die Gedanken um den Sinn der Formen beim ausgehenden Mittelalter versenken. Aber er hat zugleich eine heitere Lebendigkeit, die mit der Schönheit des Tales von Blaubeuren, über dem nun die Sonne durchkam, in der Erinnerung bleibt.

[Blaubeuren, Klosterkirche]

[Blaubeuren, Klosterkirche, Madonna von Gregor Erhart]

Eine Reise in die Vergangenheit

Ferienfahrt auf dem Rhein und Untersee

Unter dem Lauf der Morgensonne und etwa in ihrer Richtung, mit der sie über das Wasser glänzend daherkommt, ist die Schönheit des Bodensees geöffnet. Die Schräge zwischen Meersburg und Konstanz ist wie eine Schwelle, über welche die größere und unfaßlichere Schönheit des im Endlichen verschwimmenden Obersees übertritt in die faßlicheren und näheren Schönheiten seiner westlichen Glieder. Wo hier der See durch Begrenzungen natürlich köstlicher wird, sind auch die geschichtlichen Zellen deutscher vergangener Schönheit noch mehr versammelt. Goldbach ist bei Überlingen an den See gedrängt wie eine kleine versteinerte Scheune oder ein unveränderlicher Reklusenbau geschichtlichen Geistes. Das ist die so einsinnige und sichere Wirkung einer altgeistlichen Zelle an ihrem tausendjährigen Orte, wie sie, um etwas Disparates und doch auch am Bodensee Ortseigentümliches zu vergleichen, kein erratischer Block so unmittelbar und gefestigt in den Blick setzen kann, und doch ist die geschichtliche Schönheit eines solchen kleinen Baues, der wie ein früher und noch einsamer Grenzstein der Religion ist, gegenüber einem irrenden Wanderstein wie ganz zerbrechlich. Es ist überhaupt die ganze Sinnfälligkeit des Gegensatzes zwischen der inneren Blindheit des Naturkörpers und der inneren Wachheit der frühen Kunstzellen, die man so am Bodensee erleben kann. Und wenn jenseits die weiße Schönheit des Gebirges mit dem Säntis dazu in der weiten Blauwölbung aufgeht, steigert sich die innere Blindheit der körperhaften Welt hinauf zu einer zugleich ätherischen und blinden Vision.

Jenseits des Bodanrückens im Untersee warten dann auf der Reichenau die weiteren Zellen frühen christlichen Deutschtums. Auf der breiten Rinne des Rheins fährt man mit dem Motorschiff von Konstanz in den Untersee heraus. Das Bild der Insel hat sich bald mit stiller Schnelle in die schöne Morgenspiegelung geschoben. Sie trägt ihre kleinen Siedlungen auf ihrer schmalen Länge, und die kleinen Kirchenzellen stehen mit kleinen Firsten und mit kleinen Turmhelmen, aber mit der Genauigkeit von körperlichen Maßen, welche ihre Größe eben in dieser Genauigkeit gleichsam gewichthaft erreicht haben, wie in alten Zeichnungen gegen den Himmel. Diese Formen sind nicht blind, sondern sie sind gegen oben und gegen alles Unbestimmte abgeschnitten und in sich durch Stufung bezirkt, und eben dieses Gestufte, das gegen die beschaulichen Sinne geschärft ist und dadurch gewissermaßen nichts Verweilendes hat, weist viel weiter als auf eine bloße Gegenwart. So gewinnt der Anblick der Insel etwas, was wach ist und über das Heimatliche hinausgeht.

Diese alten Zellen, Mittelzell, Niederzell und vor allem das zuerst sichtbare Oberzell, bedeuten, obwohl sie wie Urbegriffe von Behausung sind und als Kerne in den ländlichen Häusern liegen, doch zuinnerst das Gegenteil von Behaustheit. Mit ihnen liegt das Christliche im Deutschen, und diesem Volk von innerlicher Unruhe, das doch wieder einen ganz besonderen Willen zur Behaustheit und Heimatlichkeit hat, ist damit für seine Geschichte im Mittelalter zu seinem eigenen Triebe noch die christliche Unruhe in die Anlage gesenkt worden. Und während es sich immer mehr auf seinem eigenen Boden eingründen will, muß es wachbleiben für alles weitere.

Aber wer im Durchschnitt mag heute aus den Formen unserer Vergangenheit ablesen, wie unser Schicksal geflochten und unsere Geschichte gegen alle bloße Abfertigung in der Gegenwart fortzutreiben ist. Eine Dame von den Mitfahrenden sagte, sie wüßte nicht, was man einen ganzen Tag auf der Reichenau tun sollte. Der Mann antwortete: Im Wasser liegen. So weit sind wir von den Zellen unserer wesentlichen Vergangenheit entfremdet.

Man fährt an der Seite der Insel im Untersee weiter. Die Dinge sind wie aus dem Duft geboren, der sie wieder in sich zurückholen möchte. Die Schönheit eines solchen Herbstmorgens ist so, daß sie, während man alles gleich dem Wasser in seinem einzelnen Wandel genießen möchte, die Kraft hat, die Sinne aus sich selber zu entziehen. Gleich dem Wasser scheint alles ein fließender Zustand zu werden. Man beobachtet nicht mehr, sondern wird selber wie zu nichts und ist doch in einem Gefühl, als ob man von der Natur in diesem spiegelnden Nichts beobachtet sei. Alles voneinander getrennt fließt doch wie der Spiegel der Luft im Wasser und ist zugleich wie geborgen an einem ewig bewegten Gestade. Es ist ein Vergessen in der Natur. Dann aber, indem sich der ganze Morgen auf einen spiegelschönen Tag richtet, hat der deutlich gewordene Herbst doch auch die Eigenschaft, eine Empfindung verwirklichter Nähe zu geben, das Erntegefühl aus der Natur heranzustellen und, indem das farbigere Herbstland für die Blicke gewissermaßen eine stärkere Lautheit hat gleich den Altertümern der Geschichte, die Sinne in ähnlicher Weise wieder auf die begegnenden Bilder der Geschichte hinzulenken. Die kleinen oder doch mehr innerlich großen Zellen der Reichenau sind vorbeigeglitten, wir fahren zu einer spätgotisch heimatlicheren Stätte, als es das romanische Hausungsgefühl für die meisten Deutschen ist. Aber im Hintergrund hatte sich das Konstanzer Münster lange wie ein mächtiger Weiser in den Horizont gezeichnet. Es hat sich gotisch zusammengeschlossen über seinem romanischen Mittelschiff, welches ein Symbol ist für ein altes Christentum, welches sich immer noch größer öffnen und nicht schließen kann. Diese große romanische Zelle in Konstanz bleibt uns als Maß romanischer Wachheit im Gedächtnis.

Wir fahren aber nach Stein am Rhein. Es ist ein Vormittag, in dem die Wasserbläue gegen das Goldige des Herbstes steht, und indem man nun einen nahekommenden, echt mittelalterlichen Klosterbau erblickt und weiter gegen die Landestelle anfährt, ist es wie ein gotisches Bild, das um so werkhafter und nahwirklicher gebildet aussieht, je mehr es aus imaginären Spiegelungen entstanden und nun herausgetreten scheint. Die großen Spiegelungen sind nun weg und alles ist nah, heimatlich und wie eine täglich gebliebene Geschichte. Die Hauptstraße, die auf das Rathaus zielt und es umgabelt, ist mit diesem und mit den anderen Häusern voller Namen, Bilder und Anschriften. Sie ist am Ende der Gotik zur Renaissance auch mit ihrem späteren Einschlag stehengeblieben und ist voller »Legende«. Wir nehmen dieses Wort gerne, indem es uns (in einem spezielleren Sinn als dem dichterisch-literarischen) bedeuten kann, daß in dieser Zeit der Geschichte der deutsche Sinn zu sich selber umgekehrt ist, herausgetreten aus den Spiegeln der großen Wachheit und einbehaust in der nahen und buchstäblichen Selbstversicherung. Nun will sich der Deutsche in seiner Gegenwart fixieren. Es ist der Zustand, in welchem sich das engere Volkstümliche charakter- und bildhaft herausstellt, ein Beginnen, zu dem sich auch die Allegorien der römischen Antike als noch stärkere Altertümlichkeit einspendieren lassen. Es ist das Beginnen einer neuen Bewußtheit gewesen. Aber je mehr sich diese bilden wollte, desto mehr verlor sie sich in zweierlei Richtung. In der Richtung des Absoluten ging die kreatur- und dinghafte Nähe verloren; in der Richtung des Volkhaften und Deutschen floß die Gegenwart, je mehr sie sich selber heranstellen wollte, in die Vergangenheit und in die »Legende« wie in eine fortwährende Selbsterinnerung ab und blieb dann im nahen Brauchfertigen stehen. Das dauernde Gleichnis der Gegenwart erging sich in einzelne Kräfte und das Volkstum bildete sich wie ein Rest der kosmischen Größe, gegen welche es auch die Macht der frühmittelalterlichen Aufspaltung verlor.

Es ist ein eigentümlicher Zustand, in welchen solche alten Städte wie das schweizerische Stein am Rhein, das in seiner Art mit ähnlichen deutschen altertümlichen Städten wetteifert, das deutsche Gemüt versetzen. Sie sind die einzigen Orte, die zunächst für jeden Deutschen ohne Gesinnungsunterschied eine geschichtliche Wärme bewahrt haben. Es gibt vor allem auch kein ungebildetes und selbst kein gegen die Werte der Vergangenheit roh gewordenes Gemüt, das hier nicht in eine gemeinsame Anschauung und in ein gemeinsames Echo sich zu vertiefen eine oft unbeholfene Neigung noch immer fühlte. Man sucht hier Wurzeln, wo — darf man dies sagen? — vielleicht gar keine sind. Wo eine schon weitentwickelte deutsche Daseinsform, je mehr sie Gegenwart werden wollte, sich gewissermaßen selbst überholt hatte und dann als eine schöne Erinnerungsform, ein Ziel der Wünsche an einem gealterten Ende, stehengeblieben war. Jeder Deutsche fühlt an solchen Orten besondere Fasern seines Wesens sich rühren; aber es bleibt schwierig genug, weil auch schicksalhaft mitbestimmt, diese geschichtliche Rührung in eine psychologische Kunde zu verwandeln.

Dieses kleine Rheinstädtchen, besiedelt von schweizerisch behaglicher Geschäftigkeit, bringt noch ein stärkeres Moment zu solcher Besinnung. Malerisch und entzückend als baulichen Hauptpunkt des Ortsbildes wird man mit dem gewöhnlichen Sprachgebrauch sofort den Anblick des Klosters Sankt Georgen nennen, wenn man mit dem Schiff heranfährt. Erker und Vorkragung, Dächer und gotische Fenstergruppen, die fachwerkhafte Auszweigung von Obergeschossen und bedachten Giebeln, das Holz in der Bauwand, das uns immer deutschsinnig anspricht, dazu die Schönheit einer über das Randwasser hängenden Baumgruppe, die Steinbank über dem Vorbeiflusse alt und beschaulich, das »Rheintörli« als kleiner gotischer Durchlaß aus dem inneren Hofe, so ist die gesamte Anlage schon von außen wie ein verweilendes Zeitalter. Alles ist da wie Erinnerung, und nun dazu erst das Innere des Klosters mit seinen zahlreichen, meist kleinen Räumen, das zusammen als eine besterhaltene spätmittelalterliche Klosteranlage in öffentlicher Obhut steht. An der Sorge und musealen Verwaltung dafür ist heute die Gottfried-Keller-Stiftung beteiligt. Durch den Kaiser Heinrich den Heiligen kam das Klösterchen vom Hohentwiel nach Stein, und um 1500 empfing es noch vollends die Ausstattung, die uns heute ein ganz seltenes Bild geistlich-häuslicher Vergangenheit aufbewahrt hat, während das Kloster gleich damals als solches aufgehoben wurde.

Gewiß ist in der Beschaulichkeit, mit der die Besucher eine solche historische Wohn- und Klosterstätte genießen, wie auch in der Betreuung solcher Orte oft etwas mit dabei, was man als musealen Vorwitz bezeichnen kann. Der konservatorische Charakter nimmt bei Dingen, die nicht mehr groß in ihrer frühen Form, sondern verzeitlicht, verhäuslicht, individualisiert sind, gern eine solche Wendung. Alles ist hier zu einer Zeittümlichkeit geworden, alles ist nur noch vorhanden in einem »narrativen« Elemente; es erzählt den Augenblick einer Gewesenheit. Der Deutsche speist hier seinen Sinn für historische Romantik, der unsere letzten Generationen kennzeichnet (und dazu manche Volkskörper wie auch den schweizerischen wohl mehr als andere), der aber vielleicht ebenfalls als Zeiterscheinung im ganzen mehr ein Bedürfnis nach unseren deutschen Wurzeln gekennzeichnet hat als ein Wissen, wo sie gründen. Wir möchten immer in unserer Vergangenheit lieber an die sichtbaren Enden anknüpfen als an die unsichtbaren Anfänge. Wir suchen die geschichtliche Erscheinung, wo sie uns in der Empfindung auch besonders ehrwürdig geworden ist. Und es ist paradox, daß uns die charakterhafte Alterserscheinung ehrwürdiger sein will als die noch ältere Jugenderscheinung; so daß uns durchschnittlich etwa ein Bau- und Bildwesen wie Oberzell zwar fremder, aber nicht im gleichen Sinne ehrwürdig ist wie eine »behaustere« und zeitnähere deutsche Vergangenheit.

Es liegen hier noch tiefere Beziehungen eines Volksgeistes und besonders des deutschen zu seinem Wachstum und seinen geschichtlichen Vorgängen verborgen. Die wichtigste ist vielleicht diese, daß der Deutsche in seiner Spätgotik mit ihrer Wendung zur Renaissance die ausnahmlichste Realisierung seines nicht individuellen, sondern generationellen, im Erbe sichtbar bleibenden Gemeinschaftstriebes erkennt. Die Spätgotik stellt sich in malerische Allgemeinformen um, obgleich sie sich »häuslich« individualisiert; sie hat nicht mehr die aus einer Ganzheit geschnittene »Individualform« oder besser die gegen das generationell Vererbliche gerichtete ewige Teilform der frühen Zellen. Die spätgotische Teilförmigkeit veraltert, sie gibt uns damit die Lust am Anblick der Geschichte. Die frühe Teilform altert nicht; sie ist den Heutigen aber indes meist wie eine fremde und dem Gemüt unverstehbare Größe. Auch eine alte Kirche hat Stein am Rhein, die gegenwärtig restauriert wird, und die noch ein säulenhaftes romanisches Mittelstück hat, das uns an Konstanz erinnert; und sie stellt damit neben das heimatliche museale Kloster den Gedanken an das größere Alter.

Die Lust am Anblick der Geschichte soll nun aber nicht getrübt sein. Gewesene Geschichte bleibt Schicksal und Genuß zugleich. Selten, daß einem Ferienwanderer die Schönheit von klösterlicher, bildungsfroher und volkstümlicher Gesinnung in vereinter Verwirklichung so nahe kommt wie in diesem spätmittelalterlichen Klösterchen. Neben den Räumen des Mönchsklosters ist besonders die Abtswohnung eine Behausung, in der man sich Dürers »Hieronymus im Gehäus« unmittelbar vergegenwärtigt. Räume wie das Speisezimmer mit seinem von einem Netzgewölbe überkrönten Erker, der auf den Rhein hinaushängt, oder wie den Festsaal mit seinen Wandbildern aus der römischen und karthagischen Geschichte, mit Heldenfiguren und Volksgenreszenen, wird man nicht mehr vergessen. Raumformen und Bilder sind von allem Weiten abgerückt und kommen nahe wie eine intime festliche »Legende«. Alles ist dinglich und figürlich ablesbar und das Vergangene bildet eine begehrlich lusthafte Gegenwart. Zum Überfluß findet man noch in einem Scheunenraum eine mächtige »Kloster-Trotte«, eine Obstpresse mit einem groß zurechtgeschnittenen, ganzen, gegabelten Eichenbaum als Hebel und einer großen Holzspindel, ein Anblick des Alters und des Brauchtums, der mit den Rebenhängen der Gegend alles Gedankliche in die frohe Gewißheit ländlichen Lebens entlädt.

Die abendliche Rückfahrt nach Konstanz auf dem Rhein und dem in der scheidenden Sonne funkelnden Untersee, wo sich schließlich alles in eine weite, von Vögeln belebte, von Schilf umgrenzte Wasseraue auftut, bevor die nahe Stadt wieder kommt, gibt noch jene Abendstimmung, in welcher Unruhe und Vergessenheit wunderlich gemischt bleiben.

[Konstanz, Münster]

[Reichenau, Mittelzell, Münster]

Arche im Licht

Die Abteikirche in Neresheim

Im dunkelnden Frühlingsabend erblickt man die hochgelegene, fast wie aus einer Schwermut der kargen Landschaft hinaufgetragene Klosteranlage von Neresheim mit der aufgegipfelten Kirche darin gleich einer Art von Burg. Eine geistliche Burg blickt herab, deren Trakte wie lange stille Mauerbänder über der Landschaft stehen. Oder indem man sie in starken Winkeln um sich geschlossen sieht und ihrem Inneren zugekehrt, aus welchem ein hoher Turm und daneben eine schwere geschwungene Fassadenkrone in die dunkelnde Himmelsweite ragen, fühlt man auch, daß dies kein Herabblicken ist, sondern ein in sich versammeltes Werk von Räumen und Herzen. Langsam lischt das Abendlicht an dem steinernen Gefüge aus; die Glocken töne haben ausgeklungen und eine stumme nächtliche Feste liegt hoch zwischen weiten Horizonten.

Wenn man nicht wüßte, daß die Kirche auf der mauergegürteten Höhe, die man besuchen will, ein Werk des Johann Balthasar Neumann ist, das überreife Spätwerk des großen Kirchenbaumeisters aus dem lichtsinnigen achtzehnten Jahrhundert, so würde man, von der Neresheimer Straße abends hinaufschauend, wohl kaum ahnen können, wie viel Licht innerhalb des Komplexes der spätbarocken Abtei in diesem Kirchenkörper eingeschlossen ist; so viel Licht, daß man ihre steinerne Erscheinung, nachdem man sie anderen Tages von innen und außen zu sehen begonnen hat, als eine »Arche im Lichte« bezeichnen möchte. Auch wenn man sie am Morgen wieder erblickt, um dann auf einer Baumallee hinaufzugehen, die an der ruhevollen Schräge des Berges seitlich hinaufführt, ist von ihrer inneren Lichthaftigkeit noch wenig zu raten, da die Fassade mit ihrer Vorrundung und ihren turmartigen Eckflanken (gegen Neumanns Originalabsicht eine später teilweise vereinfachte, ins Klassizistische gewendete Ausführung) eine nach oben fast blinde steinerne Ansicht weist. Sie wirkt mit sattem Giebel und frei darüber geführtem Oberbau als feste Masse zwischen Halt und Auflösung, und nicht so sehr mit aufgebrochenen Endigungen, und auch nicht mit der vornehmen doppeltürmigen Vollbrüstigkeit der Fassade von Vierzehnheiligen. Gegen diesen ihr zeitlich kurz vorangehenden fränkischen Bau Neumanns, der in reinster Technik des Geistes materialhaft aus der Zeit gehoben ist, wirkt die schwäbische Kirche in ihrer verspäteten Gestalt, wenn man es so ausdrücken darf, rumpf- und torsohaft, auch mit der kompositionellen Zubenützung des noch vorhandenen, sehr schönen Renaissanceturmes. Oder, wenn man es noch allgemeiner sagen will, die äußere Baugestalt beginnt wieder in die historischen Pflichtmaße zurückzustürzen, in welche sich die Architektur einer jahrhundertegroßen Entwicklung jetzt nach der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts allmählich verlieren mußte, um dann nicht mehr mit dem Schwung einer vitalen Kontemplation, sondern mit dem klassizistischen Form- und Pflichtgesetz wieder erhoben zu werden. So ist diese Kirche von außen ein zwar hochregulärer »Torso«; aber im Innern ist sie (trotz der Abminderung von Neumanns Originalabsichten) ganz anders. Es ist ein Kontrast von unglaublicher Lebendigkeit und die Art des Rokoko, daß es den Außenbau desto karger schließt, um das Innere desto mehr zu öffnen, ist hier nicht nur ein formhafter Zustand, sondern ein säkulares Schicksal.

Diese Kirche ist kein Frühling; aber je mehr sich ihr Äußeres wie eine herbe Frucht abschließt, desto heller ist ihr Inneres geöffnet; mit einer unfaßbaren Gefaßtheit, um es paradox zu sagen, weil auch die Grenzen des Bausinnes im Inneren wie verschwunden scheinen, um in den geschwungenen »Zufällen« oder gewissermaßen Momentformen eines aufs höchste gesteigerten Baugesetzes neu zu entstehen. Und es entsteht daraus dann auch wie aus Alterssinn das Gefühl eines anderen und bleibenden Frühlings, eine wie aus unzähliger Unruhe entstandene Ruhe des Geistes, der zuletzt herrschend ist, und etwas, was man mit den bekannten Worten von der heiligen und trunkenen Nüchternheit ausdrücken kann. Dies ist der zuerst fremde und dann in seine geistige Gewißheit wachsende Eindruck, wenn man ihren Innenraum betreten hat, welcher weiß ist mit einer rhythmischen Folge von farbigen Kuppeln in der Länge darüber hin bis zum Chorschluß, wo eben jetzt am Vormittag zur Liturgie Mönche versammelt sind, die hinter den offenen Altarseitenschranken wie in Nischenhöhlen sichtbar werden. Mit ihren dunklen Gestalten in der hellen, von einem starken Gesimsband hoch umrundeten Apsis, wo ein aufrecht von Gold umrandetes Kruzifix ein Blickpunkt des ganzen Raumes ist und wie ein Maß die ganze Mittelzone an sich zieht, befinden sie sich wie in einem vom Raume befreiten, nischenhaften und doch ausgeflächten Bilde.

Es ist etwas Transzendentes in diesem Blicke, wie überhaupt in diesem Gotteshause, in dieser geöffneten Arche, in welcher die Raumschwellen, je mehr sie in der Quere hereinstoßen, in der Länge wieder verschwinden. Man verliert, in der großen Länge dieses Longitudinalbaues nach vorne blickend, das Gefühl des Raumes. Der Blick wird von der ausgeweiteten Vierung in der Mitte dieser Längsachse aufgesogen und, rückwärts im Langhaus befindlich, welches von zwei Kuppeln überwölbt ist, erkennt man nicht mehr die räumliche Fortsetzung des Chorhauses, welches sich ebenfalls noch unter zwei Kuppeln forterstreckt. Der Chor tritt nach der Vierung, welche fast in die Mitte der Kirche gerückt ist, wie zu einem illusionären Flächenbilde zusammen und man blickt nach vorne wie in eine teleskopisch erschlossene Ferne oder Nähe. So wird das Gefühl der Entfernung aufgehoben und besonders wenn man dann in der Mitte unter der Vierungskuppel steht, welche ebenfalls noch von zwei Kuppeln in den kurzen Querarmen umfaßt ist, blickt man in die sich überschneidenden Räume von sieben Kuppeln und man steht innerhalb einer überall eingehaltenen Bewegung.

Dies ist die wie aus lauter Unruhen zusammengesetzte Ruhe; es ist die Unruhe des herrschenden Geistes, der in der Auflösung alles noch künstlerisch zu zwingen vermag. Es ist der Ausdruck aus dem christlichen Geiste des achtzehnten Jahrhunderts, dessen Gehirnkraft mit allen anderen Geistern im säkularen Kampfe wetteifert. Und einfacher für das Gefühl gesagt: es ist in dieser Kirche wie eine große geistige Witterung. Es ist ein Zwischensinn wie durch das Gekommen- und Wiederabgezogensein eines Wetters für die christlichen Sinne, ein souveräner Zwischenzustand, wie auch oft die atmosphärischen Bildungen in Gemälden dieses Jahrhunderts und so auch in Martin Knollers großen Kuppelmalereien hier etwas luftig Nachschwimmendes von einem Wetter und wie ein vom Donner verlassenes Echo besitzen. Die gemalten Gestalten erheben sich darin um so befreiter zu ihrer sieghaften Aktion. So kann man die Kuppeln selber wie Echos von Donnern empfinden und ihre triumphale Wirkung steht wie aus Vor- und Nachgefühlen von allen Seiten zur Mitte in der Vierung gesteigert.

Aber das geistige Grunderlebnis in diesem Kirchenraum, das über die Empfindung hinaus eine rein geistige Erschütterung vermittelt, ist die Bindung und wieder Brechung des zentralen Sinnes durch die longitudinale Bewegung. Die Kreuzform ihrer Achsen schwingt und ruht wie in einer Waage durch den übereinander geschobenen Kräftelauf von Raumkompartimenten und Kuppeln. Die Art und Verwendung der Kuppeln als Wölbung bildet nicht nur eine andere Bauform, sondern auch eine andere Sinnesform. Und wenn wir sie mit gestillten Donnern verglichen haben, so steht das Gebäude der Kirche mit seinem hallenhaft durch Nischen und Emporen nach innen offenen, ebenso im empfinderischen Sinne »inständig« wirkenden, wie als bloße doppelte Schale um den Raum greifenden Mauerwerk unverrückbar darunter. Die bauliche Substanz ist von oben herab wie Gewichte in sich gesenkt bis zu den hohen ankerhaften Sockeln; am meisten sichtbar mit dieser pendelhaften Gewichthaltung in den vier Säulenpaaren der Mittelkuppel. Auf diesen Säulenpaaren sind die Gebälkstücke, auf welchen die windschiefen gegabelten Traggurten der Kuppeln mit aufsitzen wie Trümmer, die in der hohen Luft schwimmen; und doch sind sie wieder in ihrer scharfen, sphärisch gekurvten Stückhaftigkeit die Zeichen einer untrüglichen Sicherheit, woran die in Ovalen kreisenden Raumströme mit einer fliehenden Beständigkeit branden. Eine solche Kirche ist ein Lichtkörper; aber es ist zugleich so, als ob die Kraft des Meeres auf Postamente gehoben sei. Rings um den ganzen Raum aber läuft ausweichend und unausweichlich ein hohes und mächtiges Kämpfergesims, in welchem sich der ganze architektonische Ausdruck und sein Problem wie in einer Linie sammelt und wo sich hinter starker Ausladung die Naht der Kuppeln und ihres symbolischen Himmelsdaches verbirgt. Durch die doppelschalige Zusammendrängung der Seitenwände aber, bei welcher auch den Emporen der Sinn eines Theatrum mit gesellschaftlicher Positivität wieder entzogen wird, ist der ganze Raum wie angezehrt und man möchte sagen, übermenschlich einsam. Auch der oft stark materielle Ausdruck des barocken Spektakulums, die Materialität des Lichtes und der Formkräfte ist hier wie innerlich weggezehrt und in sich selber aufgesogen. Man kann diese Kirche nicht nur als Raum für das liturgische Drama, sondern selber als Drama in der Zeit sehen. Die Kräfte sind in einem solchen Bau des späten Barock und Rokoko ganz um die menschliche Vielheit als Katholizität herumgespannt und in sie eingerückt und sie sind doch imstande, ganz im Nichtmenschlichen ihres eigenen Zustandes zu sprechen.

Nun muß man sich vor Augen halten, daß wie der Außenbau so auch der Innenraum einige und zwar recht wesentliche Abstriche an dem Originalplan des 1753 verstorbenen Balthasar Neumann erlitten hat. Die Kuppeln sind aus Holz ausgeführt worden, und dabei wurde besonders die über den ebenfalls hölzernen mächtigen Mittelsäulen stehende Vierungskuppel stark erniedrigt. Außerdem ist die Ausstattung, die Ornamentik der Altäre im späteren Geschmack des achtzehnten Jahrhunderts verkleinlicht beziehungsweise klassizistisch und puristisch (wenn auch immer noch stattlich genug) vereinfacht. Auch das Weiß der Kirche geht auf diesen puristisch einfacheren Geist zurück. Dehio schreibt zu dieser Abschwächung: »So ist Neumanns Gedanke gleichsam in Knechtsgestalt in die Wirklichkeit getreten.« Es steht selten ein Satz von so viel persönlicher Anteilnahme unter den sachlichen kunsthistorischen Angaben Dehios. Aber an sich selber macht man dagegen die Beobachtung, daß man im Erleben dieses Kircheninnern dieses »Versagen« gegenüber dem triumphaleren Bedürfnis Neumanns, wie es in Vierzehnheiligen durch ihn und nach ihm verwirklicht wurde, nicht mit Mißbehagen aufnimmt. Die Kirche erscheint auf diese Weise noch mehr wie ein notwendiges geistiges Schicksal in ihrer Zeit. Es ist wie etwas Hungriges darin und eine Wesensform im großen europäischen Bausinn wird deutlich, welche sich in sich selber verzehren muß. Die Notwendigkeit der Entwicklung wird eindeutiger und eine anonyme Sinnesträchtigkeit wird deutlich, welche verdeckter wäre, wenn sich Neumanns persönliche Kraft noch durch wuchtigere Schmuckformen und einen blühenderen Raum in seine eigene Schöpfung gestellt hätte. Man muß sich auch diese Vorstellung machen, um die ganze volle Kraft dieses so vornehmen wie genialen Architekten zu vergegenwärtigen. Und wir müssen uns auch bewußt bleiben, daß es vielleicht keine Stärke ist, wenn wir unsere Neigung mehr der Sicht des Problems und der zeitlichen Notwendigkeit als dem Begriff der vollen persönlichen Künstlerleistung zuwenden. Aber indem wir diese »Arche im Licht« hier verstehen wollen, will sie uns doch am meisten nicht mehr als ein Werk eines einzelnen, sondern als ein auch im »Versagen« um so sprechenderes Zeitdenkmal im Gedächtnis bleiben.

Indem wir die Kirche auf ihrer Höhe verlassen, fällt uns wieder ein, wie sehr es dieser Zeit gegeben war, das gesellschaftlich Vornehme mit dem geistig Einsamen zu verbinden und auf diese Weise das Religiöse wie mit herrlichen Oasen oder Inseln in die Welt zu setzen. Es ist die Zeit der großen Musik und diese Kirchen sind dazu wie ein großes Echo und Schweigen.

[Neresheim, Klosterkirche]

[Neresheim, Klosterkirche]

Landschaft um ein Kloster

Ein Besuch auf dem Härdtsfeld

Indem aus dem Nachmittag ein Abend wird, während man querhin über die langen Höhenschwellen des Härdtsfeldes wegschreitet und die allmählich still erbleichenden Nachmittagsstunden in die dunkleren Felder der Erde herabsinken, möchte man diese langen Höhenzüge hier selber mit Stunden vergleichen, welche gegen den Abend länger zu werden scheinen, indem ihre abendliche Blässe zugleich dunkler wird. Das Herabsinken des Abends ist ja überhaupt ein eigentliches Wegnehmen; das Licht geht im Austausch mit dem Dunkel über uns hinweg und die Erde wächst dunkler heran. Sie scheint hier aus den langen, flachen und trockenen Talwannen zu kommen und zu den fernen Waldlinien und zu den näheren kahlen Säumen und Kämmen aufzurücken, um aus dem Gebreite von melodisch starren Höhenwellen eine einzige verstummende Ebene zu bilden, über welche nur noch die Blicke in die verklingenden Horizonte reichen. Das persönliche Gefühl vergeht und ein allgemeineres Gefühl beginnt. So ist es um das Kloster von Neresheim und so trägt es die Blicke über eine kommende und vergehende Gegend, welche in ihrem ganzen Bau mehr die Maße der Empfindung und des Geistes als solche des Körpers erwachsen läßt.

In der Tat greift diese Landschaft aus den langgestreckten Höhen und ihren verborgenen Einflächungen wie aus Kargheit und Sparsamkeit ins Weite. Sie ist aufgebaut wie durch Einsinken und Wegnahme und sie wendet sich auf diese Weise, indem das Körperhafte abnimmt oder sich gegenseitig in weite Linien legt und umrandet, ins Geistige. Diese Landschaft hat immer wieder nach allen Seiten das hohe Hinausgetragensein der Blicke über lange Höhenrücken, welche ihre seitlichen Schrägen weisen und welche gleich Riegeln mit flachen Wannen dazwischen in der Fortstufung liegen bis zu den rund umkreisenden Horizonten, wo die Höhen immer ferner ausgeglichen und als immer dünnere Kulissen gegen den Himmel stehen. Die Himmelskuppel geht immer weiter und flacher ins Große über dieser Landschaft. Die Vielteiligkeit und doch wieder besondere Stetigkeit dieser langen Höhenformen und ihrer schrägen Lehnen, wo bald der Wald über Engen und Kurven einen langen Hügelkamm besetzt hat und bald die Säume als kahle große Firstlinien jenseits von Talfalten entlang laufen, wächst immer breiter und ruhiger mit einer vermehrten Offenheit gegen den Betrachter heran. Die einzelne Figur wird sehr deutlich; und wie etwa auch die Figur eines Gespannes auf einer entfernten Höhenlinie sich deutlich abzeichnet oder dann wieder auf einem schrägen Straßenband hinanfahrend langhin sichtbar bleibt, so sind hier oft die einzelnen Dinge unmäßig auffallend und von einer Verbundenheit mit der Landschaft, in der sie zugleich sonderbar befreit sind. Das menschliche Vorhandensein bekommt eine Bedeutung, als ob es zugleich viel dinglicher vereinfacht und dagegen wieder ins Geistige und typisch Menschliche gehoben sei. Diese Stimmung ist landschaftlich ruhig und doch nicht in der Landschaft fertig und beschlossen.

Und es gehört auch zu dieser Landschaft, daß sie nirgends eigentlich herrschend beruhigt ist. Sondern mit diesem fast gleichmäßigen Hinaus- und Hereingetragensein der empfindenden Schau bleibt in der Ruhe eine Unruhe, und es bildet sich auch für den Geist eine merkwürdige Getragenheit. Die Landschaft hat Vielheit und Kargheit zugleich und ihre auch in der Wirklichkeit sparsam besiedelte Weite hat die Trockenheit eines fremden Landes. Selten, daß das Gefühl so sehr über die Schwelle gedrängt wird, wo das natürliche Gefallen an eine geistigere Erfüllung grenzt; daß dies gerade über das Mittel der Kargheit geschieht; und daß also diese geistige Erfüllung doch hier wie ein Hunger bleibt und wie etwas, was nicht zu sättigen ist. Und hier geht der geistigere Begriff einer Landschaft in eine geistliche Stimmung über, und zwar in eine solche, in welcher etwas Kontemplatives wie ein größerer Hunger gegenüber dem Aktiven entscheidend ist; und dies kann uns bewegen, von der Landschaft um das Neresheimer Kloster als von einer monastischen Landschaft zu reden.

Die Hauptwirkungen, die auf unser Gemüt aus einer Landschaft sprechen, gehen oft nicht so sehr aus absoluteren Größen wie bei Gebirgen hervor, sondern aus den relativeren Verhältnissen. Oft liegt auch in einer ebenen Landschaft eine gleichmäßige Weite, welche den Blick immer fortgehen läßt, so daß er ohne Schwere die einzelne Erscheinung überwindet. Aber hier, wo die Landschaft wie in Zwischenformen höher, wo das landschaftliche Bildgefühl rhythmisch ziehender und auch durch Unterbrechungen nicht abgebrochen, sondern in Zäsuren weitergetragen wird, fehlt gewissermaßen die körperliche Mitte und damit tritt auch an die Stelle der heiteren Wandersehnsucht ein strengeres und einsameres Gefühl, welches mehr als persönlich ist; und der Anblick eines Bauwerkes ist für dieses größere Gefühl wie eine notwendige und doch verschlossene Aussage. Burgen kann man in einer solchen Landschaft erwarten, welche gegen die einfacheren Wohnstätten erhöht und abgeschlossen sind. Aber hier, wo aus der erdigen Bewachsung eine magere Zone sich nach oben rückt und aus ihr oft das Steinerne unbedeckt und zeitlos zutage tritt, findet man noch mehr die blockvolle und aufgetürmte Geschlossenheit eines Klosters, dessen zeichenkräftiges Bauwerk über viele Rücken und Hochbänder hinweg mit dem Horizont in Verbindung tritt, wie einen notwendigen Anblick. Die natürliche Art und Lage der Gegend schlägt sich um in eine geistige Bedeutung. Aber manchmal, wenn man von einem ferneren Höhenband darauf hinüberblickt, ist es einfach ein schönes, steinfarbenes, auf die blaue Wand des Horizontes aufgemaltes Bild.

Als Mittagsgast im Kloster

Von Treppen herab und aus langen Gängen kommen die wandelnden dunklen Habite, während man außer dem Gehen nur noch ihre Gesichter wie eine wenig verschiedene Gleichheit herbeikommen sieht, gegen die Saaltüre des Refektoriums zusammen. Sie kommen alsbald nach dem Mittagsgeläute, nicht schnell und nicht langsam, wie es in der genauen Zeitordnung liegt, welche keine eigene Bequemlichkeit und im gleichen auch keinen äußerlichen Eifer gestattet. Plötzlich ist man als Gast zu Mittag, als welcher ich durch den jungen Kunsthistoriker des Klosters mitgenommen wurde, mitten unter ihnen.

Am Eingang war ich, da der Abt, den ich noch von meiner Tübinger Studentenzeit her gekannt hatte, verreist war, einem andern Oberen mit wenigen Worten während des sonstigen Schweigens vorgestellt worden. Man ist hier, noch kaum über die Schwelle getreten, während die Mönche sich an ihre ringsum gehenden Tischplätze verteilen, gefangen von der offenen Schönheit eines herrlichen Raumes. Und indem man allein gegen die Mitte des Saales an einen Tisch zwischen Säulen von farbigem Marmorglanze zugeführt wird und später bemerkt, daß man nun der Obhut eines anderen Paters, des Gastpaters, zugeteilt ist, kann man die Aufmerksamkeit zunächst auf nichts Einzelnes sammeln, weil die im großen Viereck geschehende Ansammlung der ruhigen Gestalten, darüber die den Saalraum an Wänden und Decke überziehende farbige Rokokopracht und dazu noch die hell und weit durch die großen Fenster hereinfallende Landschaft in allem gleichzeitig auf die Sinne wirken. Man bemerkt aber mit einer gewissen Entschiedenheit für die Stimmung den Gegensatz zwischen der prächtigen Saalform und der Einfachheit des lebendigen und zum Gebrauch gesetzten Daseins darinnen, einen Gegensatz, der, als ob es sich gegenseitig abstoßen wollte, eine schwebende Gelassenheit erzeugt.

Das lateinische Tischgebet, wechselnd im Chore mit gemeinsam in den Saal gerichteten Gesichtern gesprochen, während dessen die Kapuzen über den Kopf zurückgestreift wurden, war vorüber und alle nahmen an einzelnen Tischen, welche in der Reihe längs der Saalwände umliefen, ihre Plätze ein. Der einzelne Gast, der ich war, saß allein in der Mitte an einem weißgedeckten Tische, während die Mönche unbedeckte braune Tische hatten, welche mit ihren dunklen Tischgruppen zusammen einen giottoartigen Anblick gaben, wie man nach Bildern von Giotto sagen könnte. Die Mönche saßen mit Lücken dazwischen, der Obere saß fast allein, und nur bei den Brüdern, von welchen man weiße Bärte und teilweise ein patriarchalisches Aussehen wahrnahm und bei denen man auch an den schwereren Bewegungen sah, daß sie die viele Feldarbeit besorgen, war eine gedrängtere Folge wie bei einem Tische von Pilgern.

Die Stille während des Essens und daß während der ganzen Mahlzeit von einem jungen Mönche auf einem an einer Nische aufgestellten Pulte mit erhobener Stimme klar und worthaft eindringlich vorgelesen wurde, machten es, daß man die Beobachtung nicht darauf lenken mochte, was im einzelnen war, sondern wie das Ganze als Lebensform sich einpräge. Als Lebensform: das heißt, man ist darauf bedacht, das Gemeinsame künstlerisch oder besser noch in seiner Transzendenz gegenüber dem bürgerlich individuellen Gehaben und damit eben den Augenschein der Regel und klösterlichen Gemeinschaft aufzunehmen. Aber auch das einzelne mochte noch weiter auffallen; so, wenn man die unbedeckten Tische dahin rechnet; oder, daß der Estrich des Saales im Mittelfelde, wo ich saß, steinern war, während die Tische ringsher auf einem schönen Holzboden mit schwarz eingesetzten Bändern standen. Auch das Essen gehört dahin, welches einfach und schmackhaft und schwäbisch war, indem dabei die schwäbischen Spätzle nicht fehlten. Bei manchem der Mönche stand neben den Eßschalen auf dem blanken Eßtische ein kleines Glas Wein, von welchem ich auf meinem Tisch eine größere Portion bekommen hatte. Und schließlich gehört auch in die Gaststimmung die kleine Beobachtung, daß ein leises Lächeln über das Gesicht eines jungen Paters huschte, als während einer Pause im Nachtischgebet ich in der Unachtsamkeit, das Gebet sei zu Ende, mein Gläschen vollends leerte. Seine kleine ungewollte Belustigung hatte in mir ebenfalls einen lustigen Kontakt geweckt.

Aber nun aufs Ganze der Lebensform gesehen, war die stille Art des Essens mit den leise zugehenden Speiseträgern die ganze Zeit wie eine schlichte irdische Zeremonie. Man macht sich Gedanken darüber, worin näherhin die Wirkung liegt: nämlich in der Gleichheit der Gestalten, wodurch wie auf mittelalterlichen Bildern im Gegensatz zur gleichruhigen Gewandung die Gesichter und die Hände allein und verschieden und doch ebenfalls gleichmäßig sprechen. Die gegenseitige menschliche Trennung und Brechung, sozusagen die individuelle Zäsur, ist in bestimmten Graden ausgeschaltet. Das Maß des Daseins ist ausgeglichen in parallelen Typen; und fast möchte ich sagen, es sei wie bei der Landschaft, die uns hier umgibt, wo auch das einzelne deutlich wird, ohne doch die große gleichgesinnte Fortbewegung und ins Geistige umschlagende Wirkung im ganzen aufhalten zu können. Indem man wieder auf die Schönheit des Refektoriums und dann der draußen liegenden Landschaft blickte, empfand man dies mit einer eigentümlichen Ruhe. Am Schluß der Mahlzeit sah man jeden der Gespeisten die Brosamen auf der glatten Tischplatte mit den Fingern zusammenstreifen, wonach sie in ein Schälchen kamen, welches von Hand zu Hand und von Tisch zu Tisch gereicht wurde.

Nach dem Mittagessen führte mich noch der junge Kunsthistoriker des Klosters in die weiteren Rokokosäle, den Kapitelsaal, das Michaelizimmer, den Bibliotheksaal mit Vorsaal und den überaus schön von Dominikus Zimmermann gestalteten Festsaal, worüber er nähere Forschungen gemacht hat und wo eine reiche Fundgrube für die Kunstzeit von Anfang bis gegen die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts vorhanden ist. Mit Blicken aus den Gastzimmern des Klosters auf die weit herumgehende Gegend schloß der schöne Aufenthalt, welcher der Neresheimer Abteikirche gegolten hatte.

[Neresheim, Klosterkirche, Durchblick vom Chor]

[Neresheim, Klosterkirche, Orgel]

In Nürnbergs Dürer-Tagen
(1928)

»...wer sie heraus kann reißen...«

An dieses meist zitierte Wort des Schriftstellers, oder, da diese Bezeichnung für einen nachhaltenden Geist doch zu wenig ist, des Kunsthistorikers Albrecht Dürer mochte man denken, wenn man in diesen Tagen nach Nürnberg fuhr. In dieser Osterstimmung über der bayerischen Landschaft war der Himmel blau noch ohne durchsichtige Schärfe, kühl noch ohne Milde, aber er hatte auch das Aussehen der heißen Wärme und der Trockenheit über den Feldern, die noch vom Wachstum kaum in Regung waren. Alles war sehr deutlich, aber im ganzen oft doch mehr eine belichtete Blendung als eine gewachsene Klarheit. Diese Osterstimmung über den am meisten grünen Saatäckern, den noch zahlreicheren, rein erst in der trockenen Farbe der brachliegenden Scholle gebreiteten übrigen Äckern, den noch wenig angegrünten Wiesen, den glitzernden, aber eben dadurch gegen ihr Inneres verschlossenen Flußläufen und Wasserflecken in der ausgewinterten Landschaft, diese Osterstimmung sammelte sich in einem beschienenen Dunst, der bläulich nach der Ferne zunahm. Der Wald hatte darin noch keine neu aus sich selbst gewachsene Farbigkeit der Gegensätze, sondern war ein gleichmäßiger, in den Dunst verteilter grüner Körper. Nur die Buchen stellten dazwischen ein grauschleierndes Violett über die Hügel und zeichneten dazu mit ihren Stämmen und den Schatten derselben eigenartige dunkle Gitter auf die gelbe Walderde ihrer Hügelstellung. Auch die Einzelbäume in Gärten und Dörfern, außer den grüngelben Blüten und Zweigtrieben der Pappeln und der Weiden, gaben dem vorübereilenden Anblick noch kein knospendes Gefühl. Man konnte mit Kurven und Kanten ein starkes geometrisches Netz in die Landschaft hineinsehen, so wie es auch in der Kunstgeschichte der Landschaft vorkommt und wie es dann allerdings noch schärfer im einzelnen Breugel in das Landschaftsbild hineinzeichnete.

Gruppen von Menschen, von Kirchengängern, Kindern oder Wanderern wirkten in dieser reinlich ausgeteilten Landschaft besonders deutlich. Hinter Ingolstadt war ein Trupp Reiter zu erblicken, wie sie eben jenseits von einem lichten Wäldchen vorübersprengten, wovon der Anblick der gebäumten und hüpfenden Pferdekörper wie ein Nachbild einer abgetrennten Bewegung im Auge blieb. Man brauchte hier noch nicht an Dürer zu denken, seine Reiterzüge und anderes. Aber diese Art von Landschaftseindruck ist nicht romantisch — die Romantik betont mehr die Silhouette —, sondern sie hat mit ihrer getrennten Gruppenform und ihrer vollen körperhaften Beweglichkeit im offenen Raum etwas vom Bildcharakter der Frührenaissance. Dann sah man aber etwa eine kleine Schar Hühner, die mit den kleinen Schatten ihrer Körper auf der kahlen Gartenerde eine eigentümliche, gruppiert lebendige Wirklichkeit besaßen; und bei diesem kleinen Bilde dachte man noch näher an Dürer, an die Hühner, die im Gebetbuch des Kaisers Maximilian dem Spiel des Fuchses zueilen. Sie sind anekdotischer und illustrativer gefaßt, als wenn man sie so in der Landschaft sieht; aber sie haben auch diese eigentümliche Wirklichkeit, die nun vor allem in den kleinen Natur- und Kreaturstilleben Dürers in die Kunst eintritt.

»Denn wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur; wer sie heraus kann reißen, der hat sie«, sagt Dürer. In seinem zeitdokumentarischen Werke über Albrecht Dürer sagt Wölfflin, daß, so viel er sehe, dieser Satz Dürers immer anders erklärt werde; Wölfflin selber aber betont darin den Sinn eines wählerischen Vorgehens des Künstlers, um die Schönheit aus der Natur zu erlangen. Sicher trifft dies Dürers bewußte Anschauung und seine eigentliche zunehmende Kunstarbeit, soweit nicht alles, was er tat, und dazu er selber ihm unbewußt, wiederum von der Zeitbestimmung im weiteren und unbegreiflichen Sinne geformt wurde. Die Naturbetrachtung, mit der wir begonnen haben, weist uns aber noch auf einen anderen Weg. Man kann die Natur sehen als ein Universales bis in diese dunstig verschwindenden blauen und spiegelnden Hintergründe, vor denen die späte Gotik ihre Körperlichkeit ausgeschnitten hat. Dieses Universale scheint uns aber der eigentliche Beginn der Renaissance zu sein. Das Einzelding ist darin stillebenhaft deutlich vorhanden, aber es hängt von dem Universum ab. Anders der Beginn der gotischen Kunst, wo das Einzelding zuerst vorhanden sein konnte oder wenigstens nicht von der illusionären Ganzheit eines Universums abhing. Aber diese Anschauungsänderung hat noch weitere Folgen. Nämlich: in diesem vorangestellten Einzelding war auch die Farbe primär gegeben. Nachdem aber die universale, mehr naturwissenschaftliche Anschauung eingetreten war, verlor die Farbe ihren ursprünglichen Sinn und sie begann mit Licht und Schatten zusammen ein räumliches und illusionistisches Spiel. Der Deutsche, zwar nicht Grünewald, aber vor allem Dürer, hat sich dann, um trotzdem eine feste und gerechtfertigte, fast moralisch verpflichtete Habhaftigkeit zu erlangen, in besonderer Stärke als Zeichner entwickelt. Und so sind denn besonders Dürers Gebetbuchzeichnungen eine Schöpfung, die gegenüber dem freien Universum eine von Dürer gerettete Gemütskraft recht eigens bekennen. Hier wird die Trennung in die Teile einer komplexiven Weltanschauung äußerst deutlich, aber auch die nun frei gewordene Zusammenbindung der Phantasie mit der Stofflichkeit.

Wie einfach klingt Dürers Wort von der Kunst, die man aus der Natur herausreißt! Aber wie viel hat sich doch darin hineingesteckt und wie unerschöpflich ist es zuletzt! Denn die Natur erreicht der Künstler nur aus der Bahn seiner geschichtlichen Herkunft. Er erreicht die Natur nie, sondern nur seinen eigenen Teil von ihr. Aber was ist dieser? Unsere ganze heutige Kunstproblematik hängt schließlich mit diesem Worte und seinem Geheimnis zusammen.

Als man in Nürnberg den Bahnhof verließ, war übrigens eben dieses Dürerwort auch das erste, was man sah. Es war mit großen Buchstaben auf einem Bogengestell angeschrieben, das zusammen mit Schmuck und Fahnen die Besucher für Nürnbergs Dürertage in Empfang nahm.

[Nürnberg, Blick auf die Burg vom nördlichen Sebaldusturm]

[Nürnberg, Burg vom Fünfeckturm aus]

Die Dürerstadt

Nicht leicht, daß man irgendwo von selbst so sehr an Faustens Osterspaziergang erinnert werden könnte, als in diesem Nürnberg, wo am Ostermontag unter der lebhaften Sonne alles unterwegs war. Das Fahren der Autobusse und daß man immer wieder fremde Sprachen hörte, störte durchaus nicht diesen natürlichen Eindruck, in dem man doch wie in einem Stück Geschichte mitlebte. Von der Terrasse der steingrauen, schwergetürmten Burg, um die nichts als die hellgrünen Blütenbündchen der Ahorne in der sonnigen Luft standen (wie ein leichtes Aquarell von Dürer), war abwärts zwischen dem gotischen Dachgewirr und den dazwischen ragenden Kirchenkörpern alles gehend und steigend in Bewegung zu sehen oder sammelte sich in kleinen, grün angeflogenen Gärtchen. Um das Ganze lagen im Dunst der Ferne die gedehnten Bergrücken und einer davon erhob sich wie der hohe Chor der nahen Kirchen. Unser nächster Weg führte aber zum Johannisfriedhof und zu dem liegenden Steingrabe Albrecht Dürers, inmitten der gleichen, steingebetteten Ruhe von lauter liegenden Grabmälern.

Tatsächlich ist der ganze Weg vom Bahnhof, wo gleich durch die großen Durchbrüche und mächtigen Tore der Umwallung anders wie in anderen Städten das Allerweltsgefühl des Verkehrs verlassen und das unmittelbare Gesicht der Stadt hergestellt wird, bis zur Burg und an Dürers Wohnhaus beim Thiergärtnertor vorbei zum Friedhof der berühmten Nürnberger Meister ein zusammenhängender historisch deutscher Heimatgang. Es geht gewissermaßen durch das historische Herz und Schicksal Deutschlands, durch die Spaltung zwischen einem alten und neuen Bildgefühl, zwischen dem spätgotisch ausbrechenden Zierwerk und dem Anbruch zu einer neuen Bild- und Werkgerechtigkeit hindurch. Man kann von Nürnberg mit romantisch redensartlicher Verblümelung reden, wie es wohl meistens geschieht. Man kann mit neuerer Pathetik die Erlebnisse der unverrückten Vergangenheit im Kontrast mit der Gegenwart eines sehr regsamen und werktätigen Lebens zum Besten geben. Dieser Kontrast und die Beobachtung, daß eine sehr reale werktätige Gegenwart des Bürgersinnes sich durchaus nicht durch historische Umrahmung innerlich behindert fühlt und auf die von neuer Sachlichkeit geforderte »Ehrlichmachung« ihres Gegenwartszustandes gegenüber der »historischen Maske« zu warten braucht, ist in der Tat etwas Einzigartiges. Aber trotz allem freibleibenden Leben kann Nürnberg heute und vom eindringlicheren Gefühl nicht bloß romantisch oder expressiv pathetisch gesehen werden. Man erlebt hier immerfort, heute vielleicht mehr als je, das deutsche Kunstwesen an seinem entscheidenden Punkte, der in die große persönliche Auflösung auf Dürer zuführt, aber doch ebenso ungelöst erhalten ist. Man erlebt einen sichtbaren Teil einer historisch gewesenen Krise.

Im Ablauf unseres letzten Jahrhunderts haben sich unsere Sinne für ästhetische und letztlich weltanschauliche Unterscheidungen sehr verschärft. Wer könnte heute mit den »Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders« von Wackenroder in der Tasche durch Nürnbergs Straßen gehen und gleich ihm Nürnberg und Italien in einer Empfindung und mit einem Atem nennen. Aber auch jene deutschtümliche Romantik etwa von August Hagen, einem Königsberger Kunsthistoriker, dessen romanhafte Behandlung des Nürnberger Lebens mit Dürer, Adam Krafft, Peter Vischer, Hans Sachs und anderen in seinem Buche »Norika« für vieles ähnliche als Beispiel gelten mag, ist uns heute nur Lektüre, nicht Herzensangelegenheit. Die Gleichartigkeit und doch eigenartigste Vielfältigkeit dieses Nürnberger Stadtkerns spricht uns anders an. Es reden zu uns nicht die Personen, sondern die Formen. Wenn man dann also im Hindurchgange die Formen oder die ganzen Bauten schon in ihrer Lage genießt, so Sankt Lorenz, die Frauenkirche und Sankt Sebald, die im mittelalterlichen Sinne nicht zentral gestellt, sondern an die Seiten des Verkehrs gerückt sind, oder so auch gleich anfangs die Gegenüberreihung der Martha- und der Klarakirche und so anderwärts, dann erwacht sofort das andere Grundgefühl des Raumsinnes oder des sogenannten Raumbegriffs im Mittelalter. Der Weg mitten durch die Stadt, mit den malerisch-architektonischen Zäsuren an der Pegnitz, hat dieses Gefühl noch unnachahmlich behalten. Man erlebt die Herausbildung der Formen gegen den Gehenden, so besonders wirkungsvoll in der Verschränkung des Anblicks, daß man etwa vorher die Westfassade von Sankt Lorenz und dann später den Ostchor von Sankt Sebald als einen zeitlichen Rhythmus und Gegenstoß in sich aufnimmt. Geistiger gesagt, ist das der mittelalterliche aktive Raumsinn, der sich nicht zentriert, sondern in Bewegung bleibt, und der aus einem inneren geistigen Kern mit Ornamenten und Figuren ins öffentliche und gesellschaftliche Leben herausblickt. Die lebendige Gemeinschaft ist gewissermaßen die wirkliche Fortsetzung dieses figürlichen Herausblickens und Heraustretens.

Der spätgotische Augenblick in der Geschichte, in dem dieses Heraustreten des Figürlichen zur Gemeinschaft am stärksten wird, ist in Nürnberg unüberbietbar vorhanden. Man genießt hier diese Fassaden, diese Chöre und Chörlein, diese Giebel, Nischen und Zinnen, diese Strebepfeiler und Fialen, aber auch diese Reihen von Skulpturen und Skulpturfeldern bis zu Adam Kraffts Stationen, die aus dem Innern der Kirchen heraustreten. Man denkt an die Aufhebung des Materials in Kraffts Sakramentshäuschen, das irgendwie dem Schönen Brunnen entspricht, an die nun eintretende Befreiung der Phantasie, die in Peter Vischers Sebaldusgrab zwischen Material und Technik wuchert, auch an die gitterartige Öffnung von Skulptur und Relief in dem Englischen Gruß von Veit Stoß. Aber man fühlt auch immer, daß hier geschichtlich, etwa im Vergleich zur Figurenwelt des Bamberger Domes, etwas eingetreten ist, was in seiner Art ein Zuviel wurde. Es ist die Problematik der Spätgotik. Es ist der Augenblick, wo die Kunst eine spielende Wirklichkeit, aber zugleich eine ganz akzidentelle Künstlichkeit erreicht hatte. Und so ist ein merkwürdiges Paradoxon eingetreten, daß die Kunst, die ihre stärkste Zeithaftigkeit zu erreichen geglaubt hatte, jetzt einen um so mehr historischen Charakter bekam. Dies ist die Schönheit, aber auch der Zwiespalt, mit dem Nürnberg in Deutschland besteht. Es ist ein zeitgeschichtlicher Augenblick von höchster Bedeutung gewesen. In diesen Augenblick wurde Dürer hineingeboren.

Die Dürer-Ausstellung

Wo keine Ausgleichung von Form zu Form stattfindet, sondern eine Fülle von Vielgestalt zu einer weiteren Fülle treibt, ja wo die Fülle sich selber bedrängt und unruhig rückwärts schlägt — das geschieht in der spätgotischen Situation —, was ist in dieser deutschen Wesensfolge das Große bei dem deutschen Künstler Albrecht Dürer? Wie muß man die Frage nach seiner Größe stellen, um nicht mit vorschneller Antwort oder nach einseitigem Begriffe die Stärke seiner Persönlichkeit und seines durch die Jahrhunderte unerschütterten Werkes einzuzirkeln? Gerne trägt man Fremdformiges oder Absichtliches in seine wirkende Kraft hinein und leicht kommt man da zu einem Zwange, den man sich selber zufügt. Gerade bei Dürer macht sich immer neu am einzelnen Werke die künstlerische Tatkraft sichtbar, bevor man ihren Sinngehalt festlegen kann. Freie Tatkraft, wirksam nach allen Seiten und bis zu der moralischen Gemütskraft der Apostelbilder fortgetragen, dieser Gehalt springt immer aus dem historischen Charakter in die Lebensgültigkeit dieses Deutschen heraus.

»Dieser Treffliche läßt sich durchgängig aus sich selbst erklären«, urteilt Goethe, indem er den italienischen Einfluß dabei gering bescheidet. Mit solcher Erklärung aus der Deutschnähe wird Dürers Kunstwesen örtlicher und zeitlicher — man darf sagen: Nürnbergischer —, ohne dadurch an Größe zu verlieren. Es wird dadurch nur noch wirklicher und in der tatkräftigen Genialität sichtbarer. Es ist ja auch der Mensch Dürer ein Nürnberger geblieben — er hat sich trotz der Verlockungen nicht in Venedig und nicht in Amsterdam ansässig gemacht. Und gerade er wurde eine Erfüllung der deutsch-bürgerlichen Kunstsituation seiner Zeit. Diese Tatsache und die persönliche Genialität ihrer Leistung deutlich zu machen, dazu ist die Dürer-Ausstellung im Germanischen Museum in Nürnberg vor allem geeignet. Wie Dürer aus seiner Umwelt sich erhebt, wie er dann aber allein steht, wie die spätgotische Sinnesverbundenheit eigentlich durch strenge Tatkraft aufgehoben wird, das wird aus dem historischen oder musealen Charakter der Stadt, aus der für die Ausstellung gewählten oder gegebenen historischen Form außerordentlich deutlich.

In Nürnberg geht man durch das Ende des Mittelalters in dem Zeitpunkt, da es sich am meisten zeitgegenwärtig macht und dann doch — merkwürdiger Gegensatz — am meisten historisch erscheint. Man erlebt zugleich das Gefühl des Heraustretens aus der Kirchenwelt in die Profanwelt. Wo hat dann die Bewegung des innerlichen Fortwachsens weiterhin angesetzt? Ist es so wichtig, die Renaissance und das Kommen geläuterter Formen von außen her zu betonen, oder kann man nicht doch heute auch besonders Goethe beistimmen, wenn er fragt, ob man denn den Einfluß Venedigs Dürer sonderlich ansehe? Natürlich ist diese Frage trotzdem nicht einfach zu erledigen; aber das vierhundertste Gedenkjahr von Dürers Tode könnte auch ein Anlaß nach der Seite hin sein, daß man die deutsche und innergeistige Entwicklung eigentlicher zu befragen beginnt, die Folgen für Formen und Charaktere, die sich mit diesem Heraustritt in die Profanwelt notwendig ergeben. Auch das ist ja mannigfach, wenn auch nicht gerade heute, besprochen; jedoch eine solche Erkenntnis der zeitwirklichen Formen oder die Wandlung des menschlichen Zeitcharakters zum Kernpunkt für Dürer zu machen, erscheint als eine noch mögliche und schöne Aufgabe. Gerade heute, wo unbeschadet aller hohen Schätzung doch da und dort eine zögernde Betrachtung sich angezeigt hat, soll vielleicht nicht die ideelle und ethische Benotung, sondern die Realität der Anschauung ein weiteres Plus für Dürer gewinnen.

Der nicht auf die Spezialfragen, sondern auf die allgemeine große Erscheinung und Zeitentwicklung gerichtete Besucher wird vielleicht zunächst manchen Umschlag der Stimmung erfahren. Ähnlich wie es ihm angesichts eines Zuviel in der Ausstattung der Kirchen mit ihrer musealen Fülle von Skulptur und Bilderkunst ergehen kann, indem man nicht in die zeitliche Situation hineinfühlt, sondern einen strengen Zweck der gesamten oder der persönlichen Formung vorziehen möchte, kann in der Ausstellung zu Anfang mit dem Übergewicht von Wolgemut, mehr aber noch mit der dauernden Empfindung, daß diese weiteren großen Altarwerke, ihrem ersten Zweck nicht mehr dienend, mit ihrer Vielzahl von Einzelteilen innerlich und äußerlich etwas Wesentliches verloren haben, eine Abneigung Raum gewinnen. Manche Stimmen haben dem zunächst Ausdruck gegeben und andere, zumeist künstlerische Stimmen möchten den nächsten Wert vor allem und mit gegenwärtiger Liebe in die Abteilung der Handzeichnungen Dürers legen. Jedoch während diese in einer Reihe von Blättern mit heutiger Unmittelbarkeit ansprechen, ist in der Abfolge der Gemälde der auch in der Werkstattarbeit breithin aufgemachte, großartige Zustand der Bildanschauung eigentlich gegeben. Hier wird die eigentliche stilistische Bestimmung sichtbar, hier trennen sich trotz der noch bestehenden Konsonanz der Gesinnung und des kirchlichen Bildzwecks die Leistungen persönlich auseinander, und aus der mittelalterlichen Anonymität wird das persönliche, bald mehr lyrische, bald mehr aktive, räumliche und epische Temperament. Wolgemut, der Lehrer Dürers, der die Witwe Hans Pleydenwurfs nach dessen Tode 1472 geheiratet hatte, ist mit seinen Altarwerken am vollzähligsten vertreten. Bei ihm sammeln sich, wenn nicht am persönlichsten, so stilistisch am schönsten und geordnetsten die Formelemente der Nürnberger Altarkunst zum Ende des Jahrhunderts hin, mit denen dann Dürer einen neuen räumlichen Bau begonnen hat. Im ersten Saale beginnt die Ausstellung mit Wolgemuts »Zwickauer Altar«. Man sieht die vom lyrischen Sinn geteilte, von den Figurengruppen gestellte Räumlichkeit, die Tafeln noch als gesamte, mit Durchblicken geometrisch geordnete Bildbahnen, aus denen später der unmittelbare und zentriert gestaltete Bildraum entstehen soll. Hier ist noch Wolgemuts Hochaltar der Heilig-Kreuz-Kirche zu Nürnberg; und dann außer anderem der große Hersbrucker Hochaltar von dem nach ihm benannten unbekannten Meister, der sich durch eine starke erzählerische Kraft und Sinn für starke gegenständliche Wirkung der Figur und Erzählung, wie der Landschaft, und besonders auch durch die malerisch-stoffliche Nachbildung der unbelebten Bildgegenstände auszeichnet.

Dieses Altarwerk sowie, neben Wolgemuts Altarflügel der Jakobskirche zu Straubing, das mächtige weitere Altarwerk im nächsten Saale, der Hochaltar der Stadtpfarrkirche Sankt Johannes zu Crailsheim von dem nach ihm benannten Meister, gehören in diesen Eingangssälen unter den bekannteren Nürnberger Werken zu den fesselndsten Eindrücken. In ihm herrscht eine breite Auslagerung, körperliche Kraft der Bewegung und fast drastische Unmittelbarkeit. Man kann hier besonders sich beifallen lassen, wie in der Gesamtsituation der kirchlichen Kunst dieser Zeit die Gemütskräfte sich auseinander sondern. Wie sehr hat sich, wenn man etwa von hier aus einen Gang durch den in der Nähe befindlichen Saal mit den gotischen Wirkteppichen macht, der Formsinn von der großen Ästhetik der reinen Darstellungsformen auf die menschliche dramatische Energie herwärts verlagert, die zu etwas Überstürzendem eilt. Dagegen ist nun Dürers Sinn eines reineren Maßes zu ersehen, aber auch sein eigenes Gefühl für das Temperament, das im Bildnis, noch mehr aber in einigen Heiligenbildnissen, wieder erscheint. Einen ähnlich anschaulichen Vergleich für die künstlerische Differenz des Bilderlebnisses bieten gegenüber dem Crailsheimer Altar die Altarflügel des Hochaltars der ehemaligen Augustinerkirche zu Nünberg, früher als Peringsdörfer Altar bezeichnet, dessen Bilder nicht in der stilistischen Formung des Andachtszweckes eingeschlossen, sondern mit persönlicher Feinheit um innerliche Grade vertieft sind.

In den beiden Dürersälen verdichtet sich die Anschauung hauptsächlich in dreifacher Weise: um die Bildnisse, um die Altäre und um solche Kontraste wie die Apostel und das Adam-und-Eva-Werk, wenn auch hier beide Male nur die Kopien vorhanden sind. Der Paumgartner-Altar aus der Pinakothek und der Dresdner Altar hängen einander gegenüber, und hier muß eine unglaubliche künstlerische Spannung zwischen beiden Altären auffallen, in dem räumlichen, stillebenhaften und mit der Farbe ganz merkwürdig wirkenden Dresdner Altar ein Reichtum des Erlebens und des Formens sich ganz seltsam geltend machen. Was diese Dürerausstellung dartut, sind öfters solche Spannungen, die jeden voreiligen Begriff verbieten und die vor allem auch den großen kunstgeschichtlichen Knotenpunkt und das über alle engere Schule Hinauswirkende zeigen; aber hier ist dieser persönliche Kontrast besonders stark. Man ist in eine andere Welt des Kirchenbildes getreten und diese findet in Grünewald, von dem man die im letzten Saal ausgestellten Lindenhardter Altarflügel farbig vielleicht hierher ziehen darf, wieder eine andere Fortsetzung. Es sei noch auf die Nürnberger Beweinung, die drei Flügel des Jabach-Altars, hingewiesen und auf die »Marter der Zehntausend« aus Wien. Wie der Schmucksinn bei Dürer einen großen historischen Zug bekommt und statt der Einzelheit eine dokumentarische Zeitbedeutung bei ihm eintritt, dafür erscheinen die Nürnberger Kaiserbilder »Karl der Große« und »Kaiser Sigismund« als Beweise. Die Ausstellung müßte weiter sein, um noch mehr den ganzen ideellen und stofflichen Komplex, der sich an einer Zeitwende in Dürer sammelt, darzutun.

Um aber seine phänomenale, gewissermaßen ganz im Materialen und persönlich Charakterhaften schaffende Kunstkraft zu beweisen, ist sie außerordentlich geeignet. Und hierfür stehen die Bildnisse an erster Stelle. Da ist der »Heilige Hieronymus,« von Dürer auf der Niederländer-Reise erwähnt, der aus Lissabon beigebracht wurde. Es ist eine im allgemeinen Zug nicht ganz angenehme, aber äußerst charakterhafte Arbeit in Malerei und psychologischer Auffassung, die, mit den psychologischen Wirkungsmitteln älterer Altarbilder verglichen, etwas durchaus anderes ist. Hier ist sozusagen eine neue Temperamentsempfindung geboren; aber sie ist auch in den Apostelköpfen des Philippus und Jakobus vorhanden, die von Florenz gekommen sind; sie spricht in der Karnation des »Jakob Muffel« aus dem Kaiser-Friedrich-Museum; und sie weist schließlich in geistiger Größe auf die berühmten Aposteltafeln. Der biographisch schönste Teil der Ausstellung ist dann die Abteilung, wo die Bildnisse des Vaters Dürers und seine Selbstbildnisse, soweit beigebracht, zusammengehängt sind. Die getreuliche Festigkeit des Vaterbildes und neben dem Münchner Idealselbstbildnis das Selbstbildnis von 1493 aus dem Louvre — dieses besonders mit seiner Befangenheit, die aber eben damit in Auge, Nase und Mund ein edles Plus des Lebens erbringt —, es ist jene Gemütskraft, die bei Dürer nicht so sehr im Besinnlichen, sondern ganz im Formenden und Tätigen liegt. Diese seine deutsche Eigenschaft, einmal auf ihre substanzielle, persönliche Gehaltsentwicklung ganz durchgeprobt, wird ebenfalls auf eine Linie führen, auf der nicht zuletzt auch die Gestalten von Adam und Eva liegen, wo nicht das klassische Formgefühl, sondern eine schwingende liebliche Kraft, ein in großer Feinheit gegen den Raum ganz auf sich gestelltes Lebensgefühl in diesem Zusammenhang sichtbar wird.

Dann folgt der Zeichner Dürer zuerst mit dem Gebetbuch des Kaisers Maximilian, dann mit einer glänzenden Reihe der Zeichnungen und Aquarelle. Dürer ist der genaue deutsche Künstler, der zugleich am meisten internationale Berühmtheit genießt. Bevor diese Kunst ausblüht, sucht sie im Gegensatz zu vieler deutscher Kunst ihr körperhaftes Fundament. Das Wunder der Zeichnung bei Dürer, in dem es aus dem gotischen Stil entsprungen ist, hat ebenfalls eine äußerst kontrastvolle Spannung. Da ist »Agnes Dürer« und das Erlanger Selbstbildnis wie um ein unfaßbares Bewußtsein herumgeschrieben, dann die »Bäuerin« mit ihrer momentanen Lebenswahrheit, das »Bildnis der Mutter« mit einer tödlichen Unerbittlichkeit des Lebensernstes, dann das ganz objektiv scharfe Selbstbildnis als Akt oder wieder die unglaubliche Naturrhythmik der Pflanzenbilder. Von den Aquarellen seien nur noch die Venediger Klause (Schloß Arco), die Burg in Tirol und Nürnberger Ansichten genannt; Blätter, die oft den unnachahmlichen mittelalterlichen Lokalsinn, dann aber wieder etwas im Rhythmus der Farbe ganz und gar Modernes haben.

Schließlich: alle Betrachtung Dürers muß in Kürze skizzenhaft bleiben, wo man sich schon hüten muß, auch eine lange Erörterung mit einer zu schnellen künstlerischen Einheitsformel schließen zu wollen. Wenn Dürer mit der Zeichnung auf den Grund geht und in seiner Druckgraphik, die in den Ausstellungsräumen des Kupferstichkabinetts gesammelt ist, nochmals die ganze gotische Welt durcheilt, ist er als Maler in eine Sphäre hinausgelangt, wo Mensch und Dinge eine neue Objektkraft erlangen. Am Schluß steht bei ihm nicht das Rembrandtische Drama. Aber man verläßt Dürer, von jeder einzelnen Betrachtung her, mit dem schweren Eindruck eines ins Ungeheuerliche gehenden persönlichen Wahrheitssinnes.

[Nürnberg, Blick von der Burg]

[Nürnberg, St. Lorenz]

[Nürnberg, St. Lorenz]

[Nürnberg, St. Lorenz, Englischer Gruß]

Morgen in der Stadt

Die Erinnerung an die schöne Dürerstadt darf noch einmal das Wort haben. Man geht durch die in ihren kurzen Brechungen mittelalterlich geöffneten Raumstücke von kleinen Straßen, Plätzen und Brücken dieser Stadt. Da ist nichts auf die künstliche Horizontale gestellt, die heute allzusehr den geistigen Raumsinn beherrscht. Es gilt nicht zuerst die anlagentechnische Absicht, die bald souverän und künstlich wird; sondern alles bleibt gewissermaßen mit der Reichweite des Schattens der Bauwerke am Orte seiner Entstehung körperhaft und einzeln vorhanden; eines ist an das andere mit natürlicher Beschreitung geklammert, alles um die kirchlichen und geschichtlichen Denkmäler mit Zulauf und Weitergang gegliedert. Und dieser Kern eines lebendigen, mit schaffenden Menschen gefüllten Stadtbildes — wie ein Museum, desgleichen man anderwärts zu Ausstellungszwecken künstlich nachbildet — wird von dem alten Mauerring mit den starken Torburgen umfangen.

Ein täglicher neuer Reiz ist vor der kleinen, als Bauform schlicht monumentalen Frauenkirche, deren Fassade mit Giebel und Paradies ein einziges spätgotisches Zierwerk ist, der geschäftige Hauptmarkt. Auf der mit Bänken und Wägelchen, Ständen, Körben und Tischchen vollgefüllten, in ihrer Neigung überschaubaren Marktfläche vollzieht sich Handel und Wandel heute wie in alten Tagen. Die Farben von Früchten, Blumen, Gemüsen, von Geräten und Ackererde, lagern und blühen gegen die Farbe von Sandstein mit seiner bewegten Gegenwirkung plastischer Zierate. Selbst das Gold von der Fassung des Schönen Brunnens, wiewohl er ein wenig künstlich in seine eigene Erhaltung hineingestellt erscheint, spricht gleichstimmig mit, und das Gitter, das ihn umfaßt, und die Schöpfrohre, mit denen man sein Wasser benützt, gesellen ihn zu den anderen Brunnen dieses Stadtbildes, die man an kleinen Plätzen in der lustigeren, weniger geschichtskräftigen Laune späterer Zeiten, aber mit gleicher volkstümlicher Zweckmäßigkeit antrifft. Der Gemüsemarkt, der nicht in die scharfe Trennung zwischen Auslage und Käufer, zwischen Angebot und Nachfrage zerfällt und dadurch etwas im nachbarlichen Verkehr von der Freude an der bunten Dinghaftigkeit der Erde behalten hat, — Dürer hat derber die Bauerngestalten gezeichnet, die man heute sorglicher und einfacher sieht — dieser Marktplatz gibt ohne Suchen eine Erinnerung an mittelalterliche Städte wie Gent und Brügge in Belgien. Hinter der Frauenkirche setzt er sich fort in dem leuchtenderen Stilleben eines Obstmarktes. Auf dem Platz vor der ehrwürdigen Spitalkirche war ein Blumenmarkt, wo arme Frauen das Frühlingsgelb der Schlüsselblumen feilboten, die sie in Körben vor sich oder als kleine Sträuße in Händen hatten. Auch das arme und einfache Leben sieht in solcher Umgebung wirklich und menschwürdig aus. Und noch bis zur Insel Schütt geht so durch Straßen und Plätze sich sammelnd ein farbiges Band von Blumen und Früchten.

Aber die Erinnerung an die geschäftige Mittelalterlichkeit belgischer Städte kam nochmals in anderer Weise. Ein leichter Regen hatte die sonnensprühenden Eindrücke der ersten Ostertage verwandelt. Jene ersten Dürertage, an denen man das Grab auf dem Johanniskirchhof, gleichgebettet in der Steinfolge der liegenden Grabmäler, mit ihrer geometrischen Ruhe im blauen Sonnenlichte besucht hatte, waren vorüber. Jene seltsam und südlich glänzende Friedhofstimmung zwischen einzelnen hohen Lebensbäumen, mit einem hohen Steinmal in der Nähe, das in seiner oberen Ausbreitung über dem Schafte selber wie ein skulpturales Zeugnis eines geistigen Lebensbaumes war, jene Stimmung trat in die Erinnerung zurück. Der Regen brachte den stilleren Frühling, in dem das Grün der jungen Blätter unbeweglich und die Blüten der Sträucher wie weiße Ruten in der Luft stehen. Diese Stimmung ging nun rings um das schwärzliche Steingrau der alten Festungsbauten und von der Höhe der Burg trat das umliegende Land in erdnähere und gesättigtere Färbung.

Der deutsche Bildschnitzer Veit Stoss

Zur Gedächtnisausstellung in Nürnberg (1933)

Um der Kunst des Veit Stoß, dieses armen Menschen und reichen Künstlers zu gedenken, soll man, noch mehr als bei anderen seines schaffenden Wesens, sich in das Gefühl des späten Mittelalters zurückversetzen. Man soll, nach Nürnberg gekommen, zuerst durch das alte Stadtbild hinangehen, wo die ehrwürdige Sichtbarkeit der Geschichte mit der einfachen menschlichen Hantierung auch heute so nahe beisammen sein kann wie in der alten Zeit. Das Leben ist hier tätig geblieben in den fränkischen Maßen einer vielteiligen bürgerlichen Anschaulichkeit, welche dem Sinne etwas gibt von der geschichtlichen Beharrung. Man wird dann auf die Burg steigen; und wenn nun die Glocken der Mittagsstunde ihren kurzen Gesang beginnen, der über die Vielzahl der kleinen Dächer, über die kleinen alten Zeilen dieser rötlichen kurzen Firste und Giebel hinsummt, dann schwebt ein Gefühl der Zeit über der Vergangenheit und gibt jene Beschaulichkeit über dem Gewesenen, welche den Willen zur Ruhe bringt. Es gehört zum wesenhaften Anblick solcher alten Stadtbilder, daß sie zum Auge sprechen wie mit der Sprache einer willenlosen Sicherheit. Während eine Glocke von Sankt Sebald noch eine Zeitlang ihre gleichen Schläge tut, beginnt man gewissermaßen die kleinen Zeilen der Dächer zu lesen, aber nur so, wie wenn man Noten liest, ohne einen bestimmteren Sinn als den einer reinen Empfänglichkeit.

So ruht die Geschichte, wortlos geworden, in den stillen Zeichen ihrer Vergangenheit. So hat sich das Mittelalter bis zu seinem Ende immer mehr mit Zeichen gefüllt und ist dabei wortloser geworden, es hat sich immer mehr belebt in der Einzelheit und dabei doch an Leben abgenommen; und gerade diese Stadt Nürnberg ist die Hauptzeugin solcher vielfachster Zunahme und doch schließlich des Umbrechens der gewesenen Lebensform in eine andere. Albrecht Dürer hat in seiner Person und Kunst den Umbruch ins Neue zugelassen und mitgestaltet; Veit Stoß ist bis zuletzt mit den alten Formen in der gleichen Front weitergestanden. Es ist aber in allem ein Ringen der Formen und Zeichen um das tiefere Lebenswort der Geschichte, und das Symbol dieser Lebenswendung in reinem und fleckenlosem Erwarten ist jener Sinnvorgang, welchen man unter dem »Englischen Gruß« begreift. Dort hebt sich im Blicke zwillingshaft mit dem gleichen hohen Chorhaus wie Sankt Sebald die andere Kirche Sankt Lorenz, in deren Innern sonst immer vom Gewölbe das berühmte Werk des »Englischen Grußes« herabhängt, welches jetzt zur Ausstellung in das Germanische Museum gebracht ist. Ein Hauptwerk des Veit Stoß, ein berühmtes Wahrzeichen Nürnbergs ist dieser hölzerne, gitterhaft schwebende Rosenkranz mit seiner edlen, zweifigurigen Mitte von Engel und Jungfrau zugleich ein sonderbar gesteigertes Symbol vom Ende der Gotik. Der Ausdruck des Engels hat eine sprechende Kraft, als ob er alle stumme Möglichkeit überbieten wollte. Alle körperlichen Formen sind hingeführt und umgeschrieben in Gestaltung; alles lockert sich, bewegt sich und bindet sich, um im Zeichen zu dienen; es wird eine Schlankheit hoher Worte und Linien, gleich den Domen selber. Aber gerade in dieser sprechendsten Kraft der Äußerung wartet auch die Stummheit oder eine Erstarrung. Das ist das Ende der Gotik.

Die alte Stadt liegt als ein langes und stetig zusammengeschobenes Baugefüge vor unseren Füßen, mit ihrem leise spürbaren Irrwerk von zwischengezogenen Wegen und mit dem queren, ebenso ahnbaren Knicke des Flusses durch ihre Mitte. In unseren Gedanken aber hängt der »Englische Gruß« des Veit Stoß, dies große Oval seines heroldsinnigen Werkes über ihr in der Luft; die Häuser stehen darunter in ihren kleinen, winkelhaften Gevierten wie eingeteilt in Beete; und das ganze alte Stadtbild ist selbst in seinen vierseitigen Grenzen und Mauern hineingeschoben und festgestellt wie ein altertümlicher steinerner Garten. Das Bild der Geschichte ist hier immer noch wie ein gotischer Garten, weil auch jenes Hausgefühl erhalten ist, das nicht wie in der Renaissance bloß dem eigenen Block zugerückt ist, sondern von der Erde zum Dache in Wand und Giebel noch ein altes Gesicht hat. Solches Bauen war in seinem Gesetz zugleich Wachstum; aber gerade dieses steinerne Wachstum ist trotzdem der Natur wieder am fernsten und gleichwie die gotische Kunst vor allem der Ausdruck von Zeitart und menschlicher Vergesellung. So liegt die Stadt der Vergangenheit abgetrennt und alt verklammert im Lande und der Horizont, schön zu sehen von der Burg aus in den duftigen Kreisen seiner Höhen, geht wie ein blauer Umlauf und sonderbarer weiter Naturring um das trockene Steinbild.

Eine Verklammerung der Menschen bis zur Gegenwirkung und streitsamen Ausflucht im persönlichen, zeitlichen und religiösen Schicksal, dies gehört in das Ende der Gotik. Die Madonna und die Passion, die Lieblichkeit und die Schwere — auch als zwei Hauptmotive im Schaffen des Veit Stoß — stehen nahe beisammen. Und je zierlicher das Gefältel und das Rankenwerk werden kann, desto heftiger kann doch zugleich die Gebärde nach außen treten. Eines kann schließlich das andere nicht mehr hindern und verbergen und man kann vielleicht hinter einem scheinbaren Linienspiele von krauser Unverbundenheit ein Leiden, eine Leidenschaft und eine in Grimm bewegte Seele verspüren. Der hohe Sinn gräbt und furcht sich ein und schlägt dann wieder zu sich selber heraus; und sicher ist auch innerhalb des figürlich-zierlichen Tuns und Scheinens der späten Gotik ein größeres zeitseelisches Bekenntnis als in den »objektiveren« Formen der hierin neutraleren Renaissance. Das darf man denken, wenn man die von schwerer Kraft gefüllten Sandsteinreliefs des Veit Stoß in Sankt Sebald betrachtet, »Abendmahl«, »Gebet am Ölberg« und »Beginn der Passion«, die als Hauptwerk zu der Ausstellung mitzusehen sind. Sie liegen noch vor der Jahrhundertwende und also vor jener Zeit, da der schon berühmte Künstler durch die Betrugsgeschichte 1503 im Gesicht gebrandmarkt, seines guten Namens und der Freizügigkeit beraubt und damit in eine Wirrnis für Leib und Seele gestürzt wurde, die sich auch durch einen späteren Gnadenbrief des Kaisers nicht mehr in die guten Bahnen eines meisterlichen Alterglückes zurückführen ließ. Schwere Gebärden und ein heftiger Ausdruck ist in engen Raum gefaßt; alles drängt zur Fläche heraus. Das Künstlertemperament belädt sich in anderer Weise als etwa bei Riemenschneider, und während dieser in einen feinen Glanz abbiegt, wuchtet es hier persönlich nach außen. Hier will etwas auch auf heutige deutsche Kunstempfindung weisen. Und neben Dürer und Grünewald kommt uns überhaupt Veit Stoß als deutscher Charakter von einer unausweichlichen inneren Beharrungskraft am nächsten.

Es entsteht, indem man die schönen Lichtbilder des großen frühen Hauptwerkes, des Krakauer Marienaltares, dann in der Ausstellung betrachtet, eine künstlerische Schicksalsempfindung, die man vielleicht rein aus den Formen schon sehen darf. Es sind die Formen eines Meisterbegriffs, wie er zum Mittelalter gehört, in einer Formbildung, die immer mehr sich gewissermaßen gewandhaft durchwirkt und aus sich heraustritt. Sie mußte sich in dieser Richtung einmal selber überholen. Das persönliche Temperament des Veit Stoß erscheint zugleich als charakterverwurzelt in der Zeit. Es ist ein Kampf um Aufbruch oder Verhaltenheit, um eine innere Rechtskraft und bleibende, auch religiöse Verankerung. Es ist jener Kampf, den Dürer für sich dadurch schlichtet, daß er aus der dramatischen Unruhe seiner »Apokalypse« ausweicht in eine »Natur«, welche ihm Italien mit Hilfe neuer künstlerischer Begriffe gibt. Damit hört der mittelalterliche »Meister« gewissermaßen auf, und es entsteht etwas von dem Begriff des freien Künstlers. Veit Stoß ist der heftige Meister geblieben, und wenn er in seinem letzten großen Werk, dem »Bamberger Altar«, abläßt von der ausladenden Kraft und auf eine stillere Schließung der schönen Figuren zugeht, so ist dies nicht so sehr ein Wille zu einer neuen Schönheitsart, sondern die meisterliche Resignation, welche in ihrer schaffenden Liebe gegenüber der früheren sprechenden Stärke stummer geworden ist. Verhältnismäßig stumm und mit einer dringlichen Genauigkeit steht dieser Altar in der Ausstellung im Vergleich zu einigen anderen Altären, die der Ausstellung auch ein teilweise mit dem Dürer-Gedächtnis vor fünf Jahren ähnliches Gesicht geben. Gold und Farben sind von den Figuren gewichen und besonders in den Reliefs hat das einsinnigere Lichtspiel begonnen, das mehr im graphischen Sinne bedeutet als bildhaft bereichert. Die Erzählung von den ewigen Dingen wird deutlicher, aber ärmer.

Die Tatsache, daß der »Englische Gruß« in die Ausstellung verbracht wurde, ist allein schon eine Kunstwallfahrt nach Nürnberg wert. Es sind noch nicht viele Jahrzehnte, da man von der mittelalterlichen Figurenkunst nicht mehr als ein paar Namen und Hauptwerke zu nennen pflegte. Heute hat sich gerade dieses Gebiet außerordentlich vermehrt. Aber solche Hauptwerke behaupten ihren alten Ehrenrang; und dieses während des Sommers nun so nahegebrachte Werk mit am meisten. Zuerst will es bei aller edelsinnigen, schlanken Schönheit der Gestalten nicht so ganz aus dem Inneren sprechen. Nur die Gesichter beginnen sofort, ihr behauchtes Leben auszusagen. Dann aber wird man auch empfinden, wie die Figuren selber in der Gegenbewegung ihrer Linien zu leben beginnen, nicht so sehr körperlich, als mit einer hehren Kraft, welche die Blicke gleiten und doch nicht entgleiten läßt. Die Figuren scheinen sich in Drehung abzuwenden; aber sie bleiben doch unausweichlich in die Blickbegegnung gebannt. Sie haben in Schönheit etwas Unentrinnbares, wie es die Passionswerke — hier die drei ausgestellten Kruzifixe — in einer stillen krampfhaften Schwere haben. Und damit kommt man wohl auf den eigentlichen Kunstcharakter des Veit Stoß. Das Gegenbeispiel etwa wäre besonders Hans Leinberger. Bei seiner großen berühmten Madonna wird die Anschauung ausgewogen in körperlich-räumliche Gewichte; sie wird abgelenkt auf eine mehr allgemeine Schönheitsbewegung. Bei Veit Stoß bleibt aber durchaus jenes deutsche Sehen, das auf das Besondere geht, eine unausweichliche direkte Anschauungskraft, welche die Figur mit einer fesselnden Leidenschaft festhält. Man kann von dieser Tatsache aus noch auf andere Formbeobachtungen weitergehen. Hier im Zusammenhang darf auch das einzige sichere Malwerk des Meisters, die Flügel des Münnerstädter Altars, hervorgehoben werden, das im Raum der Figuren doch vor allem etwa gegenüber Grünewalds blühender Kontemplation diese optische Heftigkeit hat, welche uns Heutige besonders beschäftigen kann.

[Nürnberg, St. Sebaldus]

[Nürnberg, St. Sebaldus]

Am Sebaldusgrab
Reise zu Nürnbergs Peter Vischer-Feier 1929

Sinn eines Schreines

Während der Schnellzug durch das nachtende Winterland fuhr, gingen die Gedanken voraus und blieben an dem Sinn eines Schreines, an der Bedeutung einer solchen mittelalterlichen Kunstform hängen. Ein Schrein, eine einfachste Hausform, weitet sich zu dem mittelalterlichen Geheimnis. Ein Gefäß für Reliquien, für etwas Totes, das im Tode neue Wesenheiten entbindet, hat eine Fruchtbarkeit ähnlich wie die Krypta. Auf einen Sockel gestellt, hebt sich das Lebendige aus dem hinsterbenden Acker der Geschichte. Um einen Schrein, welcher Gebeine birgt, erhebt sich ein Bau, ein Dom, eine Stadt, ein Volk und ein religiöses Zeitalter. Die Form, nach innen verschlossen und nach außen sich schmückend, abgehoben vom Grunde und doch grundbildend im Volke, ist wie eine einfachste Symbolform der christlichen Geschichte. Der Schrein, der Schmuck ansetzt und dies auch gerne in den strengen heraldischen Zeichen der Geschichte tut, die aufgebrochene Form der christlichen Kirche, bevor sie sich humanistisch zentriert und gegenüber der großen mittelalterlichen Aufgebrochenheit zum engeren Raumbegriff erstarrt, beide Formgesinnungen sind Schwestern in einem gleichen mystischen Sinne. Beide Bildungen geschehen nicht um einen neutralen Begriff, sondern um eine Erneuerung, nicht um eine sogenannte Idee, sondern um eine Menschgewordenheit; sie geschehen um ein Zeiterleben, welches einen Tod zum Inhalt und zum Fundamente hat.

Eigentlich geht alle, jedenfalls alle christliche Kunst über einen Tod. Während der Zug durch die in der Ferne unkenntliche Nachtlandschaft eilte, nur begleitet von den aus seinen Fenstern weiß beschienenen Schneebänken an beiden Seiten, in welchen die laublosen Bäume und Gebüsche wie eine Verkümmerung und eine wirre schwärzliche Zerstörung starr hereinsahen, kam der Gedanke zu dem Kunstwesen von heute. Welche Leere an wahrhafter Figur ist entstanden, während die sogenannten Ideen scheinhaft zugenommen haben. Aber auch heute ist das Todgefühl in der Kunst lebendig, bei einem Dichter wie Rilke, bei einem großen nordischen Künstler wie Munch. Es wird um so heftiger im einzelnen, je mehr die große, naive und gesetzte Zeitgemäßheit verloren wurde. In der großen mittelalterlichen Zeitgesetztheit aber war der Tod, der Inhalt des Schreines, wie ein gemeinsames Symbol, in welchem das Individuelle hingestorben war. Davon wurde alles Tun frei und alle Kunst wie eine freie und gemeinsame Zutat.

In der Zeit Dürers, in der Zeit, als Peter Vischers Sebaldusgrab, ein ehernes Gehäuse neuer Gesinnung um einen mittelalterlichen Schrein, geschaffen wurde, war die Krise eingetreten. Nun entstehen die Begriffe des Künstlerischen, des Meisterlichen, des Handwerklichen an sich; sie vermischen sich miteinander; aber sie ruhen nicht mehr in der einen Gemeinsamkeit. Bei Peter Vischer ist das Meisterliche und das Handwerkliche als neue persönliche und werkstättische Leistung vor allem sichtbar. Auch sein Werk ist noch eine Zutat; aber schon in einem durchschnittenen und aufgelösten Sinne. Das eherne Material seines Werkes wird frei; aber es dient nicht mehr, sondern es spielt mit eigenen Gesetzen. Die Phantasie wird frei; aber sie ist nur eine ideelle Entflammung oder eine meisterliche Beherrschung; sie hat nicht mehr den großen Hintergrund des Todes. Das naive Wachstum wird durch das freie Werktum zerstört.

Morgengang

Der kalte und bedeckte Wintervormittag drängte die Stadt auf eine eilige und gedämpfte Geschäftigkeit zusammen. Die Türme und Fassaden, die gotische Aufgeschnittenheit von Fenstern und Portalen, die Chöre und Chörlein, das Filigran von Streben, Nischen und Figuren, der gotische Hausrat Nürnbergs in seiner romantischen Gesammeltheit, eingeschlossen von dem Ringe seiner betürmten Mauern, schien für das Gefühl zu einem einzigen Dauerbilde zusammengerückt. Während das museumhafte Innere der Kirchen in einer Düsterung war, welche die Raumformen selber dunkel gedrungen erscheinen ließ, wozu die hohen Pfeiler und die Mauergrenzen in einem bleichen Steingrau gesellt waren, zeigten nur einzelne Altäre und die gotischen Fenster das Geheimnis der Farbe. Das hochgepfeilerte Ziergerüst des Sakramentshäuschens von Adam Krafft und die großlinig durchbrochene Silhouette des Englischen Grußes von Veit Stoß verloren sich gegen die düsternde Wölbung. Aber man empfand die Schärfe der körperlichen Zeichnung in der gedämpften Farblosigkeit, zu welcher der Raum zusammenrann, sichtbarer. Man sah die spätgotische Problematik, daß nämlich die Zeichnung stark wurde, worin aber die ganze Völligkeit des mittelalterlichen Daseins sich zugleich aufspeicherte und verlor. Auch am Äußeren der Kirchen empfand man dieses gleiche Formgeschehen stärker, dieses Heraustreten des figuralen Lebens der Skulptur aus dem Körperhaften ins Flächige und »Malerische«. Das romantische Bild Nürnbergs erschien im winterlichen Gewande, wie gesagt, als ein strengeres und auf besondere Weise historisch instruktives Dauerbild. Und nur an der Pegnitz war mit dem fließenden Wasser der Wechselschein der aufgebauten Steine reicher und das flutende Leben in den Momentbildern der Brücken beweglicher.

Außerhalb der Stadtmauer ging der Blick auf die Burg. Auch sie hatte in der beschneiten Ruhe ihrer Türme und Firste, in ihrer ruhigen, wehrhaften Lagerung, etwas Fremdes. Während der Blick entlang den winkelweiten Parallelen der Stadtmauern auf ihre mäßige Höhe folgte, konnte man an Dürer denken, dessen Haus in der Nähe war, an den Burgaufbau in einer Radierung, überhaupt an den Sinn von Aufbauten in spätgotischen Bildern. Das Altertümliche der Häuser ist da oft wie Wappenformen, während sich der bürgerliche Geist zu neuen Raumzielen verändert.

Ein Weg mußte auch am Peter Vischer-Hause vorbeiführen, durch eine kleine Straße, welche über die Krümme eines Hügels im Hausgewinkel zur Pegnitz weisend, sich auf kurze Strecke verbreitert. Sie gibt einer Flanke von Häusern altstädtischen Formates Raum. Ein Putzbau mit Dachaufbauten trägt Vischers Gedenktafel.

Das Sebaldusgrab

Je düsterer das Innere der Kirche am Nachmittag wurde, desto mehr konnte man von dem erzenen künstlerisch-kunstgewerblichen Kleinod, welches das Sebaldusgehäuse darstellt, eine Empfindung haben, die wie von einem Walde war. Die dünnen Stämme stiegen aus einem wirren Sockelgrunde und wölbten sich in der Höhe gegeneinander. Aber dieses Waldgefühl blieb nicht ursprünglich, sondern es spielte in einen Märchensinn hinüber, und indem man in der Nähe dann immer wieder alles betrachtete, sah man das Christliche und das Antikische, das Mythologische und das Genrehafte in einem humanistischen Fabel- und Märchensinn zusammengespielt. Große Schnecken, als Erzklumpen gestaltet, tragen das Ganze; das Architektonische verliert sich, der Grund wird schwankend. Aber das Heilige der Apostel und Propheten steht noch im Nachklang der gotischen Repräsentation und Kinder und Putten mit Hörnern und Instrumenten spielen sorglos überall dazwischen.

Eine Mischung von Anschauungen wird weiter im einzelnen deutlich. Vier männliche Akte von antiker Art und die vier Frauengestalten der Kardinaltugenden bilden eine neue Gesinnung im Sockelumkreis des Werkes. Über dem Spiel von kleinen Reliefszenen erheben sich die Reliefbilder der Sebalduslegende am schreintragenden Sockelaufbau. In den Schmalseiten stehen die Figur des heiligen Sebaldus und Peter Vischers bekanntes Selbstbildnis. Dies letztere ist in seiner Neutralität, in seiner reinen Werkhaftigkeit und im Material fundierten Bürgertugend ein eigentlicher Angelpunkt des Werkes. Die hohen Fialen des ersten Entwurfes sind bekanntlich in der Entstehungszeit von 1508—1519 aufgegeben worden; mehrstufige Kuppeln traten an ihre Stelle. Das Problem, in dem sie stehen, ist, ob die formale Vielteiligkeit oder die räumliche Einheit künftig den Vorrang bekommen wird. Während sich die Kleinwelt eines neuen Phantasie- und Märchenspiels befreit, kapselt sich die Kreaturempfindung ein. Das ist wohl das eigentliche, auch formscheidende Erlebnis an dem Sebaldusgehäuse. Die räumliche Geöffnetheit ist nun anders als die gotische Aufgebrochenheit.

Was könnte man noch sagen über das Proportionsgefühl eines neuen geistigen Ausdrucks: Die freie Willkürlichkeit, die bewegliche Knotung des Kleinfigürlichen fesselt zugleich das Auge und wirkt doch optisch zerstreuend. Es ist darin sozusagen ein Erzgefühl neugeworden, ein Blick für das FlüssigFeste des Materials. Aber die geistige Proportion zum Hauptfigürlichen ist nun anders. Das Geistige, Weltanschauliche trennt sich vom ästhetisch Formalen. Die Hauptfiguren werden in eine ethische Repräsentation gestellt. Heute noch ringt die Kirchenkunst darum, diese Zwiespaltung wieder in einen Gesamtorganismus aufzuheben. Dazu könnte man sich ein neues Spiel des Lichtes in der Kandelaberform von Säulchen, in den Leuchterweibchen deutlich machen. Ein eigentümliches Helldunkel weist auch in diesem Erzwerke auf den neuen Lichtsinn seiner Zeit. Vom Gefühl des Gewichtes wäre noch zu sprechen, das nun kosmisch herabsinkt; von der Verkleinerung des Figürlichen, das sich dem großen Stempel der Kreatur entzieht.

Aber Haus in Haus gestellt, den gotischen Schrein in das Gehäuse der begonnenen Renaissance, und dieses Baldachinwerk wieder in den hohen Chor von Sankt Sebald, so sieht man das Schicksal von Zeiten an einem Hauptwerk der deutschen und Nürnberger Kunst ineinandergreifen. Wir leben, so kann man zum Abschied denken, trotz alles kleineren und vielen Fortschritts, noch immer in diesen gleichen und großen Problemen. Nürnberg, mit mehr als romantischer Träumerei angesehen, läßt dies selten deutlich erfahren.

[Nürnberg, Sebaldusgrab, Der heilige Sebaldus]

[Nürnberg, Sebaldusgrab, Das Eiszapfenwunder]

Schönheit der festen Stadt

Ein Nürnberger Brief über die Macht (1931)
I

Wenn der kahle Winter ausgeht, der alles in offene Sicht gebracht hat, oder wenn dann das neue Wachstum des Frühlings beginnt, der noch vor den dunkleren Blättern die hellgrünen Blütenbüschel, etwa der Ahorne, wie eine wappenhafte Koloristik in die offene Luftsicht hineinstellt, dann ist der Anblick von Burgen oder von festungshaften Städten vielleicht am schönsten. Der Stein und das steinerne Baubild ist dann wie ein helles kaltes Licht selber. Man sieht mehr als das Altersgrau diese kalte oder kaum erst angewärmte Helle, welche, ohne zu strahlen oder zu dunkeln, einen festen Bestand hat. Das Bild ist nicht im gewöhnlichen Sinne malerisch, es hat eine höhere und unangreifbarere Bildform. Es ist abweisend und dadurch geistig und dabei doch ein Äußerliches oder Äußerstes und in diesem Sinne das Urwesen der Architektur. Der Stein hat dann in stärkerem Maße etwas Schlummerloses oder Waches; und er hat, indem man ihn mit seinem Zweck verbindet, etwas Wehrhaftes. Trotzdem ist dieses Wehrhafte in der großen Kühle nicht trutzig, sondern hat die reine Ausschließlichkeit, welche sowohl der Materie wie dem Geiste eignet. Diese doppelte Ausschließlichkeit, deren Verbindung auch im Geiste des sakralen Bauens ist, bringt Wehr und Wahrheit zusammen. Es gibt nicht mehr viele deutsche Städte, in denen man dieses Geheimnis des Mittelalters, die innige Berührung von Reinheit und Macht, noch heute ganz anschaulich erleben kann. Die Stadt Nürnberg, das alte Herz der heutigen Stadt, gehört zu ihnen.

Nürnberg hat die mittelalterliche Burg, welche als Zitadelle über die Stadt herrschte, noch in der zwar veränderten, aber wirksam gebliebenen Anlage, mit der romanischen Schwere, den reckenhaften Hochformen und dem weiten Umblick; und es hat die Festungsform der Stadt selber, welche am Ende des Mittelalters mit verstärkter Macht den Horizont als einen neuen und festen Ring an die Erde schloß. Es ist ein Widerspiel in diesen beiden Befestigungsformen. Die mittelalterliche Form ist enger und blickt doch in die unbestimmtere, größere Weite; die neuere oder entwickeltere Form, die auf die Festungsformen späterer Zeiten weist, ist wie ein weiter Gürtel, und sie schließt sich doch um eine begrifflich enger gewordene Menschheit. Es sind die Spielformen des Nationalen in diesem anschaulichen Widerspiel von Burg und Festungsring ausgedrückt. Nürnberg ist am Bruch des Mittelalters zur Neuzeit, des religiös volksorganischen zum humanistischen Geiste am deutlichsten, weil durch die unfälschbare Spiegelung der Kunst, beteiligt. Und daß dem Besucher der Stadt auch in diesem feinen, ineinandergestellten Widerspiel des Festungssinnes ein Stück von dieser Entwicklung miterzählt wird, an welcher auch der große Sohn der Stadt, Albrecht Dürer, zugleich als ein Entwerfer von neuen Befestigungsformen beteiligt ist, das ist ein besonders glückliches Erbe der Geschichte.

Der Blick von der Burg auf die Stadt und das von Bergzügen weitumrandete Land ist immer wieder überraschend und größer, als man es im Gedächtnis hatte. Der Nebelrauch der fernen Höhen fließt vor dem Blick mit dem Dunst und Rauch über der großen Stadt zusammen, und die nahe Altstadt liegt wie ein Stück Mittelalter darunter. Es ist die Eigentümlichkeit hauptsächlich spätmittelalterlicher Bilder, daß sie sich dem Auge erzählen; und so erzählt sich auch dieses altberuhigte und mit den vielen Giebeln und Firsten, mit dem Gleichschritt von Hausgruppen, mit den Dachrücken und der Zwillingshaftigkeit der Türme und der beiden hohen Chorhäuser von Sankt Sebald und Sankt Lorenz, mit dem Gefälle aller Linien von oben her und dem verborgenen Einbruch am Durchzug der Pegnitz so merkwürdig regsame Stadtbild für den Blick mit einer Anschaulichkeit, die nicht bloß eine antiquierte und malerische Idylle ist. »Erzählen« hängt mit dem Worte »Zahl« zusammen, und so hat dieses Stadtbild etwas »Gezähltes«, aber nicht in der nackten Typenform eines heutigen Bausinnes, wo alle Teile zu einem anonymen Ganzen gehören, sondern in einem lebendigen Charakter, in welchem das Ganze in allen Teilen ist. Das scheint ein bloßes Wortspiel zu sein, aber es ist auf eine oft unbegreifliche Weise mehr. Es steckt auch dies darin, daß die moderne Typenförmigkeit zwar wohl Raumanlagen geben kann, aber keine solche Bildhaftigkeit erreicht, während die mittelalterliche Gleichförmigkeit vielleicht wenig zweckmäßige Raumanlage in unserem Sinne hat, aber immer in den Charakter der Bildhaftigkeit wie mit einer planvollen »Zufälligkeit« hineingerät. Die Außen- und Endformen des Bauens, die wie »Zufälle« sind, erschließen gewissermaßen aus Gegensatz das Bild des Grundrisses. Türme verbildlichen so den Charakter einer Welt; und — indem wir uns an unseren Standpunkt hier auf der Burg über Nürnberg erinnern — auch Burgen haben diese gleiche, eine Weltzeit anzeigende Bildkraft. Reinheit und Macht treten in einer bestimmten Gedankenordnung zueinander.

Die ganze Stadt aber ist wie in einem liegenden Konvexspiegel von der Burg aus erschaubar und sie ist in ihrer Geborgenheit zwischen den Türmen, Basteien und Mauerzügen ihres steinernen Festungsgürtels behütet wie der Begriff einer inwendigen Geschichte gegenüber einer auswendigen oder wie ein Symbol des weiblichen Wesens der Geschichte. Man ist gerne versucht, diese etwas paradoxe Ausdeutung eines alten städtischen Daseinsbildes zu wählen, indem man nun, von der Burg herab zum Festungsumkreis fortgehend, die folgenden Formen renaissancistisch werdender Befestigung als männlich bezeichnen will. Man will dies, weil überhaupt sich aus dem organischen Menschheitsbild des Mittelalters eine männlichere Kultur emanzipiert und ihre Formen zwar innerlich befestigt, jedoch aus den Zusammenhängen abstrahiert. So wie sich gegenüber der nahen Verbundenheit von Wehr- und Wohnform einer Burg die rumpfhaften Basteien als Selbstzweck hinausgliedern, so wird überhaupt das ganze Befestigungsbild mit Sockel, Mauerhöhe und Brüstung rumpfhafter, es wird wie ein Torso, zugleich kernhaft, in der Wahl von Stein und Masse und noch mehr geometrisch in der Kraft von Stirn, Schultern, Flanken. Masse und Form, Konkretion und Abstraktion verbinden sich während ihrer Hinausgliederung aus dem Wohngürtel im unmittelbaren Kontrast.

Zwischen Vestnertor und Tiergärtnertor, hinter welchem Dürers Wohnhaus steht, ist dieser Kunsteindruck der Machtformen in den hochgehenden und durch Vertikale wie Horizontale stufenreichen Außenpartien besonders wechselnd und sprechend. Man möchte sagen, der Ausdruck der festen Kraft werde hier kristallisch; das Bild der Festung erzählt sich nicht wie das Bild der alten Stadt, sondern es ist vielmehr im rein Optischen vorhanden. Dabei sind mit den Vor- und Rücksprüngen, mit den Linien, die in negativen und positiven Winkeln gegeneinander stoßen, ebenso mit den mächtigen offenen Schächten des Burggrabens und den Kuben und Rotunden der Mauerkörper und Türme ebenfalls kontrastvolle Komplexe von Negationen und Positionen des Bau- und Raumgefühls gegeben, an welchen sich das Auge mit einer Lust am Labyrinthischen absieht, während sich der Sinn einem eigentümlich schönen Zwang von notwendigen Führungen und Visierkräften ergibt. Schießscharten und besonders auch Geschützscharten sind in diesem Sinne für das Auge schon immer Akzente historischer Lust und kühner Sicherheit gewesen. Man erinnert sich, daß man mit ähnlicher Lust noch weiter entwickelte Festungspläne betrachtet hat, die in ihrer zeichnerischen Konstruktion, in ihrer ausgegliederten Sternhaftigkeit etwas in sich tragen von reinster, menschloser Architektur, von reinstem Zweck und doch von zwecklosester Dauer. Alle Kräfte liegen in einer planvollen Peripherie und spielen im Zickzack um sich, wobei sich der Begriff des Frontalen wie in einem universalen Kern verliert. Kraft und Ziel sind zu einer Folge von sinnreichen Facetten geworden. In Nürnbergs Festungsbildern sind erst die neuzeitlichen Anzeichen zu diesen Abstraktionen vorhanden. Die dicken, hohen Rundtürme, die langen, hohen Mauerflanken, die schulterhaft bewehrten Durchlässe der Pegnitz bilden alle noch ein konkretes historisches Bild, das den gegen das Hallertor Vorwärtsgehenden als eine volkskräftige und bürgertüchtige Ablesung beschäftigt, in welcher sich beim Rückblick die hohe Burg wieder als eine größere und ältere Geschichte hineinzeichnet.

Wenn diese Mauer- und Burgwerke unter einem winterlich stillen Himmel stehen, ist es wie eine alte Sage; wenn ihre Steinfarbe sich gegen das gewitterige Schieferblau eines Frühlingshimmels erhebt, ist es wie eine große Ballade.

II
An Herrn Geheimrat Theodor Fischer!

Indem dieser Nürnberger Eindruck nun in Briefzeilen übergeht, die Ihnen, sehr verehrter Herr Geheimrat, gewidmet sind, geschieht das in der Anknüpfung an Ihre Einleitungsworte zu der Protestaktion der Architekten gegen ein äußerliches kunstpolitisches Programm in diesem verflossenen Spätwinter. Als ich das letztemal in Nürnberg war und dabei zugleich die Erinnerung an die Frühlingsstimmungen des Dürerjahres wieder auffrischte, hatte ich auch immerfort einen Satz aus jener Einleitung im Sinne, in welchem Sie sagten, daß der Kunstdienst an einer Parteiidee nicht gut sei, »weil diese Idee ihrem Wesen nach mit Machtbegriffen verbunden, also nicht rein ist«. Sie sind ein Redner über Kunstdinge, der am wenigsten bloßer Redner und ebensowenig von der Zunft der Ästheten ist, sondern der ein menschliches Verhältnis zur Kunst repräsentiert, in welchem Ihr Zeitalter mit drin steckt. Es ist ein Lebensganzes, aus dem Sie denken und in welchem sich das Werkhafte vor einer ideellen und begrifflichen Reinheit verantwortet. Das künstlerische Schaffen hat bei Ihnen eine starke ethische Bindung, die auf Ihren Persönlichkeitsbegriff übergeht. Sie arbeiten mit dem Recht der Natur, welche das Gemäße einschließt und welche in dieser Gemäßheit zur Idee hin immer in ihrem Rechte bleibt.

Aber gibt es vielleicht auch ein Recht des »Ungemäßen«, des nicht Einschließenden, sondern Ausschließenden oder rein Trennungshaften, des notwendig und richtig »Unideellen«? Denn, indem man geneigt ist, Ihnen auch zu dem angeführten Ausspruche zuzustimmen — zumal man Ihnen bei dem gegebenen Anlasse nicht anders als zustimmen konnte —, so schiebt sich doch immer ein Gefühl dazwischen, das zu dieser Zustimmung eine Bedingung setzen will, ein Urinstinkt vom Gefühle der Macht her, welche zugleich Schönheit ist. Und wenn man so den alten schönen Gürtel von Nürnberg umkreist, soweit er noch erhalten ist, und die bürgerliche Verzettelung in individualisierte Architekturformen an den Stellen erlebt, wo dieser Gürtel durch die Zeit zerbrochen und seine Schönheit verloren worden ist, wenn sich so für den Gehenden das Gesicht der Lust in ein Gefühl der notwendigen geschichtlichen Trauer verwandelt, so schiebt sich ein anderes Gewissen ein, welches nicht vor der »reinen Idee« bestehen will, sondern sich an der ehernen Notwendigkeit aufrichtet. Die Machtform ist vor der Idee gewissermaßen illegitim. Sie trennt Mensch von Mensch, und je mehr man sie bloß logisch rechtfertigen will, desto abstrakter, schärfer und zugleich zerbrechlicher wird sie. Es ist wie bei dem alten Sprichwort: allzu scharf macht schartig. Aber damit sind wir der Sache nicht entronnen, und das Gefühl, das uns leitet, ist nicht zufrieden. Wir denken daran, wie nahe Wohn- und Wehrform in den frühen und einfacheren Zeiten verbunden sind und daß sich dann die Machtformen zugleich kernhaft und abstrakt hinausgliedern. Diese späteren Machtformen nehmen aber in ihre Abstraktion auch große menschliche Proportionsgewalten mit sich hinaus, und sie erhalten damit, noch mehr fast als die instinktmäßigen früheren Formen, einen sonderbar festen Abglanz der »Idee«. Es ist dieser Abglanz, der alle unsere geschichtlichen Instinkte fesselt, und je größer und »ungemäßer« im Verhältnis zu einer reinen Menschlichkeit er ist, desto stärker bindet er uns und im gleichen Augenblick tragischer. Und so ist es ja schließlich alle Lust und alle Tragik der Geschichte, daß sie vor der Idee gewissermaßen illegitim ist.

Es ist wahr, wir verirren uns mit diesen Gedanken in Unlösbares. Aber ich erinnere mich wieder an ein früheres Wort von Ihnen, sehr verehrter Herr Geheimrat, worin Sie ungefähr sagten, daß die Kunst etwas Unvollkommenes an sich haben müsse, um wirklich Kunst zu sein. Hier liegt die Möglichkeit des praktischen und des künstlerischen Lebens wie eine Lösung und zugleich wie eine Fußangel verborgen. Das Leben selber ist eine Unvollkommenheit, und alles, was es tut, bleibt in der Frage schweben, ob es damit mehr eine Wehrform oder eine ideelle Konsequenz erfüllt. Und wenn wir die Frage nach dem Verhältnis von Macht und Idee mit einem »non liquet« schließen müssen, so dürfen wir uns doch mit einer Art von Blindheit der Geschichte und einer ehernen Notwendigkeit der Form vertrauen, die auch eine geistige Notwendigkeit ist. Die Sache wird dadurch nicht leichter und vor allem nicht parteimäßig einfach. Sie gerät vor allem in ganz andere Spannweiten, als sie gegenwärtig teilweise parteimäßig durch ein biologisches Kunstgesetz oder durch einen biologischen Konservatismus vertreten und aufgetan werden können, einen Biologismus, der weder im Radikalen noch im Konservativen viel bedeuten kann, sondern, unbeschadet der rassenmäßigen Unzerstörbarkeit und ihrer inneren Fortbildung, oft nichts weiter als philisterhaft ist. Aber dahinter bleibt die große Frage der Macht oder »tendenzlosen« Gewalt stehen (selbst wenn sie von einer Partei vertreten wird). Es ist das Schauspiel der Geschichte, daß sie sich immer von der Tendenz reinigt, und wenn sie diese Reinigung einmal ganz vollzogen hätte, wäre sie selber zu Ende. Bis dahin leben wir in ihren Kräften wie in steinernen Formen, deren Kern wir nicht bilden, selbst wenn wir wie in Burg und Festung darin wohnen.

Diese Gedanken als Folge Ihrer Worte und eines darnach geschehenen Besuches des alten Nürnberg Ihnen, verehrter Herr Geheimrat, schreiben zu dürfen, macht eine verehrende Freude

Ihrem ergebenen

Konrad Weiß

[Nürnberg, Dicker Turm und Grabenwehr am Frauentor]

[Nürnberg, Östlicher Maxtorgraben]

Die Kirche der Asam

Grundsteinlegung vor zweihundert Jahren
(1933)

Am 16. Mai 1733 wurde »unter unendlichem Volksgedränge mit großer Pracht und Feierlichkeit durch den Kronprinzen Maximilian Joseph der Grundstein zur Kirche des heiligen Johann Nepomuk gelegt« (Adolf Feulner).

Eine Legende wird diesem Kirchenbau, der einzigartigen Leistung eines bayerischen Künstlerpaares, als Entstehungsgrund angedichtet. Egid Asam, der Bildhauer und Hauptschöpfer dieser »Privatkirche«, sei zu ihrer anderen Kirchenschöpfung Weltenburg mit Werken von ihm und seinem Malerbruder Cosmas Damian Asam die Donau hinabgefahren. Das Schiff sei in Gefahr gekommen und der Künstler habe für die glückliche Rettung das Gelübde getan, aus dem dann die Asamkirche in München entstanden sei. In Wirklichkeit hat der Künstler den Plan aus freien Stücken gefaßt, um seinem seelischen Bedürfnis im Zuge der Zeit genugzutun, und hat den damals heilig gesprochenen und besonders verehrten Johann Nepomuk zu seinem Patron genommen. Die Kirche selbst, zuerst als kleinere Kapelle gedacht, hatte verschiedentliche Widerstände im ersten Vorhaben gefunden, bis in Zusammenarbeit, während der dann 1739 der Malerbruder wegstarb, sie dann beim Tode Egid Asams (1750) annähernd vollendet so dastand, wie sie München nun als ein einmaliges Kleinod von Architektur und hauptsächlich auch Innenausstattung in seinen Mauern besitzt. Allerdings hat sie durch verschiedene spätere Zutaten und besonders durch den nicht mehr mit der großen Nepomukfigur vorhandenen Emporenaltar auch wesentliche Verluste erlitten, worüber man sich bei Feulner näher unterrichten kann und was, abgesehen noch von der verlorenen Frische im Deckengemälde und sonst, den kunstvollen Eindruck in der Hauptrichtung einigermaßen herabstimmt. Man muß auch, obwohl dies ganze innere Architekturspiel zu einem wunderlichen und wundersamen Dunkel eingerichtet ist, daran denken, daß ein farbiger nach Gold und Silber verlangender und erfinderisch aufgeweckter Geist in ihr viel mehr herrschend gewesen sein muß, als dies aus dem heutigen Gesamteindruck deutlich wird. Immerhin, daß dies nicht nur für den schlichten Beter, sondern auch für die Anlässe gehobener Feierlichkeit eine Lieblingskirche geworden und geblieben ist, das weiß jeder Münchner und alsbald auch jeder Fremde.

Man darf wohl, um die Richtung des Zeitgefühls noch mehr zu erspüren, in der die Asam zusammen für den einen Bruder ihre Kirche bauten, in den Zusammenhang bringen, daß nur wenige Jahre vorher von Effner für den greisen Kurfürsten Max Emanuel die künstliche und grottenhafte Architektur der Magdalenenklause im Nymphenburger Park gebaut worden ist. Der Fürst sucht in der Parknatur eine Zuflucht in zusammengestückten, künstlichen Formen der Geschichte, um sich wie zu einer Erwärmung der menschlichen Natur darin zu sammeln. Der Künstler Egid Asam kauft in der engen Stadtstraße einige Häuser, um nun sein Privathaus und zu ihm seine Privatkapelle hineinzuschachteln; und die nun größer wachsende Kirche ziert er, unterstützt von seinem Bruder, in der reichsten Willkür, um, wie man vor allem glauben könnte, ein religiöses Schauspiel der Augen und des Herzens zu haben. Aber in den räumlichen Visionen bleibt ein kunstloseres stilles Seelengefühl versteckt, das nicht nur aus der künstlerischen, sondern auch aus einer stilleren Seele kommt, wie sie ein anderer geringerer Mensch gleicherweise hegen konnte. Man denke an die kaum bemerkbare Luke des kleinen Guckfensters, das in einem Rahmen rückwärts in der oberen linken Längsseite des Schiffes eingeschnitten einen Blick aus der Schlafkammer des Bewohners gewährt, der so auf den rechten Altar in der dunklen Nische gerichtet werden konnte. Dies ist in der Musik der Formen etwas anderes und durchaus Fremdes. Auf diesem stillen Strahl des Blickes bewegt sich die private Seele um tiefere Erkenntnis.

Der Besuch der Kirche ist für den Eintretenden wie eine Trennung vom alltäglichen Lichte. Er kommt, und die Fassade saugt ihn weg aus dem gewöhnlichen Leben, damit er zwischen sperrenden Felsen und unter den großen, stark durch bogige Profile gerahmten Lichtfängen über die Schwelle trete. Innen, indem das Licht den Eintretenden verläßt, ist die trennende Schwelle aufgehoben und in eine Flucht der gleitenden Schwellungen des Raumes fortgeliefert, denen der Blick folgt. Der Raum ist reich und wird dem Sehenden immer reicher. Aber der Mensch ist dazwischen mit aller Fülle doch wie in eine Einsamkeit geleitet. Die Statik des Baues im ganzen scheint bloß noch wie ein dünner Halt, und dies besonders in dem kreishaft angedeuteten Hauptintervall der Mitte, wo die Bewegung gleichsam vergeht und schweigender wird, um dann neu gefangen in die tieferen Glorien der zwei grottenhaften Chöre übereinander vorzustoßen. Raumovale am Eingang und Chöre antworten auf den Mittelraum, Nischen ziehen den Blick wie in ein umwanderndes Echo; der Rhythmus ist reich und doch befindet man sich wie in einer Vereinzelung.

Ein kurzer Gang führt aus dem Hause Egid Asams unmittelbar in die hohe Emporengalerie, welche das ragende Kirchenschiff in zwei Raumzonen trennt. An der Wandkurve dieses halbdunklen Ganges ist ein großer steinerner Vorhang in zweimaliger Schnürung hochgerafft und scheint dabei im Winde zurückzufliegen. Es ist, als ob dieser rückschlagende Bewegung bekommen und behalten hätte, als die Türe zum ersten Male hinaus in das hohe, von Geistern durchspielte Spektakulum des Kircheninnern aufging. In solcher Nähe fühlt man, daß alles, was diese Künstler anrührten, sich in allegorische Regung verwandelte. Diese umlaufende Galerie hat einen starken Sinn. Sie ist die Versinnlichung eines Daseins und Anwohnens, einer imaginären Zuschauerschaft zur Seelen- und Kirchenszene. Und sie bedeutet auch, wie dieses Innere gewissermaßen voll ist von einer formenden und geformten Neugier.

Aber diese Neugier — wesentlich ist das für das Künstlertum der Asam — ist doch nicht bloß formal witzig bei aller Erfindungslust. Sondern sie hat bei allem orchestralen Spiele, das über der Orgel eingeleitet wird und sich zum plastischen »Gnadenstuhl« über den Choraltären fortsetzt, einen fast starren Ernst. Eine sonderbare Zauberei des religiösen Bildens war diesem bayerischen Künstler- und Brüderpaar gegeben. Es ist das Endspiel mit den noch starren Formen des Barock, das sich schon in ein entlastetes Können und Müssen des Rokoko fortflüchtet. Und dies ist in einen Raum gepreßt, der gleichsam am Himmel hängt und der doch wieder schachtartig, ja bergwerkartig in die Länge geteuft ist wie in eine Höhle. Die Geschichte der Formen geht einem Ende entgegen und es leuchtet wie aus einem Niedergang der barocken Größe.

Man muß in der Asamkirche nicht bloß das beschattete Jubelspiel der Formen sehen, sondern auch das Gerippehafte einer Erstarrung. Es ist da in der ganzen Ausrichtung des Raumes, so sehr auch seine Formen noch geschwungen sind und in ihren starken Verkröpfungen noch die Starre überbieten. Man kann auch solchen Gerippeformen plötzlich begegnen in den Emblemen und hängenden Zieren der Schmalfelder. Und wenn zwar das formal gewitztere Grabmal Ignaz Günthers für den jungen Grafen Zech in der Vorhalle später ist, so ist in der gleichen Vorhalle doch sofort auch die von der Figur des Hieronymus plastisch aufgeschlagene Schrift aus den Totenversen des »Dies irae« zu lesen. Und so hebt sich die Plastik in den Raum wie zum fahlen beinernen Spiele. Auch dies gehört nicht zum geringsten in die Seltenheit des reichen Lebens der Münchner Asamkirche.

[München, Asamkirche]

[München, Asamkirche, Beichtstuhl]

Ein romanisches Bauidyll

Auf dem Petersberg hinter Dachau

Als heimatliches Kleinod heute gehütet, steht eine kleine Kirche romanischen Stils von stammesgeschichtlicher Herkunft auf dem hügelförmigen Petersberge bei Eisenhofen, wenige Gehstunden hinter Dachau. Das kleine Bauwerk gehört zu den ältesten mittelalterlichen Beständen in der bayerischen Kunstgeschichte.

Das Land dahin liegt in fruchtbaren flachen Wellen mit weiten Übersichten. Die Zwiebeln von Kirchtürmen ragen verteilt über die Gebreite der bäuerlichen Fluren und verstärken den Eindruck einer behäbigen Gegend, welche nicht so sehr idyllisch ist, sondern die vielmehr, weil die Baukörper der Kirchen und die Orte etwa gerade so weit eingestuft und gelagert sind, daß sie dem Blicke verschwinden, im ganzen eine offene Fruchtbarkeit unter einem kräftigen Himmel entfaltet. Es ist wie auch sonst oft in Bayern das Bild einer bauernschaftlichen Gelassenheit, welches sich nicht zu Idyllen verengert, sondern in den Maßen eines nutzbaren Überflusses Ort und Wesen hat. Das Gefühl findet sich ruhig und behaglich in solchem Lande.

Plötzlich ist aber nun für die nach Petersberg Kommenden die Höhe da wie ein alter Burghügel, ein sanfter Fahrsteig führt seitlich angebogen hinauf und zwischen Baumgruppen sieht man schon vorher den kleinen weißen und rhythmisch gestuften Baukörper einer Kirche leuchten, welche mit den Merkmalen des romanischen Stils, bescheiden aber fest und ohne alle Umschweife, beschlossen und geprägt ist. Man genießt den herzhaften ländlichen Anblick, der aber alsbald über den Begriff des Ländlichen so weit erhaben ist, als der Sinn gerade des romanischen Baustils mit aller Festigkeit auf Ort und Erde doch eine in sich gestellte Maßhaftigkeit hat, durch welche das natürliche Gefühl sich sofort von einem geistig höheren und geschichtlichen scheidet und unter dieses ordnet. Mit diesem Gefühl kommt man, umgeben von dem blumigen Grase gegen das Wehen von schönen Birken und erwartet von dem ernsteren Umkreis großer Bäume, hinauf und wird dann zunächst entlang der mit breiten Schrägen einfach und gedrungen verstrebten Mauer des Seitenschiffes, indem man die schlichte und hochbogige Schmalheit der Fensterschlitze in ihr betrachtet, zur Ostseite der Kirche vorgehen.

Das Äußere dieser Ostseite, so einfach es gegen die Feldungen auf dem Hügel die Morgenrichtung zeigt und so schlicht die Gesetze seiner Formen sind, erweckt eine besondere Lust des idyllischen Daseins und zugleich gerade in seiner Einfachheit doch die höhere Neugier nach dem Sinn der Formen selbst. Auch kann man ahnen, daß in der Wiegenzeit der bayerischen Geschichte ein solcher Hügel nicht bloß für eine Bauidylle aufgespart sein sollte. Und so ist es denn auch, daß schon die Römerzeit und dann, nachdem die Burg Glaneck des Geschlechts der Ysen hier gestanden hatte, ein aufsteigendes bayerisches Geschlecht — es sind die Grafen von Scheyern — absichtlicher hier zu fußen wußte. Ein kleiner geschichtlicher Ort hat seinen Geist in die Stille der Natur zurückgewendet, mit der er hier von Anfang an eng verbunden war.

Was ist es doch Merkwürdiges um die Ostseite eines romanischen Kirchleins? Da ist der Mittelgiebel, die tieferen Pultdächer an den beiden Seiten und vor allem sind da die drei Rundbauten der Apsiden, die ihre starken Schalen gegen die drei Schiffe des Langhauses abschließend kehren. Da sind die rundbogigen Fensteröffnungen, von denen das Fenster in der Hauptapsis mit seiner heutigen Öffnung allerdings zu groß ist; diese Öffnungen, die gerade an romanischen Bauten — auch noch in den Hochwänden — nicht bloß Fenster sind, sondern wie Ausschlüsse oder wie »negativ« entnommene Körper als einfachste Lichtorte den Kernsinn des Bauens gegensatzartig verstärken. Man wird etwa bei Barockbauten die Fenster, auch wenn sie kunstvolle Rahmungen bilden, kaum länger betrachten; aber hier, wo doch anscheinend nichts Kunstvolles zu betrachten ist, fühlt man sich angehalten zu der Betrachtung eines Gefallens, welches sich schwer Rechenschaft geben kann. Alles ist rahmenlos zusammengerückt, alles in klaren Linien und Bogen, wie man noch mehr im Innern sehen wird, begrenzt, aber gerade dadurch geht das Baubild über begrenzte Begriffe in das jenseitigere Gefühl der alten Zeit hinaus. Die Ostseite ist einfach und doch wie von starken Zweigen her zusammengeschossen. Die Rundungen der Apsiden kehren sich wie Körper einer anderen Ordnung dagegen, aber sie schließen den Bau in einem dreimaligen Rhythmus, man möchte sagen, wie ein Gefäß. Gerade durch die Apsiden tritt ein einfaches Hausgefühl nicht ein, sondern die Raumform wird wie eine Richtung und Zeitform mit verstärkter Abgeschnittenheit festgehalten. Dies klingt unwesentlich und ist doch entscheidend. Es ist da etwas vorhanden von einem kristallischen Körper mit eigenem Gesetz.

Was der besinnliche Betrachter ohnehin spürt, kann er sich so an den einfachen Verhältnissen gesetzhaft klar machen, ohne sofort in weltanschauliche Folgerungen weiterzugehen. Er wird auch die Idylle genießen, welche heute im Eindruck vorwiegt und welche auch durch das kleine Türmchen mit Satteldach und Gurtgesims, das von einer späteren Zeit auf die südliche Apsis aufgesetzt wurde, verstärkt erscheint. Die einfache altbayerische Anlage dieses romanischen Kirchleins als dreischiffige Basilika, welche kein Querschiff hat und bei welcher die drei Apsiden in gleiche Flucht gereiht sind, gibt sich, wie sie auf der Höhenlage ihr schönes kleines Gewicht bildet, ungemein einprägsam. Sie erscheint in ihrem weißen Verputz des Bruchsteins trotz ihrer Kleinheit als ein ganz besonderes heimatliches Wahrzeichen.

»Mit den Augen horchen«, kann man sagen, wenn man einen romanischen Raum betrachtet. In fünf Arkaden bewegt sich die Trennung des Mittelschiffs von den Seitenschiffen. Die Bogen kommen wie verhältnismäßig große und klare Wellen gegen den Vorschreitenden her, einfacher natürlich als bei den großen Domen, aber mit der gleichen Lauthaftigkeit, welche in dieser Bauweise sich verkörpert. Darunter steht die zweiseitige kleine Reihe der Stützen, welche Pfeiler sind mit bloß einer Säule jederseits dazwischen, und zwar an der zweiten Stelle von hinten, in jener ruhigen Trageform des Bogenlaufs, welche man als eine besondere Schweigsamkeit empfinden kann. Die Pfeiler, die nur Gesimsplatten haben, geben in ihrer Geradheit zusammen mit den stirnhaften, profillosen Bogen und dem Hochgewände darüber einen Eindruck, den man als Gesichtshaftigkeit bezeichnen dürfte. Wenn wir also die besondere Wirkung der von den Bogenläufen übergriffenen Raumform als Lauthaftigkeit bezeichnen, so dürfen wir auch vielleicht versuchen, hiegegen die struktive Art der Bauglieder gegen den Raum selber als Gesichtshaftigkeit zu bezeichnen. Und damit würden wir dann auch unsern Ausdruck rechtfertigen, wenn wir sagten, daß das Betrachten eines romanischen Raumes sei wie ein »mit den Augen horchen«. Es hängen weltanschauliche Folgerungen an einer solchen Formulierung eines zweisinnigen oder dualen Raumzustandes. Aber es genügt auch, vergleichsweise etwa an einen Renaissanceraum zu denken und sich zu vergegenwärtigen, wie darin sich die Gegensätze von Halt und Bewegung zu einem einheitlichen Raumbegriff zusammenstimmen, der den Raumsinn des Mittelalters aufhebt.

Viele Worte für ein kleines Raumerlebnis, könnte einer sagen. Aber man sieht, wenn man den großen Schlüssel geholt und aufgeschlossen hat, wie auch andere Wanderer kommen und wie sie das Bedürfnis haben, zu sprechen und sich des Raumes unserer frühen mittelalterlichen Zeit noch anders als bloß in der idyllischen Vertraulichkeit zu bemächtigen. Wir hängen mit neuer Lust der Anschauung und auch des Gedanklichen an unseren alten Dingen der Geschichte. Der reinliche romanische Raum hier zeigt auch, daß die alten Formen nicht niedlich und andererseits auch nicht starr und leer sind, wie sie in der kirchlichen Baukunst heute allzu oft werden. Sie haben vielmehr eine merkwürdige Fähigkeit, innerhalb ihrer Grundmaße groß zu wirken. Auch davon kann man sich ein starkes künstlerisches Nachgefühl schaffen, indem man bedenkend sieht, wie hier der Raum nicht bloß eine Leere ist, welche von den Bauformen eingefaßt wird, sondern wie er gleichsam selber ein mehrteiliges, in kristalligen Verschiedenheiten vorhandenes Baugebilde ist. Doch ist das Wort Kristall nicht ganz richtig, da es gerade die lebendige Begegnungsweise von Bauformen und Rauminhalten nicht deutlich genug aussagt. Diese ist nicht fertig wie die vollkommene Rechnung an einem Naturkörper, sondern sie ist auch geschichtlich bewegt wie die Reime bei einer Dichtung, welche um einen größeren Inhalt kämpfen. Dazu muß man auch auf die Säule aufmerksam werden, welche jederseits nach dem letzten Pfeiler eingesetzt ist. Das Kapitell daran hat einen primitiven Reiz, da seine Würfelform ohne Abdeckung unmittelbar in den Bogenfuß übergeht. Der Bogenlauf von oben schwingt deshalb hier gleichsam ohne Anhalten hindurch. Indem man den stillen Ernst der Pfeiler ins Auge faßt und dann an der Säule vorbeischreitet, wird man ganz körperhaft die Verschwiegenheit erleben, welche eine Säule mit weniger stummer Strenge, aber mit vollerer oder wärmerer Kraft dem Räume mitteilt. Dieses Gefühl geht dann über in die stille Hoheit der Chornischen.

Die Chornischen sind ausgemalt. Man freut sich, daß der Charakter der alten romanischen Ausmalung, besonders in der Hauptapsis, erhalten blieb; denn sie vollendet die Sinnhaftigkeit des Innenraums. Aber diese Freude bleibt allerdings nicht ungetrübt. Die heutige Restaurierung nach mancherlei Bauschicksalen geht auf die Jahre nach 1900 zurück; die Ausmalung auf Grund der aufgedeckten, teilweise besonders in den Nebenapsiden, äußerst spärlichen Farbreste wurde 1907 unternommen. Man fragt sich: was war vorher da und was hat sich verändert? Heute würde die Denkmalpflege ganz anders arbeiten als vor fünfundzwanzig Jahren und es würde wohl, wenn es irgend möglich wäre, noch Vorhandenes zu schützen, nichts neu dazugemalt werden dürfen. Vor allem müßte der alte Befund heute ganz anders geschätzt und festgelegt sein. Das Grundschema der bildhaften Umrisse in der dreizonigen Bildwelt der Hauptapsis scheint erhalten. Es sind da wahrhafte Schönheiten der Verhältnisse im Aufbau einer unteren Engelzone zu der mittleren Zone mit der Petrus- und Paulusmarter und zur oberen Zone mit dem thronenden Christus. Man wird sich über die Bilder besprechen; man wird finden, welche Darstellung von Füßen, von Handgelenken, von Köpfen nicht romanisch sein kann; wieso unsere Nachahmung jenes alte Zeitmaß nicht einhalten kann, das nichts für sich selbst gebildet, sondern alle Formen in der Schreibweise einer scheinbar naturlosen, unendlichen Gegenwart gefunden hat. Man wird immer wieder fragen, warum keine Restauration dies nachmachen kann. Die Antwort hierauf müßte nach dem innersten Sinn der Geschichte fragen. Immerhin wird der Betrachter hier in der Beunruhigung über das Einzelne ein gewisses Grundgefühl doch erlebnishaft behalten.

Restaurierungen können leicht das Gefühl einer Vertrautheit erzeugen, welches dem ersten geschichtlichen Werk Abbruch tut. Und dies dürfte nun wohl auch einigermaßen für das romanische Bauidyll auf dem Petersberge im gesamten gelten. Es ist ein geschichtlicher Fußpunkt, eines der ältesten und wichtigsten noch erhaltenen Baudenkmäler Altbayerns, begonnen von Hirsauer Mönchen im Jahre 1104. Es liegt im bäuerlichen Lande und in seiner Nähe sind die stattlichen Bauten von Altomünster und Indersdorf.

[Petersberg]

[Petersberg]

 

Frühlingsfahrt nach Wessobrunn

An einer altbayerischen Kulturstätte

Fängt unsere Erde, reich, voll einer inneren Tiefe, reich ohne Sorge, seliger Keim, Odem perlender Fülle, wieder den Frühling an — so reich war der unvergeßliche Frühling dieses Jahres —, dann hat auch unser Herz einen Mangel nach neuem Leben zu stillen. In den neu erweckten Gedanken des Deutschtums sucht es nach den alten Wesensdingen unserer Stammkräfte.

Immer will der deutsche Sinn sein geistiges Wachstum stärken aus der Natur selber und aus der Quelle seiner Erde trinken zu neuen Erkenntnissen. Dann blickt er sich mit neuen Maßen um nach den alten und ersten Denkmälern seines geschichtlichen Beginns und Bewußtseins. Die alten Orte der Stämme beschäftigen uns reicher im neuen Deutschland. Das geschichtliche Gedächtnis ruht schweigend in unseren Landen; es wartet auf Ankunft an seinen Orten, es reift aus der Anschauung zu Gedanken und befestigt dann die Erkenntnis in der Begegnung der Menschen. So will man bei einem Orte ankommen und an seiner Quelle zum Abschied trinken. Denn jede Ankunft beim alten Erbgut ist auch wie ein Abschiednehmen, um mit eigenem Sinn dann im neuen Aufbau zu stehen. Die alten Orte geben uns keine Ruhe.

Da ist im Alpenvorland, eingefaltet in die breiten Wellen von Feldungen, der alte Ort Wessobrunn. Waldstücke machen die zügig belebte Landschaft dicht und kräftig, die glänzenden Spiegel der Seen füllen nach Norden den Auslauf der Niederungen, der Hohe Peißenberg begrenzt als eine starke Wacht den Umblick nach Süden, die Randkette der Alpen nimmt aber mit einer mächtigen Offenheit das ganze angelagerte Land auf und gibt dem Gefühl eine sonderbare Ruhe. Die Mauer des Gebirges hat oft diese Wirkung, daß sie nicht nur von der Sonne, sondern aus ihrer eigenen steinernen Dichte zu strahlen scheint wie eine ferne gegürtete Stadt. Hier ist ältestes bayerisches Herrenland, eingestückt darin im Wechsel der geschichtlichen Kultur das Klosterland und herrschend durch das Ganze dieses ausgerodeten Waldlandes hin das Bauernland. Aber das heute bäuerliche Land bleibt immer wieder von den Alpen her wie in einer fürstlichen Gürtung. Und dann schwebt der gebrochene Saum des Gebirges wieder im blauen Dufte zurück und gibt dem hinschweigenden großen Lande ein dämmerndes Alter.

Die Landschaft hat einen offenen und doch auch wieder verborgenen Charakter, hart und schlüssig und doch wieder gelassen, kurvig und darin nicht melodisch, wie auch breit in den Einzelwirkungen, ohne diese ganz zu entfalten, aber mit all diesem zusammen zu großer Gesamtwirkung gerichtet, nicht hintönend in Formen von gleicher Bildung, aber nah und weit von starker Sprachhaftigkeit im gleichmäßig Verschiedenen, und darüber ein weiter Himmel wie ein Schaldach. In den größeren Anhöhen fühlt sich der Wanderer unter dieses weite Dach hinaufgeschoben und sieht eine episch bewegte Stille. Die engere Sprache schweigt und der große Ton der Erde steht allein über dem gewaltig absehbaren Gefilde. Ist man jetzt hier mehr geborgen oder mehr erhoben? Man sucht nach dem geborgenen Sinn der Geschichte zu einer weiteren Erhebung.

Was ist von der geschichtlichen Sprache dieses Ortes geblieben? Es bildet keine reiche Summe mehr, aber es ist natürlich und groß im Grundgefühl, es ruht im Gedächtnis der Natur und in Bruchstücken der Geschichte. Geblieben ist, woran sich die ersten Sinne des erkennenden Menschen klammern und was auch, in die Formen der Geschichte fortgebildet, immer wie ein elementarer Grundbestand bleiben will: ein Wasser, ein Baum und ein Stein. Da ist der Brunnen des Wesso, welchen nach der Legende der Jäger des Herzogs Thassilo fand und von welchem der Herzog unter dem Baume schlafend geträumt hatte. Da ist diese uralte Thassilo-Linde, die zum schönen Baumgefühl in dieser Gegend mit ihren Rodungen als der geschichtliche Mittelpunkt gehört. Und da ist auch der Stein. Wir mögen zunächst an einen Stein denken, der kein Alter hat, an den schlichten Denkstein, den als Nachfahre der vaterländischen Romantik Professor Sepp im letzten Jahrhundert mit der Wirkung eines Naturmals und mit der Inschrift des Wessobrunner Gebets hat setzen lassen. Er steht unter drei mächtigen Linden und wird von den Wanderern aus den wuchtigen Wortlauten unserer Ahnen im doch verwandten Sprachklang gelesen und entziffert. Es ist die naturartige Denkmalsform, welche unsere letzten Jahrzehnte für geschichtliche Dinge liebten; illustrative Schauseiten, die, wenn nicht die Kraft, so doch das Merkmal eines geschichtlichen Ortsgeistes festhalten können.

Aber diese drei Naturdinge sind elementare Teile eines größeren Sinnes. Die Quelle ist in ihrer Brunnenstube gefaßt und rinnt in einer mit drei Bogen von gestreckter Schwingung nach der Sonnenseite geöffneten Halle; sie ist wie ein heiliger Quell in drei vertiefte und schimmernde Wasserfelder weitergeleitet. Wir lieben das Wasser bei Bauwerken; es bleibt bei ihnen für unseren Sinn ewig still und beweglich. Da ist aber auch nochmals der Baum, nämlich das Kreuzholz jenes großen Wessobrunner Kruzifixes, welches, in dem Übergang vom Romanischen zum Gotischen gleich dem Fleisch des Körpers in der königlichen Starrheit gebrochen, doch ein neues Wachstum und mit ihm ein heftigeres Volksgefühl des Mittelalters anzeigt. Jeder Wanderer durch Wessobrunn, wenn er nur einmal den Anblick dieses romanischen Werkes und Restes der mittelalterlichen Ortskraft durchgeprobt hat, nimmt einen unvergeßlichen Eindruck davon mit. Es ist jenes Deutschtum, welches seine eingeborene Kraft ohne konventionelle Zwischenbildung mit dem wahrhaftesten Gefühl von Kreatur vereinigen und das Geistigste gegen alle leere Harmonie in den stärksten Gegensätzen des Körperlichen befreien kann. Die Figur, die an dem gewaltig knospenhaften Holze hängt, scheint sich von dem Beschauer wegdrehen zu wollen und kommt um so stärker in ihre unabwendbar empfundene Herneigung. Es ist auch wie ein Kampf in ihr zwischen einem Gewicht nach der Erde und einer um so stilleren Schwebung. Und alle solche Gegensätze machen, daß ein solches altes Werk nicht bloß zu einem Objekt in einer Andachtsform werden kann, sondern mächtig darüber bleibt und ein Eigenrecht des Ausdruckswillens in seiner Figur hat, womit es zugleich als ein geschichtlicher Zustand von eigener Schnittkraft und Prägung wirkt. Es ist kein Zielstück der geistig zeitlosen Individualisierung, sondern hängt wie ein unabänderlich gewachsener Baum über der Gemeinschaft. Es hat an sich ein ganzes figürliches Bildgefühl des Mittelalters. Ein jeder wird spüren können, wie jeder einzelne Teil an der Gestalt größer oder grundhafter ist als das ganze Kircheninnere der im späten, sicherlich stattlichen Barock erbauten kleinen Kirche, in der es hängt.

Der erste volle Eindruck wird immer der einer Verbindung sein von einer halb königlichen und halb volkstümlichen Erscheinung. Aus der königlichen Haltung des Leidenden löst sich heraus der Augenblick eines sterbenden Mannes. Mit dieser Abwandlung aus der frontalen Stärke der romanischen und kaiserlichen Stilperiode wird das Volksgefühl entscheidender, das dann die gotische Periode beherrscht. Dies ist sichtbar an dem Christus von Wessobrunn. An dieser Figur verlangt noch die gesetzhafte Schönheit der Gürtung einen besonderen Blick. Nur die alte fürstliche und schreckliche Schönheit erträgt eine solche Strenge der schönen Gürtung.

Die Steine der Geschichte allerdings — nachdem wir nun von Wasser und »Baum« in Wessobrunn gesprochen haben — sind zur Hauptsache aus dem Blickfeld verschwunden. Da steht allerdings noch der mit romanischer Stärke in seinen Steinkörper gesetzte und in seine Kanten gerückte Glockenturm, der heute mit zwar etwas zu hohem Satteldach und zu sehr geöffneten Schallfenstern doch innerhalb der Platz- und Hofanlage des spätzeitigen Klosters, welches schlicht-vornehm mit drei Trakten den Bezirk zusammenhält, die stummere und geschlossene Kraft des Mittelalters auch zugleich wie ein Festungsstück bedeutet. Aber die eigentliche romanische Kirche wurde 1810 abgebrochen. Ein dunkleres Grasstück mit Obstbäumen, innerhalb deren ein Säulenstumpf steht, zeigt im großen Klostergarten den Platz an, wo die alte Kirche war. Was an Steinen und Werken von ihr übrig geblieben ist, romanische Rankenfriese, Kapitäle und vor allem die steinernen Figuren der Chorschranken mit Maria und Kind, Christus und Aposteln, ist heute im Wessobrunner Saal des Nationalmuseums in München vereinigt. Zwei Säulenkapitäle insbesondere sind mit Vogelleibern, welche Gesichter tragen, und mit pflanzlichen geballten Ranken von einer wunderbaren vegetativen Kraft. Sie haben etwas von jener nordischen Spiralsinnigkeit im Ornament, welche sich selber verwirren und verschlingen will und welche dabei doch ein wunderbar klares Gesicht behält. Sodann aber sind die genannten Figuren voll von lieblich bewegtem Leben. Es ist, als ob bei ihnen die Glieder und ihre Bewegungen unter der rieselnden Fältelung der Gewänder kleiner würden, um dadurch noch mehr liebliche Lebhaftigkeit auch im starr Gebundenen zu bekommen. Die Figuren sind alle ganz klar, und doch kann man manchmal die Empfindung haben, als ob hier ein leises schattendes Leben sei, welches sich im Winde leicht berührt.

Was den Namen Wessobrunn aber ins Weite getragen hat, das ist das Wessobrunner Gebet. Es ist als althochdeutsches Sprachdenkmal — eine der edelsten Sprachreliquien unseres so spärlichen Besitzes an ältestem, deutschem, religiös-dichterischem Erbe — innerhalb eines Kodex von sonst fast ganz lateinischem, verschiedenartigstem Inhalt im Jahre 1803 in die Münchner Staatsbibliothek gekommen. Sein kurzer und abgebrochener Inhalt bezieht sich auf Gott als den Schöpfer der Welt und ist ein christliches Glaubensbekenntnis. Es ist aber nicht nur das, sondern es hat zugleich, ähnlich jenem spätromanischen Gekreuzigten aus der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts, eine gewaltige dokumentarische Geschichtskraft schon durch seine sprachliche Form allein. Die Handschrift, in welche es unter dem eigentümlichen Titel »De poeta« miteingeschrieben ist, wurde im Jahre 814, dem Todesjahre Karls des Großen, abgeschlossen. Es gehört also in diese karolingische Zeit und hat bayerischen Sprachcharakter in der dichterischen Form des Stabreims. Im Jahre 753 wurde das Kloster Wessobrunn im Huosigau gegründet. Der Bayernherzog Thassilo, mit dessen Namen jener berühmte Thassilo-Kelch verbunden ist, wurde von Karl dem Großen nach Besiegung in ein Kloster verbannt. Die Zeit jener Kämpfe kann also auch noch das Alter des Gebetes sein. Wenn nicht in Wessobrunn entstanden, hat dieses Gebet als Sprachdenkmal doch sicher eine bayerische Heimat.

Zunächst läßt es in seiner Zeitform über den Stabreim nachdenken, über diese alliterierende Sprachkraft der Konsonanten, welche eine schwankend gemessene und doch ungemein starke Distanzfähigkeit innerhalb der gesamten Lautform der Wortzeile oder des gesprochenen Mundhauches herstellt. Es ist die männliche Kraft der Sprachführung, welche später durch die weibliche des Reimes abgelöst wurde. In der Stabreimform ist noch nicht jene vokale Spiegelung, welche das dichterische Gefühl später bildwilliger befestigt, sondern hier ist die Sprache mit den Vokalen noch wie durch Felsen der Zeit und des Geistes schallend. So erhorcht sich denn auch dieses Gebet, welches beginnt: »Dat gafregin ih mit firahim firiwizzo meista« (das erfrag ich unter Menschen als der Wunder größtes) und die Schöpfungstat zu schildern beginnt.

In dieser Form des Stabreims nun, die man mit der fortstoßenden Haltekraft ihrer Konsonanten als eine Reckenform bezeichnen kann, wird nun plötzlich gesagt, daß im Anfang, wo alles noch nicht war »do was der eino almahtico cot (Gott), manno miltisto« (der Mannen mildester). Dies ist wie ein Anhalten des Atems, nicht so sehr im Sprachgang, aber im Sinne selber. Es ist, als ob man in dieser Gangkraft der Dichtform, die zugleich Sinnkraft ist, diesen Gegensatz der »Milde« nicht erwarten könnte. Aber so, wie er ausgesprochen wird, hat er im Reckenhaften die plötzliche und überraschende Überzeugung einer herzhaft-innersten Beteiligung wie durch Gegensatz. So noch anderes, worunter vor allem gehören würde, was die starke Betonung des »nicht« bedeuten kann: »Do dar niwiht ni was, enteo ni wenteo« (da da nichtens nichts war, der Enden noch Wenden). Hier geht es in die Wurzel des germanischen Sinnes, der zugleich im eigenen Anfang wachstumshaft bleiben will und der doch um so heftiger auch bereit sein kann, allen Anfang zu tilgen, um sich in den baren und großen Augenblick zu stellen. Ein gewaltiges Nichts macht auch eine große Kraft des Menschen und über einem solchen Nichts ersteht auch rekkenhaft diese alte Sprache. Sie ist wie ein Gitter in zeitliche Tiefen.

Soll man die einfacheren Dinge von Wessobrunn noch aufzählen, die barocken Arbeiten der Wessobrunner Stukkaturen in den Galerien und Sälen des Klosters, und noch einiges. Aber den Hunnenstein wird man nicht vergessen, der in der nahen kleinen Kreuzbergkapelle als breiter Felsblock unter den Kirchenbänken liegt. Bei ihm wurden 955 im Einfall der Ungarn sieben Mönche des Klosters, welches damals eine Zerstörung erlitt, erschlagen. Und dann muß man noch in der Nähe bei Paterzell die Waldhöhe hinaufsteigen, um die einzelnen Bäume und Teile eines Eibenwaldes zu sehen, der für diese Gegend auch eine Berühmtheit ist. Die jahrhundertealten Stämme und Äste sind in ihrer rötlichen Bräunung manchmal gekrümmt und gespreizt wie Gerippe, die vom Tod nicht faßbar sind, und auch die jüngeren Bäume sind oft wie zerhauen. Dieser Baum ist nicht fügsam und doch beständig.

[Wessobrunn, Christus]

[Wessobrunn, Christus]

Herzogin des Himmels in Landshut

Diese Landshuter Maria ist von solch edler Mächtigkeit und durch den Spiegel der Religion in Gegenwart gedrungener stammhafter Rassenform, wie man sie in letzterer Eigenschaft kaum mehr finden mag. Es ist geradezu der Sinn der Erlauchtheit, der in ihr ausgeprägt ist, der weniger in der Zubringung von Würde, Form und Insignien liegt als in der ganzen aktiven Haltung und persönlichen Herrschsinnigkeit. Und wenn man es geliebt hat, mittelalterliche Marientypen als »Himmelskönigin« oder »Himmelskaiserin« zu benennen, so darf man dieser hohen Landshuter Frau den Titel einer Himmelsherzogin geben. Auch wenn man aus den mariologischen und halb mystischen Begriffsspielen der Lauretanischen Litanei, deren renaissancistischer Klang doch ein fast ähnliches Alter hat, für diese Gestalt den treffendsten Begriff herausnehmen wollte, so wird die Bezeichnung »mächtige Jungfrau« gerade ihr zugehören.

Das ist indes nicht nur ein religiöser Gedanke; denn ein Vergleich etwa mit Riemenschneiders oder mit anderen fränkischen Marienfiguren wird uns auf die bis zum künstlerischen Gegensatze andere Form hier aufmerksam machen; eine Form, die zugleich in unübertrefflicher Lösung auf einen ganz verschiedenen Stammescharakter weist. Und wenn also diese Einstellung einer bayerischen Madonna in die damals beginnende, aber bald wieder verlorene engere Charakterologie der Kunstgeschichte der einzige Erfolg des Landshuter Jubiläums wäre, so wäre dies, obgleich sie seit ihrer Zuschreibung durch Richard Hoffmann an den Bildschnitzer Hans Leinberger alsbald berühmt wurde, doch für Kunstgefühl und Volksgeist Sache genug. Daß das erkennende Gefühl für die bayerische Typik später kommt als für die fränkische, ist in der Art der Erkenntnis begründet. Das Fränkische ist charakterlich — und das heißt mehr bürgerlich — durchaus deutlicher, während das Bayerische, hier jedenfalls in Landshut, nicht diese engere und mehr illustrative menschliche Maßsinnigkeit hat. Es ist in der Erlauchtheit seiner Erscheinung mehr gewichthaft, wie auch Leinbergers andere Schöpfungen, und in der Größe der räumlichen Schwingung mehr ausgewogen und zum Gesichte in mächtiger Wirkung herangenommen. Die starken Linienläufe, die Falten und Muschelformen der Gewänder sind die wieder schwerelosen Akkorde zu dieser Gewichtsempfindung; sie geben den heiteren Hochsinn und gewissermaßen einen nahen und entrückten Eigenraum für die gereckten Gestalten, wie auch die Figuren des Moosburger Altares gleichsam aus Spiralen hochgestellt und mehr noch dem frohen und offenen Blicke als der nachdenkenden Besinnlichkeit geboten sind.

Es ist eine frohe und große Neidlosigkeit in dieser bayerischen Wesensform, die das Fürstliche mit dem Volkshaften vereinigt. Ja, man möchte sagen, es sei in solchen Figuren eine stammhafte Zuversicht vorbedeutet, welche sich nicht in die kommenden Kämpfe um die Konfession verfesseln wird; und hier vor allem ist auch der Angelpunkt der Frage, ob etwa Riemenschneider oder Veit Stoß oder Leinberger noch mehr Gotiker ist. Die späte Gotik hat einen Reichtum von speziellem (bei Leinberger) oder generellem (bei Riemenschneider) Volkssinn, der nicht mehr überboten wird. Veit Stoß ist dazwischen der Kämpfer um das eigene Seinsgefühl, und Michael Pacher, um auch diesen Großen beizuziehen, ist in seinem figürlichen Reiche wie ohne Eigensinn stark und konservativ selber geborgen, wie in einer ewigen Legende. Die Landshuter Ausstellung der bayerischen Bildwerke um Leinberger wies auch durchaus geistig in diese letztere Richtung, aber mit einer großen und naiven Habhaftigkeit, worin die fränkischen Einsprengungen seltsam und fremd mit einer weiteren Gliederung der Empfindung wirken konnten. Der Fortschritt Leinbergers aus der Gotik ist zugleich im Geiste noch viel mehr in ihr einbehalten.

Nochmal möchte man nun, indem man an Landshut denkt, mit älterer metaphorischer Kühnheit sprechen und sagen, daß so wie die Trausnitz, eine Waldburg zur Ebene und eine freie und nahe Hüterin über der Stadt, als eine fürstliche Verbündete über einem heute noch fast mittelalterlich einbehausten Volke steht, so auch diese Madonna das magdliche und dichterische Symbol einer Himmelsburg sei. Sie ist weltnahe und noch mehr in einer schwebenden Entrückung zugleich und dabei von einer Sättigung der Erscheinung, welche, während dem Deutschen sonst gerade eine solche freie Natürlichkeit schwer gelingt, in einer durchaus wirklichen Entgegenkunft liegt. Ihr Haupt ist, während die ganze Figur sich dem verkörperten Räume wie in Schwingungen mitteilt und wieder daraus zurückholt, im vollkommen ruhigen Punkt der Waage über den Schultern; das Kind gibt auf der einen Seite ein aus der Bewegung gezogenes weiteres Gewicht dazu, und das fürstliche Zepter in ihrer anderen Hand, mit lässiger Sicherheit gehalten, möchte man als das Zünglein an der Waage bezeichnen. Es spielt wie ein goldener Lichtstrahl an sich selber unbeweglich mit. Und so ist auch, was von dieser Gestalt als Gewand der Geschichte unaufhörlich flutet und umschlägt, diese Falten, die aufbrechen und sich wie in ein Nichts in ein erlöstes Schicksal entlasten, zugleich wieder in ein goldenes Magma und kosmisches Vorbereich des Stoffes zurückgestaut; eine Art himmlischer Erscheinung, gefestigt und entfestigt zugleich, die wirklich und unwirklich im gleichen Augenlichte ist. Man hat dies wohl ein »gotisches Rokoko« genannt, wobei man aber festhalten wird, daß der Gegensatz von Stoff und Form hier viel stärker ist und nicht sich zum stilmäßigen Apparat mit gleichlaufender Empfindung verflüchtigt. Der menschliche Einbau sozusagen in die flüchtige Figuration ist viel dauernder; er sammelt sich nach oben und so ist denn auch das Haupt dieser Maria eines der schönsten, das man sehen kann. Es ist zwischen Idealität und Wirklichkeit durchaus in der Schwebe und von einer natürlichen Vollkommenheit, welche sich nicht weiter in charakterliche Bildung fortzusetzen braucht. Grünewald ist in diesem Sinne durch den Charakter hindurch noch weiter gedrungen; aber dieses Landshuter Madonnengesicht gehört gewiß zu den deutschen Gesichtern von hehrster Natürlichkeit.

Es muß eine schöne und auch trotz Kämpfen wohlbezirkte große Zeit gewesen sein, in dieser niederbayerischen Residenz Landshut unter dem Herzog Georg dem Reichen und dem Verweseramte von Ludwig X. Landshut, als damals zu Ende gehende Residenz wie München an der Isar gelegen, und noch mehr als dieses mit den Armen des altbayerischen Stromes zusammengeortet, in dessen Wasser sich auch Haus- und Kirchengotik spiegelt, ist eine fürstliche Gründung, welche nicht volkhafter hätte werden können. Heute verhält sich Landshut zu München wie eine mittelalterliche Miniatur, wobei es bis zum Romanischen zurückführende und überhaupt mittelalterliche Dinge von ganz reiner Form in sich hat. Nicht nur, daß es eine alte Stadt ist mit Häusern und Straßen von ruhiger Breite und Lagerung, eigentümlich kontrastierend mit der erfinderischen Lebhaftigkeit der zahllosen besonderen Aufgiebelungen, mit den Überraschungen der alten Gassen und dazu wieder der bequemen Folge von Laubengängen; eigentümlicher ist, wie sich diese räumliche Breite fortsetzte und umwandelte, vor allem in die gotischen Kirchen. Sie bedeuten, was auch der früh hier eingezogene Renaissancecharakter einer Residenz mit anderer späterer Architektur nicht mehr geändert, sondern nur als festliches Attribut verstärkt hat, das alte Stadtbild. Es sind mehrfach Bauten, die, aus der Breite der Häuser aufsteigend, auf dem fruchtbaren niederbayerischen Boden etwas haben wie von großen Scheunen Gottes. So sind sie mehr von außen; aber — und dies entspricht wohl im zugehörigen Gegensatze dem breiten und stammhaften Volkscharakter — im Innenraum herrscht eine geistige und geistliche Einteilung, Aufgerichtetheit und Durchlichtung, welche nicht leicht in solcher Kläre der bloßen Ordnung scheinbar unkompliziert und doch hochgetragen wieder zu erleben ist. Das ist die Landshuter Gotik vor Leinberger; sie ist, wie auch ihre kleinfigurige, besinnlich lehrhafte Kirchenplastik zeigt, ein gegensätzliches Geisteselement, und so haben die beiden Jubiläen dieses Landshuter Frühsommers für den Kirchenbaumeister Hans Stethaimer und den Bildschnitzer Hans Leinberger eine zeitliche Spanne umfaßt, in welcher sich ein Jahrhundert Gotik aufgebaut und auch spiritualisiert hat,um zuletzt eine volle Wendung ins Welthaftere zu nehmen.

Der hohe Turm der Martinskirche ist wie ein Lichtfinger. Man steht auf den Höhen der Trausnitz und sieht die mit sonderbarer Quere in das alte Stadtbild gestellte hohe Martinskirche. Die anderen Kirchen haben eine ähnlich deutliche Ostung; und indem diese Ostrichtung hier gegen den östlichen Höhenriegel wie mit Abneigung schräg und hartnäckig an- und vorbeiläuft, kommt eine Geometrie und Hartnäckigkeit des Willens in das ganze Schaubild, welche diesem volkhaften Orte etwas Irrationales und eben wieder geistlich Gemessenes gibt. Diese irrationale Kraft der Lage hat vor allem die Martinskirche, die von dem hohen Turme und Hauskörper wie aus einem starren Winkelmaße bestimmt ist. Das ganze städtische und ländliche Land steht im Banne dieses Winkelmaßes. Der Turm ist auch in seiner Art wie ein aus allen bloßen Maßen gehobener Obelisk, und der Kirchenraum bewegt sich durch die Gleichmäßigkeit der längs an ihm aufgepfeilerten Streben ebenfalls unaufhaltsam rein aus den Maßen heraus. Er läuft in starker Einsinnigkeit ohne starke Brechungen zum eingezogenen Chore. Wenn man dann in seinem Innern steht, wenn man den Kirchenraum von solcher Höhe der hinaufgepfeilerten Wölbung fast mehr zählend verfolgen als schauend genießen muß, so glaubt man, daß die Pfeiler in ihrem hellen Lichte schwanken müßten. Wie merkwürdig, daß gerade in einem Lande, welches das Lagerbett und der Schottergrund der Isar ist, das künstlerisch-geistliche Werk eine solche zerbrechlich-rechnerische Kühnheit des Bausinnes ausführen mußte. Der Kopf des Baumeisters Hans Stethaimer an der Südwand außen ist ganz der Kopf eines geistigen und rechnerischen Menschen.

[Landshut vom Söller der Burg Trausnitz aus, Martinskirche]

[Landshut, St. Martin, Madonna von Hans Leinberger]

»O Welt« in Passau

Pfingsttage in der niederbayerischen Dreiflüssestadt

Will man nach Gängen und Fahrten über Hügel und Wässer, nach unermüdbaren Blicken über baumbegrünte Felshänge, ländliche Matten, gegürtete Burgen, über Dom und Türme, Treppen und Mauern, enge und hohe Stätten — alles in dem einen Umkreis — die Schönheit dieses aufgeschlossenen Stadtlandes in einen einzigen Ausruf verdichten, der zugleich ein Schlagwort wäre für alles Nahe und alles Weite, für die Schönheit in der Landschaft, in ihrer noch heutigen Kunst und in ihrer hier gewesenen Geschichte — was müßte dies für ein Ausruf sein?

Man steht vielleicht eben wieder in der bezirkten Pracht auf dem berühmten Residenzplatz vor dem gekrönten hohen Chore, mit welchem der Dom nach Osten schreitet, ruhig wie ein immer gleich gerichtetes Schiff, und man liest an einer schrägen südlichen Flanke seines Polygons in steinernem gotischem Relief gemeißelt den Ruf »O Welt!«. In diesem Ruf, in ein Schlagwort umgesetzt »O Welt in Passau«, erscheint nichts und alles verdichtet. Es steht hier an seinem Orte, in der Mitte des geistlich-geschichtlichen, fürstlich-bürgerlichen, bayerisch-deutschen Stadtbildes, das hier in die Geschichte eingelieferte Lieblingswort des Fürstbischofs Georg von Hohenlohe mit der Jahreszahl 1407. Es steht hier nach Osten gerichtet, wo die Grenze ist und doch keine deutsche Grenze, sondern wo immer und früher noch mehr als heute das Kulturband nach Wien ging; und es blickt ein wenig nach Süden, wo der Inn herkommt, der sich vorne an dieser Landzunge der Domstadt mit der Donau vermündet, eine Mündung von Kulturströmen und von Völkerstraßen, an welchen die in Dokumenten seit der Völkerwanderung herangewachsene Stadt als ein unverrückbares Wahrzeichen ihren Platz hat. Die ganze Stadt ist wie ein Denkmal der Geschichte und ist dabei so im Natürlichen und im Volkstum bis heute verankert geblieben, wie es kein künstlich souveräner Geist zuwege bringen kann. Wo das stille Wasser der Ilz hereinkommt, bricht und bindet sich kleine und größere Welt und der ganze Anblick nach Osten ist wie die Ruhe von Wasser und Himmel.

Eine Stadt an drei Flußmündungen, ein »Koblenz« an dem andern, dem nach dem Osten strebenden deutschen Hauptstrome, die Schönheit der horizontalen Gliederung aufgeriegelt durch die Schönheit von Vertikalen, welche natürliche Lager gebildet haben für Kirchen und Basteien; und darüber die Schönheit des blauweißen Himmels, bald wie mit tiefen Blicken hereingerissen in das steingewordene Alter, bald mit unbewegter Kuppel schwebend über dem zeitlos Gleichen; Himmel, Wasser und Erde treten hier in regelhaften Proportionen zusammen. Passau hat ein Gesicht des Landes und ein Gesicht des Wassers; beide spiegeln altersgrau und steinern, mit architektonischen Stirnen von der Ruhe eines geheimen Maßes, ineinander und haben doch jene erhabene, »unmalerische«, steinerne Blindheit, welche dem Süden eigen ist, wenn er aus der Erde heraus in ein geistigeres Lebensgesetz übertritt. Man fühlt es, daß mit dem Inn der Süden gegen den Norden herrückt und hat auch die heiter prächtige und räumlich geöffnete Innbauweise im koordinierten Klang der Siedelung und der Offenheit der Plätze vor sich. Aber auch der Norden ist hier mächtig mit seiner stärkeren architektonischen Verortung des Gefühls; und was wir jenes »Blinde« genannt haben, diese unverrückbare steinerne Zuversicht, welche von Schächten durchbrochen, von Gängen umgangen, von mächtigen Portalen überall ins Relief gesetzt ist, es ist wieder das Gesicht des Landes und des Wassers; oder besser es ist zugleich die irdische und die geistige Burg für den Acker der Erde und zugleich das Portal, die Stufe, die »Lände« für den unsinnlicheren, in die zehrende Weite verschwimmenden Trieb einer zwar ruhigen, aber unaufhaltbaren Wanderschaft. Erde und Himmel, wie sie zusammenkommen, so treten sie hier auch auseinander in starken Abstoßungen, die das Gefühl wie ein Schiff in einen unbekannteren Osten schicken.

Diese Zweiteilung des Gefühls, die gewissermaßen in diesen kleinen wohnhaften Uferteilen friedlich angesiedelt ist, aber von den bewehrten Uferrändern hinweg sich immer wieder ins Große hebt, erfährt man schon, wenn man auf der Fahrt nach dem nördlicheren Osten aus den gesegneten Getreidebreitungen an der Donau in einer ziehenderen und getrageneren Luft gewissermaßen auftaucht. Man kommt aus der Geborgenheit der Landschaft an das Wasser, das in langen Uferlinien vor den jenseitigen Bergzügen liegt und die Siedelungen längshin nach seinem Laufe richtet. Man fühlt die neue Richtung, welche bestimmend ist. Man sieht einen Kran, einen schwimmenden Schiffsrumpf, dieses ursprüngliche Gefühl der Fracht mit einem schweren Körper auf dem unaufhörlich in seiner Richtung bewegten Elemente; das Land will für die Empfindung zu einem bloßen Begleiter werden, zu einer bloßen, mit Fleiß bestellbaren An- und Abgrenzung gegen die stärkere Kraft der Erde, welche das Wasser ist. Die Erde ist geteilt in ihre Kräfte und ich weiß nicht, ob man dies anderwärts so deutlich empfinden mag wie gerade an dieser bayerischen Donau mit ihrer zwar nicht monumentalen, aber doch merkwürdigen, genrehaften Erhabenheit. Durch die Industriewerke des Kachlet wird in diese gelassene Kraftrichtung ein Akzent von neuer augenblicklicher Wirkung gesetzt.

Dann kommt Passau wie eine Verwirrung, wie ein Vorstoß mit dem Dreizack des Neptun; es ist fast etwas Mythologisches schon rein im Naturgefühl, das sich hier mit dem geschichtlichen Sinne und mit der christlichen Welle trifft und in einer Form verbindet, die uns das Barocke als eine notwendige Sinneskraft erleben läßt. Dieses italienische Barock in Passau sitzt gut und kräftig auf seinem deutschen Boden; es ist von souveräner Sicherheit im Geistlichen und von jener Selbstverständlichkeit im Weltlichen, welche sich als eine zugleich bürgerliche Schauburg in der ganzen Stadt entfalten kann. In der Tat, wenn man mit dem Begriff »Theater« nicht das Abgünstige verbindet, das es für uns geworden ist mit seinem bloßen hypothetischen Idealismus; sondern wenn man es wieder als das geläuterte Spiel von natürlichen Kräften vor der Front und im Rahmen eines geistlichen Willens erkennt, in diesem Sinne hat Passau das erhabene Genrebild, zugleich Rahmen und innere Knotung eines europäischen Schaubildes. Salzburg ist in einem geistlich formhaften Sinne noch reicher; aber bei Passau ist die orthafte Knotung stärker; es herrscht nicht abseits, sondern es ankert mit Dom und Haus in den Strömen. Seine Kuppel als Wahrzeichen auf dem Dome ist nicht nur ein schweigendes Schaubild, sondern sie ist wie ein starker und bejahender Laut auf dieser Bühne der Stadt, welche von Westen nach Osten blickt. Kirche um Kirche, Kapelle um Kapelle blicken gleicherweise nach Osten; Chorbauten stoßen in dieser Richtung vorwärts; überall findet man sie von der Altstadt zu den Bergen, und während auf den drei Flüssen mit Schiffen und Fähren sich das Leben teilt und bindet, während man besonders auf der Donauseite vor dem Rathaus die Zweiteilung des gehenden und des bleibenden Sinnes erlebt, sind die Plätze da, der Residenzplatz und der Domplatz, die Fassaden der Kirchen mit ihrer Haltekraft, die wie die Römerwehr der alten Castra Batava im gleichen Gefühle beständig geblieben sind. Sie schneiden das Land ab und bergen sich in ihrem eigenen Gute. Der Fassadenbau des Lurago am Dome mit seinem gedrungenen, kurzgegiebelten Mittelstück hat unter den beiden Türmen hin eine wehrhafte Breite, welche beschwert ist von den kräftigen, paarigen Turmgeschossen. Gänge und eingeschlossene Plätze umgeben den Dom als Mitte, Portale treten gegen ihn hervor mit geschwungenen Balkonen, das Terrain hebt sich und senkt sich, aber die horizontalen Gewichte liegen in waagrechten Maßen darüber fest. Die lotrechten Aufbrechungen durch Kuppel und Türme verstärken nur noch den gedrungenen Eindruck dieser waagrechten Regeln und Kräfte.

Auf dem östlichen Platz ist das architektonische Kleinod der Stadt, das dem großen Brande, aus dem sie als Barockstadt wieder erstand, entgangen ist, der Domchorbau mit Querschiff auf dem Plane des Meisters Hans Krumauer. Dieser Bau zeigt sich nach oben wie ein hoher steingeflochtener Korb, wie eine geflochtene Krone in seiner vielzierhaften Spätgotik. Er ist mit seiner inneren barocken Ausgestaltung wie eine doppelte Schale, ein Gesicht nach außen und nach innen, die verhaltene deutschere Seele, die nicht fehlen darf und die aber auch in Passau an diesem fürstlichen Orte wie ganz eigentümlich behütet aussieht. Wieviel ist sonst noch vom Romanischen und besonders vom Gotischen her erhalten, mit Niedernburg und seinem Grabstein der Königin Gisela von Ungarn, der Schwester Heinrichs II., vor allem mit der Kirche Sankt Salvator bei der Ilzstadt drüben, wo seltsam vertikale gotische Raumakkorde von einem einfach großen Architekturgesicht umschlossen sind. Aber dieser Chor mit Querschiff, leider vielfach eingerüstet im Kampf um die Erhaltung, ist wie der geistliche Bienenkorb, um den sich das mittelalterliche Leben aus Zellen und Klöstern an der bischöflichen Stätte gesammelt hat. Im nächtlichen Himmel spielt er mit seinen Formen ein schweigendes Musizieren, während ringsum die barocken Fenster der palastartigen Gebäude mit ihren barocken und rokokofrohen Fenstern in Eichendorffischer Stimmung lächelnd schlafen.

Die Seite der Innpromenade, wo sich die Substruktionen unter der Residenz mit Bogengängen und der Ballhausstiege zugleich wie eine Wehr und wie ein theatrum erheben — wieder mit diesem doppelten Akkord des Notwendig-Wirklichen und des Entlastet-Sichtbaren —, ist ein selten schöner Anblick einer deutschen Stadt. Alles ist schauhaft; denn hier erhebt sich besonders der Gürtel der barocken Stadt am Dom im Gefälle über die Michaelskirche mit Kolleg hinab, wogegen überm Innufer droben die Mariahilfkirche jenseits auf der Höhe steht, welche die eigentümlichen Türme hat, daß eine Kuppel über der andern wie auf einem offenen, lichten Stuhle sitzt. Zu dieser Schauhaftigkeit kommt aber die besondere Gewalt dieses Flusses, der eben jetzt sein Hochwasser im Strome rauschend und sich überjagend dahinschüttet. Und dieser Gewalt antwortet der Ufergang an hohen Mauern hin, südlich heiß und offen, das Unbestimmbare, das man sonst im deutschen Ortsgefühle nicht hat. Es wird wie ein nördlicheres Ortsgefühl, wenn man zu der Donau hinüberbiegt, die ihre gelbgrüne Wogenruhe zwischen der Geschäftigkeit der bürgerlichen Stadt und der grünen Felsenwand, worauf Oberhaus und Niederhaus befestigt sind, dahinträgt. Und ein drittes Mal ändert sich das Gefühl des Landes, wenn man in die Idylle der Ilzstadt kommt, wo das schwarze stille Wasser ist, das, vom Inn gesehen, aber wie ein tintenblaues Segment in den Zusammenfluß hereinschnitt. Hier ist auch das gotische Stadtkirchlein von einer eigenartigen Stimmung. Es hat selber trotz seiner weiten Wölbung über Kirchenraum und Chorraum in seinen Gewölbefarben, in den Farben von Figuren und Altären, etwas Schwärzliches, einen Ortscharakter, den man nicht schwermütig heißen will, der aber zu den barocken Visionen einen besinnlichen Einschlag bringt.

Türme, Gewichte, Bollwerke, die ganze wehrhafte Kaskade vom Oberhaus herab, gehören in das Passauer Stadtbild. In dieses Stadtbild gehört aber auch die einsame, resthafte Zelle des heiligen Severin in der ebenfalls noch von Mauern umgürteten Innstadt. Hier findet man noch den Namen Beiderbach auf einem Wirtshausschild zu lesen, der auf die älteste geschichtliche Siedelung des keltischen Bojodurum in diesem Stadtgefüge zurückweist. Im übrigen ist es ein Friedhofbild, was heute um die veränderte Zelle liegt, an einer Kirche, in welcher eben neue wichtige Feststellungen gemacht worden sind. Man hat auch auf diesem Platze einer kleinen Zelle, welche schon in der Brandung der Völkerwanderung stand, den Boden noch weiter öffnen können und Maße und Grundrisse sind zum Vorschein gekommen, wie sie die Kirche des Christentums bei ihrem Vordringen in den Boden einer nördlicheren Erde eingezeichnet hat. Wer dafür empfänglich ist, hat hier an einem verhältnismäßig kahlen Orte doch gerade einen starken Eindruck und ist bei aller Weite des Umblicks doch wie an eine Zelle gefesselt. Ringsum ist der heiße Nachmittag, die Heuarbeit geht vonstatten, es raschelt in den Hängen hinter den alten Mauern des hier abgeteilten Städtchens, das geistliche Kernwerk der eigentlichen Stadt blickt herüber; und hier an diesem Friedensorte sind es nur wenige geometrische Raumzeichen, kaum körperhaft; es ist ein Ort, der, je weniger körperlich seine dokumentarische Sichtbarkeit geworden ist, um so mehr zum Gefühl sprechen will. Man ist in der Spur des heiligen Bannes, der sich einzirkt und den Sinn vom übrigen Leben abtrennt. Aus solchen frühchristlichen Abtrennungen und Einzirkungen ist aber das ganze tätige Leben der späteren Geschichte und vor allem in Deutschland entstanden. Hier in Passau stehen wir auch an einem solchen frühen Ort und suchen mit den Blicken hinüber nach Niedernburg, wo eine Fortsetzung ist. Der Dom aber ist die Bekrönung. —

Ein schöner Abend war am Samstag vor Pfingsten in der Innstadt, als in der beginnenden Dämmerung plötzlich Lichter in roten, grünen und anderen Hüllen auftauchten, die wie von innen leuchtende große Blütenschalen waren. Es entwickelte sich von der Gertraud-Kirche aus mitten in dem Lärm des Verkehrs zwischen den kleinen Straßenschächten eine Prozession von lauter Frauen; jede hatte eine solche große, farbige, von innen leuchtende Blüte in der Hand, und der Zug ging über die steile, in der Krümmung hinaufgeschwungene Wegbahn des Mariahilf-Berges hinauf, wo die Kirche mit einem Hof vor ihr beleuchtet war und heller erschien als der Mond. Wenn man jenseits vom Inn wieder zurückschaute, sah man die ganze Prozession vom Stadtende bis zur Bergkirche unter den Bäumen am gekrümmten und geraden Wegzuge hinaufreichen, ein vielzähliger Lichtkörper wie von Johanniswürmchen mit einem stillen Schwärmen in der Nachtruhe dieses gründunklen Jenseits.

Wieder und wieder überquert man die Teile dieser Stadt, die so eng ist mit den Gassen, wo die Gewerbe, die Messer- und Klingenschmiede gehaust haben, aber auch wo die geistlichen Höfe stehen, und die doch so sauber und wie vom Hauch an diesen schweren Wasserzügen immerfort gereinigt ist. Die Stadt ist eng und hat doch keine Enge, sondern da sind Plätze verschiedenster Art und gerade im Engen entfaltet sich ihre unkünstliche wie natürliche und doch leicht auch ins Geistige tretende Weite. Dazu kommt die unberührbare Felsennatur der Oberhauser Leite, die von sich aus wehrhaft ist; und kaum irgendwo mag dann jenes sentimentalische Naturgefühl vom ausgehenden achtzehnten Jahrhundert reizvoller und kontrastreicher sein und dabei doch natürlich wie hier, wo die Parkanlagen von Freudenhain geschaffen worden sind, die heute noch eine Nachahmung ihres Spieles mit den mythologischen und ethnologischen Dingen der Erde zurückgelassen haben. Und dann, wenn man sich die Landschaft öffnen lassen will, blickt man, hinaufgestiegen nach Ries, in das weite Land des Bayerischen und Böhmerwaldes, ein unvergeßliches Gemälde von Kuppen und langen Höhenzügen, von Faltungen und Biegungen und Steigungen, das in den blauen Duft hineingezeichnet ist. Auf dem Wege nach Oberhaus zurück ist ebenso der Blick nach Süden geöffnet und über die Flüsse hinweg ist alles Gelände im weiten Himmelsraume hingebreitet. Die Ruine von Hals blickt herauf, Ährenfelder wogen und der Geruch des reifenden Sommers zieht über die Stadt.

Wieviel ließe sich über diese schöne Stadt noch sagen. Nur noch dieses: die Orgelstunde im Dom am Mittagsbeginn, wenn die Glocken über die Ströme hinweg ausgeklungen haben. Dann erhebt sich das Brausen der Stimmen dieser weltberühmten Orgel besonders in Barockmotiven und rauscht zusammen mit Carlones Ornamentik, in dem gleichen starren und feierlichen Ernste des Dominnern. Im höchsten Brause ist der ganze gewaltige Chor mit einem Male ausgeklungen und hinweggewischt.

Oder dann noch: der hohe Donner am Nachmittag, als ein Gewitter vom Osten her kommen wollte, das sein drohendes Beginnen, schwer von Mariahilf bis Oberhaus über die ganze Stadt und ihre Mündungsströme spannte. Es war ein leises und hohes Donnern, das die Luft zu erschüttern schien, die doch stille stand über den barocken Kuppeln und Türmen, welche eine epische Zwielichtigkeit annahmen, etwas von der Epik, welche an dieser Stadt strömend vorbeigezogen ist.

[Passau, Dom]

[Passau, Dom]

[Passau, Dom, Orgel]

[Passau, St. Salvator]

Sommerhimmel über Regensburg

Landschaftliche Introduktion

Ich weiß nicht, ob man in anderen Jahren einen ähnlich starken Eindruck von dem Begriff der Ernte gehabt hätte wie gerade in diesen heißen Sommertagen, wenn man von München, während schon am Vormittag alles mit Mensch, Tier, Wagen und Maschine in vollster Regung auf den Feldern und unter den Schaffenden war, nordwärts nach Regensburg fuhr. Ja, es war, während man mittenhin durch die Trockenheit der schweren, Raum an Raum noch dichten oder schon erschlossenen Felder und mit den Blicken an den ebenso mit Ernte erfüllten oder ins Unendliche des Himmels geleerten Hügelhängen dahinfuhr, gewissermaßen der »Begriff« der Ernte selber, den man sah, die fast schreckliche Unbedingtheit ihrer Reife und darin dann die ebenso fast schreckliche Unmittelbarkeit der geschehenden Arbeit. Diese Arbeit erschien wie eine große Zerstörung. Es waren stumme, weite Bilder, und doch glaubte man das knisternde Rauschen in dieser ungezählten Arbeit zu hören; oder es war, wenn man die endlosen Reihen von aufgestellten Garbenzelten sah und indem man dazu den bald hoch und föhnig treibenden Wolkenhimmel oder bald seine drohend gewitterhafte, blauschwer über den gelben Ernteschein herabgesenkte Verdichtung erblickte, wie ein großes Heerlager, welches sich des Landes bemächtigt hatte. Jemand sagte das Wort »Kanada«, und wenn nichts weiter, so besagte es doch das Gefühl für die Unerbittlichkeit dieser heißen und großen Erntelandschaft. Alle anderen Farben, außer der drängenden Schwüle des Himmels und dem geöffneten Gelb der Erde, waren zurückgetreten, und was an Bäumen in der Landschaft oder von den Wäldern her grün war, stand wie in einer ausgeschiedenen Beharrlichkeit. Es war ein Ausdruck von Wildheit in dieser unter der Sense der Schnitter gezähmten Landschaft. Es war etwas, was zu unserem heutigen Naturgefühl gehört, und man braucht nur an Bilder van Goghs zu erinnern, um ein Erlebnis, das er unter einem südlicheren Himmel hatte, hier zu bekräftigen. Die Ähren des Weizens hatten einen Glanz wie von braunem Öl mit einem schweren und doch blitzenden Violett, das wie in Ebenen dahinlief. Das fruchtbare Land glich, wie gesagt, einem Lager- oder Kampfbild, in dem die einzelne Tätigkeit verloren ging, und es ist nicht bloß ein billiger Vergleich, wenn man nun dieses Naturbild mit einem tieferen Sinne auf das menschliche Kulturbild anwendet. Man fuhr ja nach der Stadt, die aus einem römischen Kampflager entstanden war, und der Gedanke legte sich von selber nahe, wie wenig alles menschliche Kunst- und Kulturwerk aus einer leer befriedigten Theorie, sondern wie notvoll es aus zwangvollen Bestimmungen hervorgeht, in denen Volksgrenzen, Geistesgrenzen, Weltanschauungen sich an ihrem Gegenteil zu den sichtbaren Werken der Geschichte aufrichten. Die Silhouette Regensburgs mit ihren Glockentürmen der Kirchen und ihren Wehrtürmen der Geschlechter ist ein selten herrliches Zeugnis eines Heerlagers der kämpfenden Geschichte. Aber nochmals kam dieser Eindruck eines Heerlagers oder diesmal eines Heerweges von unabänderlicher Richtung unvergeßlich nahe. Es war die in ihrer Ostrichtung durch den heißen Sommer zwischen gelben Geröllhalden der Ufer dahinfließende Donau selber, die diesen Eindruck gab, wenn man sie von der Steinernen Brücke aus sah, oder noch mehr, wenn man in ihrer Strömung mit dem Motorboot dahinfuhr. Wenn man an den großen schwarzen Rümpfen der Frachtkähne vorbei war, die mit ihren Kranen seltsam regungslos in den Himmel zeigten, waren von dem begleitenden Lande nur die entferntesten Höhenzüge sichtbar. Sonst war nur zu beiden Seiten das geröllhafte und gelbe Gestade, das oben grün und silbern bebuscht war, und indem man in der Tiefe des Flusses fuhr, schien man in einem fremden südlichen Lande zu sein und von nichts zu wissen als nur von der Ostrichtung. Man war auf einem Menschheitswege und ich weiß nicht, ob noch eine Stadt den Eindruck der Himmelsrichtung so unmittelbar ins Gemüt verlegt wie gerade Regensburg. Von Süden nach Norden ist es in seiner Lage wie in seiner Geschichte bestimmt und ebenso bildet es seinen Aufenthalt in der West-Ostrichtung. Wie oft kehren, nicht nur in der Lage des römischen Castra regina, sondern auch in den Bauten der mittelalterlichen Stadt diese Hauptrichtungen und die Einzelmerkmale dazu wieder. Sie sind unverlöschlich in das Gesicht dieser Stadt geschrieben, die gewissermaßen eine unverrückbare geographische Himmelsrose selber ist. Man gewöhnt sich mit Portalen und anderem, um schon etwas vom Gange durch die Stadt zu sagen, so sehr daran, daß jedes Nordportal an die Porta praetoria erinnert, und man sich auch in der geistig-körperlichen Wendung erstaunt, etwa in Obermünster den Altar statt nach Osten infolge baulicher Veränderung späterer Zeit nach Westen zu finden. Diese Stadt ist für Wissen und Gefühl ein Angelpunkt der Geschichte in der Natur.

Platz der »Schönen Maria«

Halb der Zufall, der auf dem kurzen Wege von den sommerlich mit Blüten übersäten Oleandern des Hotels herführte, halb der Blick nach der Himmelskuppel und dazu der Gedanke an die Himmel Albrecht Altdorfers auf seinen Bildern, wollte es, daß der erste große Eindruck des Stadtbildes sich auf dem Neupfarrplatz öffnete. Es ist das Ende der Romanik und der Gotik Regensburgs, das sich auf diesem Platz mit dem eigentümlichen, wenn auch nicht in der ersten Schönheit des Entwurfs ausgeführten Längs- und Zentralbau bekundet. Die Bauteile mit ihren Dach- und Turmspitzen klammern sich körperhaft aneinander und darüber öffnet sich ein neuer Sinn für die Kuppel, die ein Stück Erde einschließt. Es ist das schwankende und ausgreifende Kuppelgefühl in den atmosphärisch angefüllten Himmelsbildern Altdorfers, des großen Regensburger Meisters, dessen Name auch noch weiter sehr mit diesem Platze verbunden ist, auf dem diese Kirche im Anschluß an eine Wallfahrt zur »Schönen Maria« entstand. Auch hier steht man auf dem Boden des alten Römerlagers und der Blick geht hinaus auf den Goldenen Turm und dann weiter auf die zweitürmige Silhouette der Domtürme, auf den gewaltigen Einsturz des Himmels, der zu der gotischen Baugesinnung gehört. Man hat den Gegensatz eines Himmelsverhältnisses verschiedener Menschenzeiten sichtbar vor Augen. Es ist die Lotrechte des Mittelalters, die eigentlich doch rein in ihrem geistigen Gesetze allein steht und dadurch das Irdische einzeln an sich holt; und es ist dann die Waagrechte der Renaissance, die mit ihrem Raumbegriff doch ein Sockelgefühl der Schwere und die Schwebung des Himmels gleichmäßig aus der Natur her in sich teilt und sammelt.

Der Himmel an diesem Tage, den man über dem Ausschnitt dieses Marktplatzes sah, mit seiner flachen und schwankenden Kuppel von federndem Zirrus, bald zu Stratus geschichtet oder zu Bänken von Kumulus geordnet, woraus sich ein höher verschwimmendes Wolkenspiel im Süden erhob, oder eine Regendichtung grau von Norden drohte, dieser Himmel wäre eine Schau für den unermüdlichen atmosphärischen Sinn Goethes gewesen. Überall war trotz der Gedrängtheit große Weite. Es war überall darunter ein blendender Lichtblick, in der Luft, um die Bauten, um die Menschen des Marktes, um die schwere polygone Form des von Blumen überkränzten Brunnenbeckens vor der Kirche, und dazu ein flutender Wind, der den Geruch des Obstes warm und sättigend in die Lüfte hob. Auch diese Beobachtung wäre ganz im Sinne Goethes gewesen, und dazu ein Bedürfnis, all den Eindruck der Geschichte und des Augenblicks, je mehr er sich ins Unfaßbare verflüchtigte, um so mehr zu ordnen und zu beschreiben. »Die Rede geht herab, denn sie beschreibt; der Geist will aufwärts, wo er ewig bleibt.« Dieser Vers Goethes ist mehr als eine bereinigte Aussage; er ist zugleich eine sinnliche Erfahrung; es ist gewissermaßen die Form der in Anschauungen gelegten Horizontale, wie man sie auch auf diesem Platze erfährt.

[Regensburg]

[Regensburg, Dom]

Stadtbilder

Zum großen und schönen Reize Regensburgs gehört es, daß, so wenig sich der geschichtliche und künstlerische Komplex erschöpfen läßt, man doch von der Mitte seines Doms aus in lauter Einzelbildern ein wahres und erschöpfliches Genüge finden kann. Das ist die mittelalterliche Eigenschaft dieses Stadtbildes, die noch nicht einer souveränen Tendenz und Zentralisiertheit entspringt, sondern wo jeder Teil zugleich den Sinn einer Ganzheit hat. Und wie die ganze Lage, so haben auch die Plätze eine geschichtlich gefestigte und architektonische Bindung. Jetzt zeigt uns der ragende Dom zwischen den symmetrischen Verschiedenheiten der Turmgeschosse die schon spätgotisch aus der Mauer über die Oberfläche spielenden Blendverzierungen. Figur antwortet auf Figur und darunter springt das köstliche dreieckige Zierwerk der Vorhalle wie ein steinernes Gitterwerk eines Gärtchens vor und macht gerade diesen Anblick der Westfassade des Regensburger Doms unvergeßlich. Dann, während wir vorgehen, um die strenge und durchgeteilte Offenheit des Chorbaues über dem geschlossenen Unterbau zu betrachten, fällt der Blick auf die Stufen der umlaufenden Terrasse, worauf der Dom steht, und die einen wenig erhöhten äußeren Umgang auch durch die Strebepfeiler hindurch gegen die Straße und den Markt ausladen. Hier hat die gotische Offenheit noch einen besonders sinnfälligen Fußpunkt zum offenen Leben und man blickt von den Menschen und Marktleuten zu dem skulpturalen Spiel der Außengewände, das überall aus dem steinernen Leben hinausgeboren ist. Daran ist dieser Dom besonders reich; und wenn es auch nicht mehr die kernnatürliche Symbolkraft der romanischen Schöpfungen ist, so ist es der poetische Wechsel der spielender gewordenen Phantasie, der in ritterliche Figurierung gesammelt bei den beiden Reitern an der Innenseite der Fassade wiederkehrt. Die festungsartige Schönheit der Ziboriumsaltäre im Innern, die kontemplativ schwingende Schönheit der Statuen an den Vierungspfeilern wechselt plötzlich mit Roritzers Ziehbrunnen auch im Innern der Kirche. Es kann nichts Sinnfälligeres geben, als von Sankt Emmeram oder der Jakobskirche stundenweise zum Dome hin- und wiederzupilgern und zwischen der frühen gesetzgebenden Kraft und der gotischen Volkheit die Reichweite des Mittelalters zu verfolgen. Und hinter dem Ostchor des Domes ist die vielbegangene und doch steinerne Stille des Domgartens, von wo es in die geschichtliche Ruhe des Kreuzganges zu Sankt Stephan und dem architektonischen Kleinod der Allerheiligenkapelle mit ihrer vollkommenen Ausmalung weitergeht. Wie oft ist man in dieser Stadt in solchen frühen Architekturzellen mit ihrer, das Leben von vielen Jahrtausenden überdauernden, geistlichen Einsamkeit.

Aber nun führen, wie in anderen ähnlich an Strömen gelegenen Städten, die schachtartigen Straßen in kurzem Gefälle zum Brücktor und wenn man den weitschauenden Baukomplex durchschritten hat, gibt die episch langsame Steigung der alten Steinernen Brücke den Blick frei, um so kontrastvoller, je mehr er vorher durch die verdichtete Geschichte gebunden war. Der Himmel hatte sich mit treibendem Gewölke bedeckt, das den Wind zu einer heftigeren Zunahme entfesselte. Und der östliche Horizont, in dem man mehr die rötlich-steinige, von der Hitze gedörrte Formation des bergigen Uferlandes oder mehr die bloße und geahnte Weite von Wind und Wasser besah und bedachte, hatte nun für das Gefühl einen eigentümlich großen Zwiespalt. Norden und Süden kreuzten sich in dieser Ostrichtung und dort hinaus lag auch als Kreuzung einer ähnlich spielenden Phantasie die Walhalla. Das Bild der starken Schiffsrümpfe der Kähne an der Donaulände kam dazu, um noch weiter von der Ferne zu erzählen. Östlich und westlich bezeichnet die alte Stadt ihre Grenzen in Kirchendenkmälern und in der Nähe erweist sich auch wieder das Bedürfnis des skulpturalen Schaffens und Spielens bis zu dem populären Figürchen des Brückenmandl. Im Nahblick aber herrscht die steinerne Notwendigkeit der Ufer- und Wöhrdanlagen, die nicht lieblich ist, sondern die den gebändigten Ausdruck einer wehrhaft gleichen Gegenwart gegen den stetigen Vorüberfluß bedeutet.

Im Zurückgang, nachdem man die in sich gewachsene Lagerung der Silhouetten dieser Stadt gesehen hat, welche aus einem Grenzpunkt in sich selbst gekehrt ein Reichsmittelpunkt werden sollte, findet man den Quaderbogen der Porta praetoria, das wuchtige Ornament einer Weltrichtung der Geschichte, die durch den germanischen Zug in ihr Gegenteil gerichtet wurde. Die mittelalterlichen Wahrzeichen der Geschlechtertürme, die immer wieder sichtbaren gekuppelten Rundbogenfenster sind wie heraldische Zeichen Schriftzüge solcher Gegenrichtung. Die gedrängte Enge der mittelalterlichen Stadt, die befriedete Schutz- und Trutzform des Rathauses mit der so knappen wie reichen Baupoesie seines Erkers, die klösterlichen Anlieger, die wie Schreine der Vergangenheit in der Stadt sind, die geometrisch ausgezweigten Fassaden der Bettelordenskirchen sind die Inhalte einer menschlichen Periode. Man stößt an die Zellformen der Geschichte. Man sieht erniedrigte Eingänge und weiß, daß man über dem aufgesammelten Schutt vieler Jahrhunderte dahingeht. Man findet dann wieder die gotische Schönheit von Zierarkaden in Niedermünster, die irgendwie einen Eindruck geben wie von Skaligergräbern. Man findet bei der Betrachtung der Alten Kapelle Proben der romanischen Skulpturen, deren Reichtum in Regensburg die Heutigen so gern beschäftigt. Schließlich geht man in der hereinsinkenden Nacht über die ruhige Vornehmheit der Plätze am Römerturm und am Ulrichsmuseum vorbei und hat wieder den ragenden Dom vor sich, dessen Tauben ihre Winkel aufgesucht haben und der nun ernst und allein in die Höhe führt. Das Leben der Geschichte wacht nicht und schläft nicht. Es beharrt in seinem gebundenen Zustand.

Astrolabium

Wann wird man einmal das Geheimnis der Geschichte aufschließen, nicht jenes, das im Schutt der Erde und der Jahrhunderte oder -tausende liegt, sondern jenes andere, das uns zur fortwährenden Veränderung im wesensgleichen Dasein zwingt, das Warum der Formen. Niemand hat es noch ergründet, die Apriorität des Denkens hat uns davon weggeführt, und ein Gang durch eine Stadt wie Regensburg bleibt ein Weg durch unser im Sinne unaufgeschlossenes Schicksal. Im Ulrichsmuseum erblickt man gleich links vom Eingang ein selten schönes figürliches Steinmal, das berühmte Astrolabium. Es ist ein steinerner Schaft, auf dessen mit Verzierungen getragener Oberplatte ein Mann kniet vor einer Steinscheibe, in die seine kniende Körperbewegung eingeschrieben ist und der mit schattender Hand sein Antlitz gegen den Himmel richtet. Es ist ein Instrument und zugleich ein Symbol der Sternenschau. Dieses romanische Steinwerk hat mit schönstem Gefühl jenes Verhältnis von Geometrie und lebendigem Körpersinn, worin sich ein Dasein trotz Vergangenheit wie von heute erschafft, und doch ist es ein Maß, das nur wie ein fernes Gestirn erblickbar scheint. Man möchte das ganze als das Symbol eines Schlüssels bezeichnen. Aber niemand hat noch aufgeschlossen.

Morgenbilder der Geschichte

Bamberg — Nürnberg — Regensburg

Man kann sich nicht leicht eine tiefer ineinandergreifende Folge von geistigen Erlebungen der Vergangenheit im Kunstsinne denken, als sie in diesen drei bayerischen Städten geboten ist. In Bamberg ist es die schon ganz errungene Größe der skulpturalen Welt des Mittelalters, die als eine körperhafte Auferstehung gegen ihre steinernen Gewändestufen den abstrakt gewordenen Sinn der Gegenwart entzündet. In Nürnberg setzt sich das Nachleben der humanistischen Befreiung, womit sich ein neuer Sinn der Adamsgestalt in Dürer schafft, für uns heutige zu einem neuen Problem um, zu einem Gegensatz, zu dem Gefühl einer Zeitwende, in deren Mitte wir stehen. In Regensburg aber erlebt man die erste Wirklichkeit und Orthaftigkeit unseres geschichtlichen und weltanschaulichen Daseins; hier sind es sozusagen die Morgenbilder unserer Geschichte, die uns leibhaft entgegentreten. Hier lebt man im Gefühl der Angelpunkte, in denen sich der bildnerische Sinn des Mittelalters bewegt hat; man steht in den Fundamenten unseres weltanschaulich gewachsenen Volkstums.

Regensburg hat eine geschichtliche Ernte von Jahrtausenden. Man kann mit wenigen Schritten von der Gegenwart weg ganz im Mittelalter sein, und nachdem man sich mit diesen schweren Bau- und Figurenwerken gesättigt hat, tritt man etwa in das Ulrichsmuseum und der Sinn wird von den vorgeschichtlichen Dingen und den römischen Resten neu beschäftigt, an dem Geheimnis des Geistes und seiner geschichtlichen Formänderung zu rätseln. Wir halten uns hier nur an einige Hauptmomente des Besuches, die schon jedem einmaligen Gänger durch diese Stadt begegnen.

Obermünster

Ein Morgen, dessen Luft von einem kurzen Nachtregen her zugleich klar und schwimmend war, unter einem wellig bedeckten Himmel, der noch weitere Regenkühlung versprach — in dieser Stimmung ist das Grün der Bäume und Gewächse besonders deutlich; es hebt sich über die Steinmauern kleiner Gärten und verstärkt auch in der Gegenwart noch das mittelalterliche Gefühl. Man erinnert sich, daß solche kleinen ummauerten Bezirke in dieser Stadt immer wieder begegnen. Sie geben ihr einen Teil des orthaften Rhythmus, des Wechsels, in dem das Bauwerk mit seiner geometrisierten Tatkraft bald unmittelbar und leibhaft an die Straße tritt und bald in eine klösterliche Befriedigung eingeschlossen ist. Ja manchmal ist es der Chor oder eine gegliederte Längsseite, die vom Gartenraum umfangen wird und dagegen stellt sich die stirnhafte Offenheit der Fassade frei gegen die Offenheit eines Platzes. Noch sind da, was auch der geschichtliche Zufall ändern mochte, geheime Verhältnisse eines geordneten geistlich-weltlichen Rhythmus. Aber der gedrängte Gegensatz von Mauergrau und Baumgrün ist selber wie ein symbolischer Gegensatz von Zelle und Freiheit. Man erhebt sich in eine geistige Vogelschau und übersieht gleichsam die ganze Stadt in diesem Gegensatz geteilt und erkennt sie in ihrem unausgetilgten geschichtlichen Lebensrhythmus. Die zwischen Regen und Sonne schwimmende Luft an diesem Morgen mußte besonders diese Farben der Geschichte und der Natur in Sinn und Gedächtnis prägen.

Aus solchem Steingarten ragt die hohe Geschlossenheit des isoliert nordwärts neben der Kirche stehenden Turmes von Obermünster. Geschoßfelder und Bogenfriese sind selber wieder wie blinde steinerne Gärten an seine Flanken gesetzt, die keine Fruchtbarkeit brauchen. Der Stein selber wird in seiner Gebrochenheit gegen alle gefugte Spiegelung wie das Bild einer Fruchtbarkeit. »Prächtig ist das Quaderwerk an den Untergeschossen dieses Turmes; auch in ihm liegt die magische Kraft des elften Jahrhunderts« (Karlinger). Es ist der Gedanke, der wieder wach wird, daß das Material im Mittelalter viel mehr bedeutet als in späteren Kunstzeiten, daß es ein Plus von Kreaturgefühl hat. Und dazu wächst dann, wenn man nun in den Kirchenraum schreitet, als Gegenpol der andere Gedanke, daß auch die reine Form viel mehr bedeutet als später. Gerade dieser Gedanke, durch die reinen Formen der romanischen Wölbungen zugleich erhoben und in sich gezwungen, konnte hier zu einem Erlebnis werden wie kaum je vorher. Vielleicht, daß ihn die Ungleichheit der Arkaden auf den beiden Längsseiten noch verstärkte, weil der Eindruck noch ernster wurde im geometrischen Verhalten. Es ist hier wie eine Besiegelung des Raumgefühls, ein zugleich tragendes Herabgreifen und der Raum ist darunter wie ein stilles und unsichtbares Wasser. Die barocke Ausstattung konnte dabei trotz ihrer Farben und ihrer stofflichen Figürlichkeit als etwas nur Episodisches ganz vergessen werden. Es wurde hier das romanische Geheimnis wach, daß eine Form, je mehr sie in sich gebunden ist, um so mehr dem Geiste Freiheit gibt; und dieses Geheimnis kann unendlich beschäftigen. Man verläßt die Kirche, um nur von diesem Eindruck zu sprechen, man wirft seine Blicke auf einen merkwürdigen gehälfteten Schrein in der Vorhalle, weiter auf den Sinn des Marientodes in einem spätgotischen Relief, man erlebt in allem eine bildhafte Geborgenheit; aber vor allem jenes romanische Geheimnis begleitet den Sinn weiter zu den nächsten Wegen.

Sankt Emmeram

Inzwischen hatte nun ein heftiger Regen eingesetzt und das beständige Herabfließen war wie unermüdlicher Akkord zu der Tätigkeit der Beschauung. Man tritt durch die edlen frühgotischen Formen der freistehenden Portalwand und ist wieder in einem geschlossenen Gartengrün, umgeben von Figuren, über welche die Zeit der Jahrhunderte herabgeregnet hat. Dann steht man in der offenen Nordvorhalle und hat über sich die ältesten romanischen Steinskulpturen Süddeutschlands, die im Auftrag des im Medaillon abgebildeten Abtes Reginward wohl zur Zeit der Weihefeier der Wolfgangskrypta 1052 geschaffen waren. Es sind die Figuren Christus, Emmeram und Dionysius. Man steht, indem man zu ihrer aus dem Stein in ein übermächtiges Vorhandensein herauswachsenden Körperlichkeit hinaufblickt und indem man gewissermaßen alles spätere Plastikschaffen um sich her abfallen fühlt, in der Zuversicht einer neuen Zeit; man steht im ersten Jahrhundert unseres Jahrtausends.

Was will man noch mit all der ästhetischen Verschleifung unserer Gegenwart, wenn man die stille Gewalt solcher Figurierung betrachtet? Begriffe von Relief, von Optik, von Raumausgleichung haben hier keinen Sinn oder jedenfalls erst einen sekundären, der selber erst durch die ganz aktive Tatkraft des Werkes mitgeschaffen wird. Die Figuren sind hinterschnitten und haben dadurch eine um so vollere Ganzheit. Sie sind in sich selber zurückgezwungen und treten dadurch um so stärker in den Raum. Alles steht bei ihnen in einem Zwiespalt, der über das Formale hinaus ein Plus von Leben erzeugt. Dies ist vielleicht ihr eigentümlichstes Gesetz, wovon auch das Verhältnis von Kubus und Lebensbewegung nur der ursprünglich fühlbare Teilausdruck ist. Das Akzidens der Gliederung steht in einem vollen Gegensatz zu der Kubik der Behaltung und dadurch springt das Gelenk heraus und der seelische Ausdruck wird über das rational Körperliche hinweg sinnhaft, hieratisch, richterhaft. Das gibt etwas zugleich unendlich Einfaches und unendlich Vornehmes. Diese Figuren sind zugleich äußerst körperhaft wirklich und zugleich rein geistig wie Zeugnisse. Alle künstliche Körperhaftigkeit als Selbstzweck, die zwischen diesen beiden Polen stehen könnte und welche die nachmittelalterliche Plastik oder der klassizistische Sinn anstrebt, fällt hier vollkommen weg. Solche Figuren sind einfach zugleich Dinge und Dokumente. Noch hat unsere neue Kunst nur Weniges wieder von solchen Verhältnissen geahnt. Wie lange läßt sich diese unglaubliche Wahrheit und Sinnfälligkeit betrachten! Man erlebt den Sinn einer Frontalität, die das Menschliche von allen Seiten angreift.

[Regensburg, Dom]

[Regensburg, Allerheiligenkapelle im Domkreuzgang]

Gefangener in der Dominikanerkirche

Im Gotischen ist die Zuschließung der Bauform wie eine Aufschließung. Wenn man nach der romanischen Völligkeit nun vor der fast abstrakten Bauschönheit einer Bettelordenskirche steht, vor der Minoritenkirche oder jetzt vor der edelgroßen, in Silhouetten gebrochenen Erhabenheit der Dominikanerkirche, vor dieser linearflächigen, Schrägung aus Schrägung gegen den Himmel stoßenden Fassade, so ist es dieser Gedanke, der den Sinn der Dreiecksform im ganzen und in jeder einzelnen Wiederkehr begreifen und deuten möchte. Je mehr sich die Form nach innen und oben gipfelt, um so mehr erscheint sie als ein Aufschluß, der sich gegen den räumlichen Begriff selber richtet. Meist setzt man Raum gleich Raum und doch ist ein gotischer Raum gerade das Gegenteil von einem Raum der Renaissance.

Der Aufenthalt in der Dominikanerkirche sollte für mich von einer unfreiwillig schönen Länge werden. Halb in Gedanken kam ich mit einem Besuchertrüppchen ins Innere. Es ist ein solches hohes Innere von reinen und aufgelichteten Richtungen, das in dem darin Gehenden sozusagen die eigene Körperlichkeit austilgt und nur noch den Gang und Einhalt selber empfinden läßt. Man ist an nichts Einzelnes gebunden und doch steht man ganz in der Einzelheit. Zwischen Vergessen und Gefühl des Daseins ist eine eigentümliche Spannung. Nur einige humorige Figuren sind da und dort im strengen Dienste der Architektur angebracht. Und mit solch humorigem Gefühle wurde nun auch für mich die große Empfindung untermischt, als ich bemerkte, daß offenbar schon seit einiger Zeit die Kirche ganz leer und alle Ausgänge geschlossen waren. Die Mittagsstunde hatte schon länger geschlagen und die dreiförmige Ordnung der Schiffe stand in ihrer hohen und bleichen Stille. Das Gehen war nach allen Seiten frei und der Beschauung war kein Ziel gesetzt. Sie wendet sich an das einzelne, aber sie wird immer aus sich selber fortgeleitet. Es wurde die Erlebung einer eigentümlichen Unruhe-Ruhe dieser Frühgotik. Oder wie Karlinger sagt: »Selten spricht ein Stil mit so überzeugender Kraft: alles oder nichts. Die unermeßliche Schönheit dieses Gesamtraums besteht an sich, nicht gewollt, vielmehr erzwungen durch die gigantische Einheit einer Werkgesinnung, die nur Ziel kennt, kein Verweilen bei den Mitteln.« Indem man gehend sich hineinfühlt in die karge und knappe Brechung der geometrischen oder organischen Architekturmittel, indem man so die Aufgesogenheit der Brechungen im ganzen Raumsinne versteht und doch eben den knappen Wiederhalt der Formen eben daraus entdeckt, kommt das scharfe Bewußtsein der Stil- und Zeitänderung. Es ist in dieser Baugesinnung eine Aufgespartheit, eine Hungrigkeit; und auch wenn man sich an schöne Einzelheiten und Zutaten in dieser Kirche wendet, bleibt dieses Grundgefühl in steigendem Maße herrschend. Hier läßt das Morgenbild der Geschichte schon auf einen in Vielheit und Sammellosigkeit reifenden Mittag schließen,

Aber schließlich wurde die Gefangenschaft doch zu lange. Die zweite Stunde war schon auf der Neigeseite; die Geräusche der Arbeit von außerhalb waren wieder sehr werktätig geworden und durch die Fenster im Lichtgaden kam der blaue Himmelsschimmer mit der neu erschienenen Sonne. Ich erkühnte mich, in die Sakristei zu dringen und den Kopf durch die Scheiben nach auswärts zu bringen zu einigem Erstaunen einer draußen im Grase arbeitenden Frau und eines Hundes. Aber es war ein selten schöner Aufenthalt gewesen in der geschichtlichen Nähe des hier wirkenden großen Albertus Magnus.

Das Schottentor

Die Jakobskirche steht wie ein Kernexempel, wie ein unzerstörbarer Schrein der mittelalterlichen Kunstidee immer wieder neu vor dem Hinzukommenden; unzerstörbar oder doch nicht zum letzten aufschließbar. Diese reife gedrungene Romanik ist wie eine gewaltige Durchdringung von Geschichte und Geist, von Natur und Naturlosigkeit, von Aktion und Kontemplation. Diese Größe ist nahe und doch ungreifbar im Steine wie ein fernes Gesicht; diese Monumentalität hat nichts von dem Quantitätssinn, mit dem sich die spätere Kunst zur Größe verhilft. Sie ist eigentlich nicht klein und nicht groß, sondern etwas Drittes; sie hat einen Proportionssinn, dessen Eigenschaften man erst ergründen müßte. Der letzte Sinn ist wie etwas ganz Leibhaftiges, das vom Menschen her als Raummaß genommen ist und doch den Menschen nicht braucht. Hier bedarf es auch noch nicht des menschlichen Schrittes durch den Raum, sondern das Material des Steines ist gewissermaßen allein durch den Geist in Schritt, Bewegung und Fügung gesetzt. Die Kapitäle, die Bogen, das Kubische haben eine dienende Herrschaft und das Tierische, das Pflanzliche, das Menschliche sind nur wie Zutaten. Sie treten wie durch Unterjochung in Freiheit.

Man steht immer wieder vor der berühmten Skulpturenwelt vom Gewände des Schottenportals. Die Erkenntnis ist unruhig, ihren inhaltlichen Sinn zu begreifen; aber zugleich sättigt sich die Anschauung immer wieder rein durch die Daseinskraft dieser Figuren. Man fühlt sich wie vor ein Gericht gestellt, nicht vor das Jüngste Gericht, sondern vor ein stetiges Gericht, in dem die Schöpfung ihre Natur und ihre Kreatur bekennt. Das Göttliche und das Irdische, das Geisthafte und das Dämonische ruhen auf einem Grunde; nur die Sprache des Ausdrucks ist verschieden und damit die Proportion der Wirklichkeit. Sicher ist in diese Figuren, in die skulpturalen Bossen, in diese Steinfelder, in diese starke Stufenfolge von Säulen und in die dazwischentretende Schwäche der Kehlungen viel Inhaltliches hineingeheimnist. Aber eigentlich noch stärker ist das Geheimnis des Formsinnes selber von der theologischen Deutlichkeit bis zu der vegetativen Verschlingung und Überwachsung, deren scheinbare Regellosigkeit gewiß eine geheime Ordnung hat. Und wäre es nur diese ganz große, daß durch das Pflanzliche im frühen Mittelalter das Steinerne erst recht wie durch einen Lebensgegensatz gegen die Schöpfung zu seinem Ausdruck kommt. Diese Zweiheit der Empfindung im Schaffen gibt den ersten und letzten Eindruck, sie gibt das ernste Gesicht und die so einfache wie doch fast schreckliche Wirklichkeit, so oft der Vorübergehende stehen bleiben und wieder hinschauen mag. Es ist etwas Wildes dabei und wenn man plötzlich Tauben bemerkt, die zwischen dem steinernen Leben nisten, ist es eine sonderbare Idylle.

[Regensburg, Porta Praetoria]

[Regensburg, Schottenkirche St. Jakob]

Zwischen den Zeiten

Es wird wenige Städte geben, die so sehr wie Regensburg den geschichtlichen Sinn ansprechen und erwecken. Das macht die Überzahl der Dokumente des Mittelalters, und es ist dabei merkwürdig, zu bedenken, daß die Bauten späterer Zeiten, obgleich sie viel mehr zur direkten geschichtlichen Glorifizierung bestimmt sind, doch gerade diese Bestimmung viel weniger in Anschauungs- und Gemütskraft umzusetzen vermögen. Dagegen braucht man nur von den zellenhaften oder hochräumigen Einsamkeiten der alten Geschichte, von diesen Krypten, Kreuzgängen, geistlich zusammengeschlossenen Architekturen mitten unter das heutige Volksleben des Stadtkernes zu gehen. Man geht von den Märkten in die »Grieb«, in die Gedrängtheit dieses alten römischen und geschichtlichen Lagers; und überall, wo die Geschlechtertürme und diese Gänge und Höfe der noch heutigen Behaustheit sind, hat man die gleiche Empfindung. Jene alten Figuren an den Zellen der Geschichte sind wieder Gegenwart, und die Gegenwart hier im Volke ist Geschichte. Die heutige Gegenwart steht um den Bezirk des Domes fast wie um Katakomben, und sie breitet sich um das historische Rathaus wie um einen Punkt, in dem der bürgerliche Gang zu sich selber mit vornehm bürgerlicher Selbständigkeit verdichtet blieb.

In der Dombauhütte

In der Tat gleicht es einem Gehen von der Gegenwart in die Katakomben der Geschichte, wenn man in den Kreuzgang des Domes hinabgeht. Jahrhunderte atmen in der Stille eines Jahrtausends, und dieses letzte Jahrtausend unserer Geschichte lagert auf den eingesargten Fundamenten des ersten unserer Zeitrechnung. Der Geist der Menschheit scheint nur in jenen Zeiten gewachsen zu sein, in denen er sein Wesen in den großen Begriff von Steinmälern herauszusetzen verstanden hat. So empfindet man hier durch die Öffnungen des Kreuzganges die steinerne Zentriertheit der Allerheiligenkapelle, so in Sankt Stephan den Altar als einen einzigen Steinblock, und die wenig angebaute grüne Wildnis der beiden Höfe des Kreuzganges bringt zu der versteinerten Vergangenheit einen verstärkenden Gegensatz. Von hier bis in den heutigen gotischen Dom hat sich Estrich über Estrich gelagert, Bauplan über Bauplan, hier steht man auf einem schutthaften Emporwachsen der Zeit.

Im Querflügel des Kreuzganges sind an einem Holzgestell eine Reihe Pläne neu aufgehängt, welche den Beweis für die erfolgreichen kunsthistorischen Grabarbeiten bieten, mit denen in den letzten Jahren die ursprüngliche Lage des romanischen Domes klargestellt wurde. Indem man nun diese Pläne verfolgt, wächst vom einzelnen ins Ganze noch mehr diese steinerne Zeitempfindung. Sie schuf im Anfang des elften Jahrhunderts östlich der römischen Lagerstraße zur Porta praetoria ihren strengen und großen Komplex. Die Gotik hat ihn nach ihrem raumhafteren Bedürfnis erweitert, und so ruht Gegenwart über Vergangenheit und Vergangenheit in Gegenwart.

In der Dombauhütte, die im Domgarten steht, traf ich, durch die Freundlichkeit des Regensburger Oberstadtbaudirektors Schipper aufmerksam gemacht, den Leiter dieser Forschungsarbeiten, Bauamtmann Zahn. Zwischen Zeichentischen und großen Zeichenblättern, wie es bei Architekten ist, gab es eines jener Gespräche, die an der Fülle der gesehenen Dinge, an der Schönheit einer solchen Stadt sich entzünden und vom Gewesenen zum Gegenwärtigen überspringen. Bamberg und das Wagnis und die Größe einer praktischen Denkmalsaufgabe, wie sie dort mit der Apsisbemalung von Caspar geleistet wurde, war dabei ein besonderes Thema. Zahn brachte dabei einen Gedanken, an den man meistens nicht denkt, daß nämlich auch die Skulptur und gerade sie bei der fortschrittlichen Denkmalspflege beteiligt werden könnte. Wir weisen auf dieses wichtige Problem hin, wieweit vielleicht statt des kopistenmäßigen Ersatzes ein wirkliches Neuschaffen an altem Domschmuck möglich wäre. Voraussetzung ist, daß man immer mehr in den Sinn dieser Kunst gleichzeitig eindringt. Skulptur im mittelalterlichen Sinne entstand nicht bloß als Qualitätsleistung eines tüchtigen Könners, sondern noch mehr als Kreatur eines hintergründigen Geistes. Eine alte Kunstauffassung könnte wieder eine neue werden.

Die Ludwigsromantik

Wie sehr glaubte sich die Romantik an die Geschichte anzuschließen und welch ein Gegensatz ist es doch nun, wenn man nach Osten oder nach Westen von Regensburg hinausfahrend den in klassischen Räumen sozusagen gefangen gesetzten Hauch einer monologisch-romantischen Idealität findet. Diese Räume, diese antike Tempelform der Walhalla bei Donaustauf und diese Kuppelrotunde der Befreiungshalle bei Kelheim, innen ausgeräumte Mitten, die rein zum unsichtbaren Gedächtnis bestimmt sind, aber umstanden von Gestalten oder umgeben von Koryphäen, für Daten und Geschichte deutscher Vergangenheit, diese monologischen Reminiszenzen haben eine Kühle der Reflexion, die doch eine Wärme des Gefühls zu rufen imstande ist. Die romanischen und gotischen Werke in Regensburg mit ihrem Plus von Kreaturgefühl haben hierher keine Beziehung. Die Formen dieser Romantik sind wie Fremdworte und doch darf man daran erinnern, welche starke Rolle etwa bei dem kerndeutschen Romantiker Görres das Fremdwort gespielt hat. Es war wie eine Angel, in welcher sich seine Sprache bewegte, um den Zugang zu dem deutschen Wesen zu öffnen. So mag man diese Bauten des ersten Ludwig empfinden. Es ist noch etwas von der Zeit des monologischen Geschichtssinnes Hegels, was uns hier anweht. Der Geist ist bei aller Freiheit des idealistischen Bausinnes gefesselt, weil er nicht in die Wirklichkeit der Figur kommt. Und doch ist hier bei aller abstrakten Gegenwirkung auch etwas von dem Märchensinne der Romantik, etwas von der gefangenen Prinzessin; und auch in der Wahl der Landschaftsblicke, in denen die Idee architektonisch angesiedelt wird, lebt ebenfalls ein merkwürdiger Rückschlag gegen die ideelle Abstraktion selber.

Indem man diesen Bauten nahekommt, indem man vom Motorboot der Donau aus in der hellen Sonne die Walhalla ernst und lange voraus erblickte, oder indem man vom Auto aus auf der Straße nach Kelheim die Befreiungshalle über Waldräumen auftauchen sah, beschäftigte man sich unwillkürlich zuerst mit dem Gefühl der Fundamentierung und des Sockels. Wieviel Unterbau bedurfte es, um nicht eine architektonische Vielgestalt, sondern die Einsinnigkeit einer Idee emporzuheben. Und doch mußte die Rundform der Befreiungshalle, verglichen etwa mit einem alten Schlosse, etwas Schwankendes behalten. Es ist, wie wenn die Erde aufgehalten wäre, als Kraft aus der Wurzel in die Idee zu einer Kulturwaage zu treten. Aber dann stand man in den festlichen Räumen und sah die von der historischen Idealität halb unbewußt ergriffene Teilnahme der Besucher, auch die Teilnahme des einfachen Mannes. Man blickte vor der Front der Walhalla über die weithin südlich der Donau gedehnten Erntefelder, deren gelber Schein unter der Gewitterhitze des Himmels wie eine aufgebrochene Erde selber war. Oder man stand hoch auf dem äußeren Umgang der Befreiungshalle und sah plötzlich, wenn man von den Tiefen des Donau- und Altmühltales in die Nähe blickte, die Kuppel mit ihren zackigen Zierformen wie das Schattenbild einer großen gezackten Krone auf dem Gelände vor dem Baue liegen. Ein Gang und Herabstieg im Walde, ein Übersetzen über die Donau, ein Besuch in Weltenburg, eine Kahnfahrt donauabwärts zwischen den unzugänglichen Felsen, wo die beladenen Kähne still hinglitten und die Studenten manchmal schwimmend dazwischen die Flut belebten, beschloß diesen Nachmittag. Es war mitsamt dem barocken Überschwang Weltenburgs eine Wanderfahrt im alten romantischen Lande. Ein kurzer schöner Ausflug ins Altmühltal, ein Aufblicken zu der Monumentalität von Schloß Prunn, der elegische Schimmer von Wald und Wiesengrün mit den Flußblicken in der Abendsonne beschloß die Fahrt.

[Regensburg, Blick vom Dom auf die Neupfarrkirche]

[Regensburg, Dom, Fiale an der Nordseite]

Geistige Dombauhütte

Stadt der Türme

Wieder erging sich das Auge und das Gefühl in dieser Stadt, wo ein geschichtliches Dasein wie eingetürmt ist; Türme, die Zweck haben, und Türme, die keinen Zweck haben, sondern »nur« Maße von Ideen sind, stehen um den Gehenden. Oder man blickt vom Zimmer des Hotels auf den einzigen Turm von Obermünster. Man bemerkt kaum eine leise Innenneigung nach oben gegenüber dem Glockenturm der Alten Kapelle, dessen Neigung nach oben wie eine hoch und mächtig aufgerichtete Zelthaftigkeit im Steine ist. Man sieht, wie durch Rundbogenfriese auf steinernen Flanken Felder entstehen, daß das Steinerne dadurch für den Anblick um so steinerner wird und daß es doch zugleich das Gefühl eines schollenhaften Ackers bekommt. Figuren können aus dem Stein der Flanken und der Gewände herauswachsen mit jener wilden und doch geistig gezügelten Natürlichkeit wie bei dem berühmten Schottenportal. Das Geheimnis von Feld und Grenze kommt uns nahe, welches im Mittelalter mächtig ist und welches etwas ganz anderes ist als der humanistisch zentrierte Raumsinn. Oder wir denken an die monumentale Einsinnigkeit des Römerturmes oder an die ausgebaute Zweisinnigkeit des Petersdomes, Türme, die nicht mehr sinnhafter Grundsatz sind, sondern, durch die Zeit der Entwicklung und durch das Longitudinale weggerückt, mehr zum Schmuck geworden und doch im gleichen noch viel mehr Zeugen sind von geistigen Gesetzen. Ein geheimes Leben des geschichtlichen Ideenwechsels spinnt sich zwischen all diesen Türmen. Man fühlt den Geist einer Stadt wie zerstückt, alles aus der gemeinsamen Krypta der Geschichte, über deren Schutt der Jahrhunderte man geht, stückhaft in die Höhe gehoben; aber in der Höhe antwortet ein Echo dem anderen und mit hierarchischer Ordnung ist es ein gemeinsamer Geist des Gewesenen. Regensburg ist nicht zu verwechseln mit manchen anderen deutschen Städten von malerischer romantischer Erhaltenheit. Hier sieht man noch Erde und Geist, nicht malerisch vermittelt, sondern in den ursprünglichen Gesetzen und Gegensätzen ruhend. Es ist nicht zuletzt deshalb, weil die spätgotische Verbürgerlichung hier verhältnismäßig wenig Anteil dabei hatte.

Die Romantik, jenes Gefühl, das ins Unbestimmte strebte und eine schöne Klarheit der Formen zu einem um so sehnsüchtigeren Hinausschweifen ins Ungewisse benützte, war in der Gotik zu Hause. Aber sie war nicht so sehr in dem Baue selber, als daß sie gerne vor einer Nische betete; sie war nicht so sehr im Raume, sondern sie blickte hinaus und blickte auch auf die neu gemalten Scheiben; sie war nicht so sehr in der grenzhaften und ummauerten Stadt als in den Türmen, Zinnen, Zieren und Erkern. Und ebenso war es, daß sie mehr ausbaute als einbaute; daß sie mehr reinigte als erfüllte. Sie wollte mehr ein Bild der Erfüllung als eine erfüllte Wirklichkeit. Und doch war hinter diesem die schöne Genügsamkeit eines edlen Stilgefühls; es war die geistigere Hälfte der Erde, mit der man sehnte und schweifte. Es war eine eigentümliche Offenheit der geistigen Verhältnisse, in welcher man lebte. Wenn Eduard Steinle für den Grafen Schack und sonst noch seinen »Türmer« malte, so ist dieses Gefühl mit ausgedrückt, das sich aus den engen bürgerlichen Angeln hob und durch das entfensterte Fenster eines Turmes hinauslebte. Oder der fahrende Schüler in Brentanos »Chronika« gibt sich beim Anblick eines Turmes ähnliche Rechenschaft wie vor den Werken des Meisters Wilhelm. »Man fühlt da wohl, daß der Mensch etwas sein und schaffen kann, was viel herrlicher ist als sein gewöhnliches Sein und Schaffen, und man erschrickt darüber, daß diese Herrlichkeit so fremd und selten ist, daher wohl eine Menge Sprossen auf der Leiter zu dieser Vollkommenheit wo nicht fehlen, doch unsichtbar sein müssen, und wir alle wohl tief heruntergeworfen sind.«

Dieses Fühlen nach den unsichtbaren Sprossen ist die Ahnung geistiger Gesetze, aber es ist wohl auch etwas wie die Kartonkunst, wie der Mangel an irdischer Farbe und Schwere, an dem Naturerlebnis, das uns etwa van Gogh gebracht hat. Dieses Fühlen nach der schönen Regel trieb zum Ausbau im Restaurationssinne, wo sich dann als Resultat mehr die Materialität einer Regel als die Schönheit einer Empfindung ergab. Auch die neuerweckte Glasmalerei, ersehnt wie ein tieferes Wunder im Fenster gegenüber dem verblasenen, aufklärerischen Lichte, wurde eine doktrinäre und materielle Erfüllung einer neu gespürten Aufgabe. Die verlorenen Wunder aus den früheren Jahrhunderten des Volkes, aus den Jahrhunderten der alten Städte waren nicht von einer begeisterten Generation nachzuholen. Warum sollten ähnliche Erfüllungen nicht ebensolange wieder dauern!

Bei den Fialen

Was reizt uns, die Türme und Dächer der gotischen Dome zu besteigen, dort auf den schmalen Steinbänken um die hohen Kirchenschiffe zu gehen, wo die nach innen strahlende Farbenglut der hohen Fensterwerke die blinde äußere Seite zu uns kehrt; durch die Durchlässe der Strebepfeiler zu schlüpfen, an denen sich mit uns die geometrischen Felder verschieben; in dunklen Schächten durch den Mauerkern zu dringen, um den erhobenen Blick von einer Galerie nach außen mit der schwindelnden Einsamkeit auf einem Triforium im Innern zu vertauschen. Man ist überall in die Höhe gerichtet wie die Pfeiler, Streben, Fialen, und doch mag man plötzlich das Gefühl haben, man sei gewissermaßen wie umgekehrt in der Erde. Dem Himmel näher ist man gewissermaßen wie in ein Gegenbild eingegraben, je loser und schwindelnder, um so mehr gefangen. Man ist in dem Bergwerk Gottes, und dieses besteht aus Maßen, Zahlen und Gewichten.

Leicht sagt man, die Gotik habe wie ein natürliches Wachstum den Drang zur Höhe. Aber wenn man da oben steht, fühlt man den Zug der Linien, die Knickungen, Winkelungen, Abbrüche; es ist ein spielend rechnendes und doch schweres Maß zur Tiefe; und plötzlich, wenn man an eine Stelle kommt, wo mächtiges, verwittertes Zierwerk, Gerüste durchschlagend, durch einige Zonen abgestürzt ist, kann man all diese frei gebundenen Lasten mit einer schreckhaften Lebendigkeit fühlen. Die geometrischen Ankerlinien der Fialen in der Luft erscheinen dann um so freier und schwebender, alles erscheint statisch und bogenhaft, noch kühner in seine dünnen, unzerbrechlichen Kräfte hineingespielt, und Sieg und Abbruch sind wie stärkste Gegensätze nebeneinander; Kräfte und Eigenschaften, die nichts voneinander wissen. Nur der lebende Körper ist, beider Kräfte innewerdend, dazwischen. Die Gotik ist nicht das Bild eines natürlichen Wachstums; sondern durch Gegensätze wird ein geistiges Wachstum frei. Es ist ihre säkulare Weite und weltliche Gegensatzkraft, auf die Empfindungen reiner Maße und Verhältnisse gebracht. Man steht hoch in ihrem hängenden, steinernen Garten, umgeben von Steinfarbe, von einem witternden Graublau der Kalke, das eine leise und schwere, zeitalterhafte Blumigkeit hat. Die Knollen und Knospungen der Fialen und Schwibbogen sind wie ein gezähltes Leben, wie eine in Zierarten numerierte Lebenskraft, durch ihre linien- und reimgleiche Gezähltheit gegen den Absturz gefeit; aber wenn man eine solche Knolle oder Krabbe nahe betrachtet, ist ihr Anblick mit dem in sich geschobenen Knoten des Rückens wie ein kühnes und gefährliches Bild des in sich geschobenen Absturzes selber. Es ist, ins Pflanzliche gesetzt, die ganze Heftigkeit eines Leibes, wie ein Rückenwirbel in Spannung, wie bei den Tieren und Tierchen, die an den Kapitälen sich schmiegen und stürzen. Wie nur bei so viel Pflanzlichkeit der Gotik so viel lebendige, kühne Tierheit Platz findet! Und plötzlich sieht man, daß von den durch das Blaugrau des im hohen Anblick umherwitternden Steingartens mit blauem Gefieder fliegenden Tauben sich eine auf die Kreuzblume einer Fiale gesetzt hat. Nie hat man noch so das Schwindelnde eines Gefühls empfunden, als von diesem freien Orte der Taube, die mit ihrem kleinen Kopfe an ihrem blauen Körper so achtlos und beweglich ist und die nun, auf einmal wieder abgeflogen, mit einem lastenden Fluge in den schattenden Domgarten hinter dem Chore hinabschwindet.

Man denkt über den Grund dieses schwindelnden Raumgefühls nach, man fühlt zwischen den hohen Vertikalen den gemeinsamen Fußpunkt der Erde weggezogen, man wirft den Blick in die Weite; und an dem kleinen sicheren Vogelkörper, an der Sicherheit eines fremden Instinktes, ist man gehemmt wie an einer geistigen Irrung. Es ist ein seltsames Widerspiel zwischen körperlichen und geistigen Sinnen. Man kann es mehr erleben als schildern und man fühlt, daß in diesem seltsamen geistig-körperlichen, halb imaginären und wieder ganz wirklichen Gegenspiel der Sinne auch ein Grund ist für die Vorliebe der gotischen Skulptur zum kleinen Tierkörper. Irgendwo in den steilen Graten der Höhe sind solche kleine Tierfiguren angebracht, so hier oben an einer von unten ganz unsichtbaren Stelle ein ganzer Tierfries. Der Geist spielt, ohne es zu zeigen, seine merkwürdigen Spiele; er will keine Wirkung auf den Beschauer, weil er die Wirkung in sich selber hat, weil er sein eigener Empfinder und Beschauer ist. Und so ist solch eine Welt der Fialen die größte geistige Demonstration, welche in der Gotik erwuchs, und ist doch zugleich gar keine Demonstration, weil sie ganz in den Gesetzen ihrer eigenen Sicherheit entstanden ist.

Man blickt hinaus auf die ehrwürdige Waage der alten steinernen Brücke, auf den zwischen Süden und Norden ziehenden deutschen Strom, auf die besiedelte Stadt mit ihren Türmen, von denen die Zwillinge des Niedermünsters in der Nähe ragen, auf die Weite der in den Horizont steigenden und fallenden Landschaft. Aber man ist immer wieder in diesen steinernen Bezirk zurückgezogen, in die Schattungen dieser Sonnenuhr von Türmen und Fialen. Man beginnt über die Probleme der Erhaltung dieser steinernen Zeugnisse nachzudenken, indem man immer wieder, durch Versuche mit Konservierungsmitteln am Steine, durch Gerüste und die Arbeit von Steinmetzen darauf hingewiesen ist. Man sieht einen unfruchtbaren Geist unseres letzten Jahrhunderts, der rein nachbildend an den Krabben gerade die gekrümmte Wucht des tierhaften Blattleibes nicht erreichen konnte. Wie viel muß erlebt werden, bis das Erleben wieder gleichgerichtet, kühn und wuchtig wird. Man verläßt die hohe Stelle mit dem Gefühle eines Abschieds. Ein enger Geist von heute, der bloß nach Wirkung sucht, kennt nicht die hohen, reinen und klaren Spiele des Überflusses.

Gotische Fensterkunst

Einen großen Teil dieses Jahres waren im Innern des Regensburger Domes an den Fenstern, besonders im Hochaltar Gerüste aufgestellt, um zahlreiche Aufnahmen zu machen. Es handelt sich dabei um ein mehrbändiges Werk über den Dom, das, herausgegeben von der Deutschen Akademie, in Vorbereitung ist. Nicht zuletzt bei den Fenstern galt es, erstmalige breitere Anschauung nach geordneten stilistischen Erkenntnissen zu vermitteln, da auch gerade hier der um enge Wirkung unbekümmerte künstlerische Geist der Gotik erst dem nahen Auge und dem photographischen Apparat die ganze einzelhafte und szenische Schönheit der vielfältigsten großen und kleinen Kompositionen auf den Scheiben ausliefert. Besonders waren es neben einigen anderen die Fenster auf der linken Seite des Hochchorpolygons, deren Schönheit erobert wurde. Vor drei großen Fensterzonen, mit dem Mittelglied des Triforiums ging das Gerüst hinauf. Da glühten große Heiligengestalten aus dem Glase, besonders ein heiliger Matthäus, dem man eine Grünewaldische Schönheit der Empfindung und leiblichen Wirkung zusprechen konnte; kleine Gruppen aus der Geschichte der Apostel oder aus den Werken der Barmherzigkeit, mit einer heftigen Kraft und einer stürmenden Poesie der Wirkung; ein Jüngstes Gericht in den kleinen Teilen des Maßwerkes, die wieder zu einer anderen Heftigkeit und abkürzender Eindringlichkeit gezwungen waren; oder einfach die gebaute Leuchtkraft von Blumen in kleinen Zwickeln. Da war vor allem die Erkenntnis der großen Unterschiede des Stils in zusammengehörigen Jahrzehnten aus der ersten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts, aus welcher diese Fenster in Abständen stammen.

Die Fenster überwinden in ihren besten Schöpfungen das malerisch oder zeichnerisch Musivische; sie haben etwas glühend Gestirntes, womit das farbig aufgebrochene Ostlicht in den Raum dringt. Manche haben mehr das Gesetz eines großen, konservativeren und bürgerlichen Handwerksstils, manche sind wie grün und blumig erblühte Gärten und manche, nicht wenige, zeigen einen Meister, bei dem die Glasmalerei für sich allein hohe Kunst wird. Man spricht in der Glasfensterkunst von der stilistischen Bedeutung des Scherbens. Aber hier ist die Zeichnung wie ein heftiges Ereignis im Lichte selber, schmerzhaft beschleunigt und zur tätigen Darstellung zusammenrinnend und die Farben sind dazu wie eine große und repräsentative Passion. Das Körpergefühl ist rein durch eine leibseelische Pracht der Gewandung getragen, eine kreatürlich oder textil gewordene Qualität der Empfindung, die mit jeder Gestalt wechseln kann und das Hieratische selber als jeweils anders Menschliches besitzt. Es ist im Stil der Darstellung der gleiche Unterschied wie in dem Gefühl für die leiblich-seelische Haltung der Stände, eine künstlerische und dichterische Soziologie, die ohne humanistische Maßeinheit zum Bildsinn des Mittelalters gehört. Man möchte diesen irrationalen Sinn, bei dem der Stil zugleich Inhalt ist, bis in alle Phasen seiner gegen das Licht gesetzten zeithaft geborenen Möglichkeiten verfolgen. Der geschichtliche Substanzsinn mittelalterlicher Kunst gegenüber einer zeitlosen, objektiven Kunstauffassung würde sich daraus ergeben. Man würde dabei auch mit Gedankengängen von Dvorak sich berühren und würde immer mehr an dem Sinn eines noch unbekannten gotisch-christlichen Kunstgesetzes bauen müssen.

Man kann wohl allgemein sagen, daß unsere heutige Glasfensterkunst meist, wenn nicht zu einem zugleich starren und doch empfindsamen musivischen Gesetz zurückgekehrt wurde, ein lokalfarbiges Aufillustrieren ist, keine weltanschauliche und zeithaftige Dramatik im Lichte. Auch wo das einzelne nicht mehr erkannt wird, bleibt in den alten Werken der Sinn des ersten großen Formgeschehens gültig und wird das Drama in der gestirnten Farbigkeit prächtig. Das Geheimnis des Glasmaterials ist wie eine starre und große Schwäche, mit welcher der aufgebrochene Raum sich gefüllt hat, und um so durchgebrochener glühen die starken Farben, durch Grenzen und Schrägen der Zeichnung gehindert und verschärft; und das Weiß einer Umrandung verstärkt noch dieses primäre Gerüst einer dramatisch-schmuckhaften Losgelöstheit. Es ist wie eine erste Geburt der Zeichnung aus dem Kampfe. Es entsteht eine Schrift gemeinsamer Züge von typenhafter Deutlichkeit; Gesichter und Hände haben darin gegenüber der farbigen Schmuckwirkung ihre besondere Rolle. Kurz, es gibt da keine rationale Proportion des Könnens; es ist ein Kampf zwischen Schmuck und Sprache; jenes Geheimnis, welches uns mit der bloßen Brauchbarkeit aller Formen wohl am meisten abhanden gekommen ist.

Restaurationsromantik

Wenn man im sogenannten Domgarten geht, umgeben von Jahrhunderten, die im Domchor, im Bau von Sankt Ulrich, in Niedermünster und in dem ehrwürdigen Komplex des Domkreuzganges mit Sankt Stephan und der Allerheiligenkapelle sichtbaren Bestand angenommen haben, kann man plötzlich wie kaum je das Gefühl sichtbarer Zeiten haben. Das Mittelalter war wie ein ewiges Fortkommen; es hatte mehr Fortgang als Anfang. Die Prinzipien fanden sich im Tun, die Hütte schuf das Haus und auf dem Steinmetzplatz wuchs die Idee mit der Form; sie hatten hier ihren stets gegenwärtigen Zeitpunkt. Alles ist nicht zeitlos, sondern zeitvoll, und hier nun liegt das Geheimnis und die Schwierigkeit für das, was wir ersetzen und nachbilden wollen, wenn es die Zeit zertrümmert. Man wird mit Staunen eines eigentümlichen Verhältnisses inne, nämlich: was das Menschliche verliert, das kann ersetzt werden; aber was die Zeit verliert, das bleibt verloren. Mit anderen Worten: die Zeit kann kein solches leeres Neutrum werden wie das Menschliche. Sie trägt ihre jeweilige Bestimmung in sich, die sich nicht gleich dem Menschlichen verderben kann. Sie bildet ein sichtbares Gericht der menschlichen Kräfte; sie trägt, wie die Romantik geglaubt hat, einen göttlichen Plan in sich. Man kann auf den Werkplätzen der Dombauhütten das einfache und doch mystische Gefühl erleben, das immer mit einer Philosophie der Geschichte verbunden bleiben wird.

In der Dombauhütte waren Photographien vorhanden, welche Ansichten des Domes während des Ausbaues der Turmhelme und der Querschiffgiebel darstellten. Der Ausbau von Denzinger in dem Jahrzehnt der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts wuchs aus den Gerüsten hervor. Die Eingerüstung ist bei gotischen Domen wie etwas Zugehöriges. Wo die Bauform selber schließlich so viel geistige wie technische Züge erlangt hat, ist das technische Hilfsmittel wie ein Begleitmotiv für den Geist. Diese türm- und burgartigen Bilder bei den Ausbauten und Restaurationen unserer Dome gehören in den geistigen Gesichtskreis des letzten Jahrhunderts. Hier ragte wieder der lange Arm eines Kranes in den Himmel der Zeit und gab das Bild, wie die Materie in die Höhe gehoben wird und ihre Schwere verliert. Als wollte dieses Bild wieder sagen: je mehr die Materie an Höhe gewinnt, desto mehr scheint ihre Schwere verloren; als ob die Kraft der Wirkung im sichtbaren Hinaufschwinden das Gesetz des Stoffes veränderte. So konnte man die Photographien ansehen, bis der Moment der Entschälung kam, als 1869 der Ausbau fertig ist und als nun ein sauberer und, darf man sagen, klimperklärlicher neuer Kern aus der Einhüllung zum Vorschein kam. Das war jene gereinigte, sozusagen rein numerierte Fertigkeit, wie man sie auch an den Nachbildungen der Krabben sah, welch letztere übrigens wie auch wesentlichere Teile teilweise nur in Blech nachgebildet waren. Man konnte an die Blechornamente denken, die auch Ludwig I. in seinen monumentalen Baugedanken nicht fremd blieben und die eine rührende Mischung von Idealität und praktischem Fertigkeitssinn bekunden.

Man könnte sagen, der Bildgedanke, die spirituelle Bildabsicht sei jener Restaurationsromantik wichtiger gewesen als das schwerere Wort, das die eigene Zeit hinzuzufügen hatte. Aber dieses Spirituelle wurde dann nur wie ein historisch-technisches Nachholen. Man erhielt nur eine unbestimmte Bilddistanz, keine eigentliche Gegenwart und damit auch keine eigentliche Plankraft der Geschichte. Auch die Art der klärlichen Photographien war, wie denn doch alles in einer Zeit Verwandtschaft hat, geeignet, diesen Eindruck zu verschärfen. Es war die kleinkalibrige Deutlichkeit ohne starken Wechsel, die solchen Photographien von damals geeignet, und die Ansichten waren in Ovale gesetzt, welche schon selber ein mehr optisches Gefühl der bloßen Ansicht zu geben scheinen. Fast möchte man sagen, das Fernrohr und das Lehrbuch habe den Geist dieser restaurierenden Nachromantik bestimmt. Es war eine historische »Perspektive«.

Im Dome selber fand man die Beispiele der unter Ludwig wiedererweckten Glasmalereikunst. Warum ist die nachgeahmte Glasmalerei des neunzehnten Jahrhunderts in diesen Anfängen falsch und eigensinnig und hat doch wiederum eine praktische Treuherzigkeit des Kompromisses, die unsere spätere, viel gerissener mit den Gefühlen umgehende Glasfensterkunst nicht besitzt? Die älteren Kompromisse sind dick und ölfarbig genug; aber die Ahnungslosigkeit vor den glaskünstlerischen Gesetzen scheint oft günstiger zu sein als eine Kenntnis, die mehr dem Mißbrauch als dem Geiste dient. Das Glas ist ein Element wie Licht und Wasser, und dieses naturelementliche Gefühl mit seiner schöpfungsnahen Frische ist nun allerdings diesem Restaurationssinn nicht gegeben gewesen. Diese Frische oder ihre schmuckhafte Größe liegt im Verhältnis der Bewegung, der organischen Gelenke zum Lichte. Hier aber ist die Zeichnung ein bloßes Raumverhältnis in einem schwärzlich-grauen Stilneutrum. Nichts bricht durch und die Tiefe des Fensters ist nur eine flache Aufsicht; das Licht hat nicht primär damit zu tun.

Es mag allmählich die Zeit kommen, daß man diese Restaurationsromantik tiefer betrachten lernt. Diese Domausbauten, die man scheel anzusehen gewohnt ist, und dieses Material, das in Archiven und Dombauhütten der großen Dome lagert, kann lehrreich sein für die künstlerische Erkenntnis, die in der jeweiligen Zeitkunst auch den religiösen und nationalen Ausdruck zu erkennen trachtet. Noch sind wir heute nicht so weit. Sowohl der Warenbegriff der freien Kunst als auch der bloße technischgeistige Begriff der gebundenen Kunst muß dazu wieder das Bedürfnis nach dem höheren Dritten gewonnen haben, das im großen geschichtlichen Ausdruck liegt.

[Regensburg, Dom, südliches Querfenster]

[Regensburg, Dom, Glasfenster]

Gespräche

Wenn die Kunst der Ausdruck des Zeitgeistes ist, dann haben wir heute keine große Geschichte. Denn die Kunst hat heute durchschnittlich wenig genug von einem großen, geschichtlich erspürbaren, gesellschaftlich reifen Geiste in sich. Am Rhein sucht ein junger Kreis Bewegung in die neuzeitliche Volksbildungsarbeit auch im religiös-geschichtlichen Geiste zu bringen. Eines der Themen dieses Jahres hieß »Stadtgestaltung und Erwachsenenbildung«. Regensburg nun ist eine solche Stadt, in welcher dieses Thema in seinen stärksten Herkünften erlebbar wird. In Sankt Emmeram und in der Schottenkirche, in den Krypten, vor den Grabmälern und Skulpturen, vor den romanischen Malereien in der Allerheiligenkapelle, in der Magdalenen-Kapelle und in Prüfening können sich die Gespräche immer wieder erheben nach der Frage, warum diese alte Kunst durch Jahrhunderte so natursinnig und doch ganz und gar gesellschaftlich ist. Prüfening ist ein Kleinod für das lyrische Kreaturgefühl in der romanischen Malerei und dabei gehen die Inhalte der Wandmalereien von der »Himmelsburg« bis zur päpstlichen Zeitpolitik. Oder man betrachtet eine steinerne Maske an einem Altar, oder ein romanisches Tierköpfchen an einem Portal oder diese ganze Schöpfung von Tieren und Pflanzen, die wie eine zweite Welt im Alltag dieser Stadt nicht schlummert, sondern geistig dauert, wartet, einem geringeren Geschlecht ins Angesicht blickt. Die Gespräche gehen zwischen den Dingen hin, noch ungewiß; denn das Auge muß immer noch mehr begreifen lernen. Aber eines scheint gewiß: wenn diese Dinge so groß und unerreicht sind, dann liegt unsere Zukunft in unserer Vergangenheit.

In der Dombauhütte, deren Leiter Bauamtmann Zahn auch an dem Regensburger Werk durch seine Grabungsarbeiten nach dem alten romanischen Dome beteiligt ist und der so zur Arbeit an der Gegenwart auch Verdienste an der Geschichte fügt, geht das Gespräch naturgemäß auf die Praxis der Restaurierungs- und Konservierungsfragen. Die Versuche zur Erhaltung des Steines gehen neben den Gedanken zur Erneuerung der Formen. Worauf man vielleicht zunächst hinauskommt, ist dies, daß die Fragen der Restaurierung durchaus nicht zu jedem Zeitalter gleichstehen. Schon in der äußeren Entwicklung ist das sichtbar, indem die Restaurationsromantik ihre gotisierende Arbeit noch in einem sehr renaissancistischen Sinne getrieben hat. Sowohl wir selber sind stilistisch in Bewegung wie auch das Begreifen der alten Stile. Wir sind sicher durch die neue Kunst dem kreatürlicheren Geist des früheren Mittelalters näher gekommen. Aber daß unsere technische Empfindsamkeit, mit welcher wir die alten kirchlichen Bauformen in Raumschablonen imitieren, so viel reifer sei als die ornamentierte Restaurationsgotik, das dürfte eine kurze Einbildung sein. Man könnte fast sagen: die Wiederaufnahme des Alten kann gar nicht groß genug sein; aber freilich, es gehören nicht Lehrbücher dazu, sondern starke Naturen.

Wenn man dann am Dom vorbeigehend wieder eine einfache Holzpforte ansieht und erkennt die rhythmische Sinnhaftigkeit von Beschlägen und Nagelköpfchen darauf, dann kommt wieder die ganze Spanne ins Bewußtsein, die uns von einer großen weltanschauungshaften Gesellschaftskunst, von einer geistigen Dombauhütte trennt.

[Regensburg, St. Emmeram, Kreuzgangportal]

[Regensburg, St. Emmeram, Kreuzgang]

Regensburger Astrolabium

Eine ungeheure steinerne Braue, so hat die römische Porta praetoria in Regensburg seit dem zweiten und dritten Jahrhundert nach Christus gegen die Donau und in den germanischen Norden geblickt. Ihr steinverhangenes Auge hat bestanden, als von den Karolingern die europäischen Reiche in die Sichtbarkeit gehoben waren und Ludwig der Deutsche hier seine Residenz gewählt und das Ostreich verankert hatte. Und heute noch liegt diese Steinbraue eines einzigen Auges, eben dieses Tores, blinder zwar, aber unverrückt, aus ihren zyklopischen Quadern gefügt und in ihrer gekeilten Rundung sich selber tragend, nach dem Norden zu. Blinder zwar und toter ist dieses Torauge geworden, in seinem noch tiefer gewesenen Fundamente verschüttet von dem geschichtlichen Schutt vieler Jahrhunderte und in dem Sinne seiner Richtung getötet, während sich mit anderen Formen in der Romanik und Gotik ein anderes geistigeres Sehen innerhalb der heranwachsenden deutschen Reichsstadt selber durch das Mittelalter hindurch erhoben und entzündet hat. Aber immer noch besteht dieses gewaltig umrissene Steintor, um so erschütternder, je wortloser und steinerner sein Zeugnis gefügt ist: »Tantae molis erat...«, aus solchen Lasten sind Geschlechter, Länder und Städte gegründet worden. Ein anderes Bild: der Anblick des Rathauses, in der verwinkelten Stärke gotischen Platzgefühles. Zwei steinerne Geharnischte »Schutz und Trutz«, Brustfiguren mit Köpfen, Schultern und Armen, mit Rüstung und Waffen blicken im Torgewände rechts und links der Kreuzblume herab; Gestalten von jener anschaulichen Deutlichkeit, wie sie das spätere Mittelalter schuf, indem es alles auf das Charakterhafte in Kraft und Zier hinauskommen ließ. Eine wahrhafte Welt, wie sie ein neues Bürgertum entwickelt hat, die nicht so sehr nach außen blickt als nach innen, die nicht nach Gewalt kämpft, sondern nach Recht, nach Schutz und Trutz, und dieses in einem noch viel heftigeren Maße tun kann, als wenn es nach der bloßen Gewalt geht. Es ist ein skulpturales bürgerliches Charakterbild des größeren deutschen Schicksals an diesem Regensburger Rathaus; hier besonders schön am Orte. Die Stadt hat sich schon ständisch geteilt, eine große fürstliche Periode ist schon lange vergangen, die geistliche und die bürgerliche Kraft arbeiten gegen- und miteinander. Es kommt dann auch die Zeit, wo in diesem schönen Rathaus der Reichstag mit den geistlichen und weltlichen Fürsten tagte, bis er mit der Auflösung des Reichs vor mehr als hundert Jahren erlosch. Es ist Schicksal gewesen in Regensburgs Mauern. Der immerfort fließende Sinn der Geschichte mischt sich zusammen wie Wasser und Wein und der schöne gotische Erker am Reichssaalbau ist wie ein Römerglas zum Trinken.

Ein dritter Anblick, der in dieser Stadt zu finden ist und der uns wie ein Symbol des Mittelalters und darum gerade auch dieser Stadt anspricht. Es ist das Astrolabium, aus dem romanischen Sankt Emmeram in das Ulrichsmuseum versetzt, die skulptural stille und geistige Schönheit einer geknieten Figur auf einer gezierten Säule; ein astronomisches Gerät, das seine Bedeutung zugleich in einer Figur versammelt. Es ist das Symbol des Mittelalters, das die Gestirne wie Turmspitzen herabzog und die Kuppel des Himmels wie lauter gekreuzte Wölbungen über sich setzte. Es hat den unendlichen Himmel durch Vielfältigkeit erobert und sich selbst wie eine dazwischen in aller Offenheit aufgehobene Figur empfunden. Die Pfeiler seines Sinnes haben sich wie große Schritte auf der Erde fortgesetzt. Diese Figur hat die unnachahmliche Zwischenhaltung zwischen der Naturschönheit eines Körpers und einem geometrischen Gestänge. Diese gekniete, in das Rund der Hintergrundscheibe geschmiegte Bewegung, die sich zugleich forschend richtet und demütig faltet, hat etwas, wobei alles überflüssige Gefühl wegbleibt; sie ist zugleich reine Aktion und reine Kontemplation. Sie ist Vorbild für die Gänge, die man in dieser Stadt des Vormittelalters und des Mittelalters unermüdlich gehen kann, mit der Freude an der Unerschöpflichkeit der Funde, die sie aus unserer geistlichen und weltlichen Geschichte gewährt, und mit der Resignation, die doch gerade in der Betrachtung der großen deutschen Vergangenheit an diesem Orte liegt. Denn Regensburg ist nicht nur wie sonst eine schöne alte Stadt; Regensburg ist Schicksal.

Oft geht man in dieser Stadt auf Inschriften, auf Figuren, auf Grundrissen, gewesenen oder noch vorhandenen, im Museum, in Kirchen und auf Plätzen. Man geht auf den blindgewordenen Gesichtern der Geschichte. Der Bezirk der castra regina ist voll von einem steinernen Leben, das sich immer wieder vernichtet hat. Der heutige Moltkeplatz, wie auch andere Plätze, ist keine Platzanlage von repräsentativer Planung, sondern ist der mit Blumen geschmückte und zu einem Zentrum gemachte Platz einer Vernichtung. Wie mittelalterliche Figuren durch Anund Ausbrüche zu Fragmenten werden, so haben solche Plätze etwas von der anbrüchigen, fragmentarischen Schönheit des Mittelalters. Formen und Gänge leiten noch wie Stege und Sinnesadern davon weiter. Da ist der mächtige Römerturm, die komplexive Schönheit der Alten Kapelle, ein wenig weiter in der Ecke die Erhardskrypta und davor mitten im Gäßchen der geschlossene Steinkörper des Erhardsbrunnens, alles um den Platz, auf dem man steht und der auf seinen Fundamenten und in seinem nächsten Umkreis das Römerkastell, die Agilolfingerburg, die Pfalz der Karolinger und die spätere Residenz der Herzöge getragen hat. Man hat dann in gedrängter Nähe die massig vornehme Erscheinung von Sankt Ulrich, den alles beherrschenden Dom, die Turmpaarigkeit von Niedermünster, die hohe und scharfe gotische Schönheit der Minoritenkirche. Man hat um sich Kapellen, welche Reste sind, welche sich im Gang der Geschichte im Volke verloren haben und zu Schenken geworden sind, welche blinde gekuppelte Fenster und Bogen in den heutigen nüchternen Tag noch herausweisen. Hier sind Kreuzgänge, welche sich eingeschachtet und abgesondert haben oder welche ihre steinernen Bogenformen ergraut und ungesehen über profanes Leben schicken. Und von hier nach Westen setzen sich hinaus über das Viereck des Römerlagers die Kirchen und die Kapellen fort, die Klöster und die Geschlechtertürme, über Sankt Emmeram und die Dominikanerkirche, über die Arnulfpfalz zu der Jakobskirche der Schottenmönche und zu Sankt Leonhard. Ein Segment des Mittelalters, so liegt der Kern dieser Stadt heute noch am Bette und Laufe der Donau und darüber ist der Zug der Steinernen Brücke seit der romanischen Zeit nach Norden geschlagen, immer wieder mächtiger im Anblick, als man ihn im Gedächtnis behalten hat.

Das Schicksal des Ostreiches und des Deutschtums hatte in dieser Stadt einmal Fuß gefaßt; Kaiser und Heilige sind hier gewesen wie nur irgendwo; in ihren Sternen war ein größeres Schicksal geschrieben, als sich hernach erfüllen konnte. Man geht in Regensburg über die Gesichte der Geschichte; man ist in diesen Mauern aber auch heute noch gefangen zwischen den Bildern der Geschichte und der größeren Vergangenheit, die einen nachdenklichen Deutschen nicht verlassen wollen. Wenn man einmal das Anbrüchige bemerkt hat, die Fragmentformen eines größeren Schicksals, diese Begegnung zwischen einem größeren geistigen Formplane und einem nachfolgenden geringeren Sein, das doch dem Großen eine volkhafte Treue gehalten hat, so kommt man aus dem Gedanken nicht mehr los, daß hier ein Herzkern herausgebrochen ist. Noch lebt die geistliche Kraft fort, aber die weltliche Kraft ist wie so oft im deutschen Wesen gebrochen worden. Dieses Gefühl gehört geradezu zum Bilde unseres Mittelalters und in Regensburg ist Bild und Gefühl am großen Beispiel charakteristisch.

Regensburg ist eine unerschöpfliche Stadt. Wie überall, wo das Volk stärker ist als die Repräsentation, muß man den Zugang zum inneren Wesen immer wieder tiefer gewinnen. So ist es auch mit der Unzahl seiner architektonischen Formen, seiner romanischen und gotischen Skulpturen, seiner romanischen Wandmalerei. Zwar ist es so reich an großen und seltenen Denkmälern, daß auch der flüchtige Besucher mehr findet, als er nach dem Durchschnitt der Städte erwarten kann, daß er sich, kaum angekommen, in dem unaufhörlichen Bannkreis der alten Zeiten auf eine gegenwärtigste Weise festgehalten findet. Aber darüber hinaus will diese Stadt eine Wallfahrt sein für den ernsten Besucher. Ihr Reichtum, der sich schichtweise aufgebaut hat, will schichtweise erworben sein. Schichtung der Zeit und eines in sich fortwachsenden Volkstums ist es, was sich aus dem Bezirk des römischen Lageroblongums hinausträgt, diese am Festen herangewachsene, heute noch ganz unverlorene Wohnform statt der ästhetischen Freizügigkeit. Wie es sich im Horizontalen dehnt, so wächst es durch das Mauergefühl vermehrt im Vertikalen; mit den Kirchtürmen wachsen die Wehrtürme, und wie oft haben sie eine Kapelle unter sich hineingebaut, alles in der Vielzahl, die nicht Gleichheit, sondern eine trotzige Eigenheit ist. Schichtung ist es, wenn sich über dem Schutt des Vergangenen die vormittelalterliche zellenhafte Welt erhebt und dann mit dem Dome gegen Himmel steigt; Schichtung, wenn der gotische Dom aus dem Kreuzgang mit seiner regelschönen Allerheiligenkapelle auf eine höhere Erdschwelle steigt. Bauzeitschichtungen verewigen sich an Türmen; sie verwandeln die herrlichen Räume der Alten Kapelle und von Obermünster bis zum Rokoko und lassen doch die großen geistigen Grund- und Aufrisse lichthaft weiterbestehen. Und so durch die ganze Stadt. Krypten ältester und romanischer Art, so in Sankt Emmeram, setzten sich fort in große Kirchenkörper, in Erdgeschosse und künstlerisch ausgestattete Turmgeschosse. Steinfarben bekleiden alle Zeiten, Steinhorste setzen sich überall als Krönungen über die Silhouetten der Stadt. Steinerne Scheitel übergreifen in Kirchenschiffen, in Kreuzgängen, überall wieder den Sinn des Gehenden und zwingen ihn aus den hohen Blicken wieder zu sich zurück. Nischen umgeben ihn wie in der uralten kleinen Stephanskirche oder in der Vorhalle von Sankt Emmeram und konfrontieren die Gedanken an antike Raumformen am stärksten mit dem funktionellen Werden des christlich-deutschen Raumausdrucks. Ein früher christlicher Zentralbausinn ist aufgestellt und wird überwogen durch die kleinen und großen Längen und Ostungen, welche mit vielen Kirchenschiffen hier längs der Donau aufgerichtet sind. Es ist ein siderisches Planen und Bauen auf die Erde gesetzt, ein geistiges Astrolabium, dessen Gänge, Wendungen und Wiederkehren man fast taumelnd verfolgt. Schon allein dies ist, wer den Sinn dafür hat, ein großes Erlebnis in dieser Stadt.

Als ob ein Schwärm von Tauben, aus dem weiten Himmelsraume herzugeflogen, sich auf dem römischen Bezirke und auf die umgebende Feldung niedergelassen hätte, so ist Kirche an Kirche, Kapelle an Kapelle, Stift und Kloster entstanden. Alle diese Bauten haben sich geschmückt, mit der hieratischen Weihe ihrer Kanten und Bögen, mit der hohen Strenge ihrer Streben, mit Giebeln, Fialen und Wimpergen, mit Portalzieren wie der Dom, mit Steinfiguren in unzähliger Verschiedenheit und mit farbigen Bildern von der Innigkeit eines teppichgleichen Lebens. Nach dem illustrativen Überschwang der Roritzerschen Spätgotik, nach all den Eindrücken dieser Stadt als eines großen Lapidariums ist das berühmte Schottenportal immer wieder das Schlußerlebnis. Man kommt nach der vornehmen Holdheit vom Grabmal der Hemma, der Aurelia aus Sankt Emmeram, immer wieder zu diesen Urkräften des Steines und des Geistes zurück. Hier sind die Steine lebendig geworden, mit jenem Sinne der Aktivität, welcher dem Rohen und der Maser des Steines immer näher ist als der rationalen Form, und welcher der figürlichen Kreatur um so mehr ein Plus geben kann, je mehr das ganze Feld der Bildung ein Gesetz und Gesicht geistiger Schnitte ist. Diese Gesichte einer inneren Kosmogonie sind zugleich immer in der Form schon, durch die Schärfe der Schaukraft, in welche sie gesetzt sind, wie Weltgerichte. Aber dann kehrt man wieder zurück zu jenen noch reineren Formen dreier romanischer Figuren in der Vorhalle von Sankt Emmeram, wo sie über dem Eingange stehen. Man ist immer wieder betroffen von ihrer zunächst erscheinenden Kleinheit, die eine Grundform wie große Steinkörner oder wie Vogelleiber hat, bis sie dann im Anblick zu wachsen beginnen und eine Proportion von Naturstärke aus sich erwecken, mit welcher das ganze Geheimnis der mittelalterlichen Kunstsinne aus dem schlummernden Steine erwacht. Man macht wieder die Gänge von Niedermünster zum Dom, zur Neupfarrkirche, wo die Gotik sich bricht, bis zur Jakobskirche, und hier, in diesem schönsten Innern eines erhaltenen Kirchenraumes, erlebt sich dann nochmals ganz figurlos das Gefühl eines Geistes, der ebenso schwer in Steinen niedergesetzt und verortet ist, wie er im hohen, schachtartig geweiteten Raume schwebt. Es ist ein ähnlicher Sinn des gewissen Lagerns nach unten und des Sinnens nach oben, wie er in der geknieten Figur des Astrolabiums figürliche Gestalt geworden ist. Für die farbige frühmittelalterliche Schönheit muß man aber noch Prüfening hinzunehmen.

Den Eindruck des geistlichen Regensburg von heute ließ ein Sonntagsgang in den Dom verstärken, in welchem gerade die lange und feierliche Priesterweihe stattfand. Es war ein eigentümlich unvergeßliches Bild, der weite, aufgepfeilerte, von Gängen und Fensterzonen umgebene Domraum, der eine große Gemeinschaft ausdrückt, gefüllt mit Menschen; im Chor in queren Reihen die weißgekleideten jungen Männer vor rotschimmernden Tücherwänden und vor dem lichterspendenden Altare, dies alles zusammengehalten unter der Bucht der Chorwände, deren Fenster in dreimal drei großen Reihen bis in die dunkelnden Zwickel hinauf ihr unzähliges Farbenlicht zu einem leisen Goldtone gesammelt darüberhielten. Von Zeit zu Zeit erhoben sich mit dem tieferen Chore der Sänger die Knabenstimmen, mit jener unvermischten Reinheit der Stimmen, welche aus sich allein wirkt und wie ohne Resonanz ist und welche auch keine Begleitung von Instrumenten braucht. Andere Kirchenräume konnten in diesen heißen Tagen des beginnenden Sommers unvergeßlich werden durch den schweren Lilienduft, der sie immer wieder erfüllte, so in Niedermünster mit der ritterlichen Weihe seiner Grabgedächtnisse, so in Sankt Leonhard, dessen hohe und gedrungene Räumigkeit von betenden Nonnenstimmen gleichmäßig durchschallt war. Gesänge und Stimmen gehören ebenso wie die Stille in den Raumgeist dieser Stadt, welche immer wieder von den melodischen Folgen von Glockentönen und Geläute überflogen wird.

Wenn man dann wieder an die Donau kommt, die hier ein Strom in Steinen ist, dann erscheint alles wie eine andere Wirklichkeit; als ob dieser Strom und diese Stadt zwei verschiedene Wirklichkeiten seien, die sich nur dadurch berühren, daß jede ihrem eigenen Gesetze und ihrer eigenen Richtung folgen kann. Beide vereinigen sich aber zu einer sonderbaren Größe. Und in einem natürlichen Wandelgange sieht man Menschenzeilen bildhaft über die lange und steigende Bahn der Steinernen Brücke gehen, während eine silbern-blaue weite Himmelskuppel mit den Wolkenbildern Albrecht Altdorfers das Nahe und das Ferne ohne Beschränkung einfaßt. Man fühlt die Weite Deutschlands in der mit dem Strome ziehenden Ahnung des Ostens.

[Regensburg, Altes Rathaus, Portal]

[Regensburg, Astrolabium]