Konrad Weiß: Wanderer in den Zeiten
Inhalt
Deutsche Wanderfahrt nach Urbino
Früher und noch in der letzten Generation war es jedem Deutschen, der zu den Kunststätten Italiens fuhr, gegeben, das Grab Raffaels in Rom zu sehen, wenn er dort das Pantheon aufsuchte. Aber nach Urbino, der Geburtsstätte Raffaels, zu kommen, machte eine besondere Mühe; denn diese Stadt auf den umbrischen Bergen lag nicht an den gewohnten Reisewegen. So wie Nürnberg für die Romantiker wohl mehr eine liebe, altertümlich deutsche Vorstellung gewesen war als ein besuchter Reiseplatz, so blieb Urbino für uns bis in die Gegenwart noch in eine unbekanntere italienische Reiseromantik miteingeschlossen. Heute ist das anders geworden. Nicht nur, daß der Kraftwagen die alten Reisewege außerhalb der großen Verbindungslinien neu geöffnet hat und überall eintrifft, hat das Land an der Adria gerade in den letzten Jahren begonnen, einen großen deutschen Reisestrom an sich zu ziehen. Die Romagna und die Marken mit den Städten von Ravenna über Rimini, Pesaro, Fano, Sinigaglia bis Ancona nach Mittelitalien hinab, dieser im italienischen Mittelalter und in der Frührenaissance blühende und von Herrschern belebte Landstrich der Ebenen zwischen Gebirge und Meer, ist heute weithin von Deutschen besucht und durchwandert. Und von Pesaro, also von der Meeresküste ins westliche Gebirge hinein und auf die Höhe von Urbino, sind es nur gegen vierzig Kilometer. Eine Bahn ist da, und die Kraftwagen fahren Flußtälern entlang zu den kurvigen Straßen und Terrassen hinauf, welche die hohe Stadt umgürteln und welche einen Charakter wie von mächtigen Festungsanlagen dazugeben. So kommt man fast bis zum Geburtshause Raffaels; und noch ein Stück höher steigend in einer schachtartigen, steilen Straße steht man auf einer freien Höhe der Stadt selber und blickt über Täler und Berge des umbrischen Landes.
Soll man es bedauern, daß die stille Bergromantik Urbinos nun für viele zu einer gewohnten Alltäglichkeit werden kann? Nein; denn es bleibt ein Zauber, der unberührbar ist; und dieser Zauber — dies muß den Nachdenkenden immer wieder beschäftigen im Vergleich zwischen der italienischen und der deutschen Schönheit — bleibt auch gerade in seiner lauten Umworbenheit um so geschlossener in sich selber. Die italienische Kunst, und vor allem die Schönheitsform der frühen Renaissance, ist mehr von der Natur abgetrennt als die deutsche Schönheit. Und so scheint sich uns ein erster Unterschied nahezulegen; während die deutsche Schönheitsempfindung verletzt werden kann wie eine Naturempfindung, ist die italienische Schönheit unverletzlich, und wie in einer sonderbaren Feiung. Sie ruht mit eigentümlichen Maßkräften in sich selber; und während wir unser deutsches Wesen des Schönen um so mehr lieben müssen, da es wie durch Verletzung weiter reichen kann und im Gegensatz reicher werden in einer mehr als sinnlichen Schönheit, ist doch das Erlebnis von Urbino vor allem dieses, daß wir teilnehmen können und unser Gefühl mitspielen lassen in einer Waage sinnlich-schöner und mit dem Geiste ruhehaft verbundener Vollkommenheit. Mehr als andere erscheint diese Stadt in sich selber und in ihrer Lage über dem Lande wie ein Sockel einer licht- und ahnbaren schönen Weltkraft.
Schon die Fahrt nach Urbino gehört in das gleiche Erlebnis der Sinne mit einer sich steigernden Folge. Die wachsenden Schaubilder des bebauten Landes, das, in harter Ackerarbeit den stürzenden Hügeln und Hängen bis zu den steilen Berggraten abgerungen, doch um so mehr mit der fast unbegreiflichen Harmonie einer aufgeschlossenen Erde sich dem Auge entgegenwandelt, kräftigen und entzücken den Geist für die kommenden Empfindungen. Das Land beginnt an einem milden Meere, und man sollte also meinen, daß die Maße seiner Größe auch nur in einem milden Wechsel blieben. Dem ist aber nicht so, und wenn auch die wuchtigen Formen nordischer Gegensätze fernbleiben, so ist man doch allsogleich in dem Begriffe des »festen Landes« mit einer zwingenden Sicherheit wie selten. Es ist jene maßvolle Größe, die man in Italien immerfort trifft und die, was uns oft erstaunen macht, in der Natur und ebenso in der Kunst ähnlich vorhanden ist und eine monumentale Wirkung gibt, welche über die tatsächliche Größe und Wirklichkeit hinausgreift. Es ist jenes feste Land, dessen stilvolle Formen und Kurven bis zur pathetischen Schwere in Bildern etwa des Fra Angelico bis zu Michelangelo wiederkehren. Höhen und Senken sind nicht gegeneinander in jenen scharfen Formen eingeschnitten, wodurch der Sinn des Deutschen sich in der eigenen Heimat wie in Schmerz oder doch mit Sehnsucht über die nähere Erde gehoben und ins Ungemessenere getragen fühlt; sondern hier ist Berg und Tal in einer schönen Gemessenheit und wie Last und Freiheit ineinander fortgewogen.
Zuerst ist das Land noch gleichsam wie aus dem Meere gehoben, oder gleich Meerwellen in seinen Hügeln und Hängen gekurvt und gebrochen und dabei von einer sonnigen Trockenheit, die alles noch größer erscheinen läßt. An unsere deutsche Ackererde gewöhnt, erscheinen uns die Schollen hier größer und als ob der fruchtbare Boden aus einer tieferen Erdschicht herausgepflügt wäre. Die Erde ist wie ein fruchtbarer Urstoff, aber vielfältigst eingeteilt und eingefächert von der fleißigen Arbeit und von grünen Zeilen umbuscht folgt dieses wirtbare Land den Bergen und Lehnen bis in die Abstürze; und dies Haften der Arbeit am abweisenden heißen Gelände gibt doch eine sonderbar schöne, fast unmögliche Freiheit des Anblicks. Es ist da kaum so viel Wald, daß er das Land lauschig und verschwiegen macht. Vielmehr sind Ortschaften auf den heißesten Höhen, und die Hügel und Berge sind noch überboten von hellsonnigen Häusern, Kirchen und burgenhaften Architekturen.
Später nehmen in der Ferne mit Bergen und Felsengraten auch die Grenzlinien zu, welche gegen den Himmel schneiden und welche unserem deutschen Gefühle vertrauter sind. Aber immer ist das Land nicht so in Farben gesetzt und ein Bild für die Augen wie die deutsche Landschaft, sondern, wenn man so sagen darf, »getöpfert« aus der Erde und so zugleich mehr plastisch und mehr in den ruhigen Fluchten raumhaften Aufbaues. Darin erscheint nun wie eine in mächtigen Stufungen, Mauerbändern und Absätzen hinaufgeführte Front das Stadtbild von Urbino. Gewaltige Würfel, von einer Kuppel und von Turmspitzen in den Luftraum geleitet, überlagern die Bergscheide; zweiteilig bildet die ganze Stadt eine hohe Waage und beim ersten Anblick hing eben ein stilles Gewitter darüber, ein blaudrohender Wolkenüberhang, aus welchem zu einem großen atmosphärischen Raumbilde ein Bündel von blendenden Strahlen über die helle steinstufige Stadt herabschoß. All das sprang jetzt im Gedenken über die große Lieblichkeit Raffaels hinaus; aber wenn man dann in den Terrassen, auf den Vorsprüngen und den Höhen der Stadt war und das Bergland ringsum bis in das Weichbild herein steigen und fallen sah, wenn man in dieser heftigen und doch körperlich gesicherten Schwebung des Raumes mitlebte, so war dies doch, als ob man ein Erbteil Raffaels von diesem Urbino, die schwebende Körperkraft in manchen seiner Bilder, empfände.
Ob man wohl Urbino als die Stirne von Umbrien bezeichnen dürfte? Denn sein Ruhmesmal ist nicht die Kunst Raffaels, der schon als Knabe, nach dem frühen Tode seiner Mutter Mona Ciarla, welcher wenig später auch der Vater und erste Mallehrer Giovanni Santi nachfolgte, der Heimat entfremdet wurde. Sondern Urbinos Ruhm ist das Werk des Federigo da Montefeltro, Herzogs von Urbino, der hier nach militärischen Kämpfen und Ehren als Stadtkrone seinen Palazzo, einen der schönsten aus der Frührenaissance von Luciano da Laurana erbauen ließ, und wo eine von edlen Künsten aufs reichste belebte Hofhaltung entstand, aus welcher heraus unter der Herrschaft der Nachfolger der Graf Castiglione sein berühmtes Höflingswerk »Il Cortigiano« schrieb. Diese herrliche Palastkrone Urbinos ist zugleich die Stirne der Stadt. Ihre Turmseite, drei mächtige Loggien übereinander, flankiert von Seitentürmen, tritt über großartigen Unterbauungen an der Stadtflanke schwindelnd heraus. Hinter der obersten Loggia ist das Studiolo des Herzogs, und wenn man aus diesem mit den kunstreichsten perspektivischen Intarsien bekleideten, zierlich engen und reichen Studierraum plötzlich heraustritt, hat man auf schwebender Höhe stehend die festen Wogen des Berglandes weithin vor und unter sich. Man taucht wieder zurück in den gewaltigen Kubus des Palastes mit Höfen, Bogenhallen, Reittreppe, mächtigen Sälen, plastisch reichgezierten Portalen, Kaminen, Decken und Friesen; ein Bau, der von den verhaltensten Maßen und einer eigentümlich fest schwebenden Gliederung im Äußeren zum gesammelten Innenreichtum fortschreitet. Hier war also ein berühmter Mittelpunkt südlichen Hoflebens der Renaissance. Man kontrastiert diesen Gedanken gerne mit den steigartigen eingeschachteten steilen Straßen der Terrassenstadt, in welchen heute noch die Büffelgespanne mit ihren spitz und breit ausladenden Hörnern den Vorbeigang hindern. Man denkt an das bergige Bauernland um diesen südlichen Hof und daß, wie uns eben erzählt wurde, es Winter gibt, in welchen der Schnee schon bis zur Hälfte des zwischen Palast und Dom stehenden neueren Raffael-Denkmals hinaufgereicht habe. Und doch zeigt der Umblick mit prächtigen Pappeln im Tale auch die schönen Akkorde der Zypressen auf den Höhen und es ist ein Land, aus dessen Buchten die Sonne oft steinern widerleuchtet.
Das Profil des Renaissancefürsten Federigo (gestorben 1482) beherrscht Urbino; denn auch der für Kunst weniger Geneigte vergißt diese kräftige linke Gesichtshälfte nicht, welche die Künstler allein dargestellt haben, nachdem Federigo im Kampfspiel das rechte Auge und den Ansatz des Nasenbeins verloren hatte. Dies führt uns auf die Pinakothek von Urbino, welche sich in dem Palazzo befindet und nach dem Kriege hervorragend ergänzt wurde. Die Hauptschätze sind außer Plastik der Frührenaissance und Kollektionen von Raffaels Vater Giovanni und von F. Baroccio Bilder von Paolo Uccello mit novellistisch unvergeßlicher Eindringlichkeit und vor allem von Piero della Francesca, von ihm »Madonna mit Kind« und die berühmte »Geißelung«, welche vom Dom herübergegeben wurde. Auf Anordnung von Mussolini hat Urbino auch das »weibliche Bildnis« des Raffael von Florenz her erhalten, das nun seinen Namen vertritt. Hier und noch mehr vielleicht bei Piero ist nun das zweite Haupterlebnis für den Deutschen. Es ist der Zauber eines italienischen Bau- und Formgesetzes, wo alles Figürliche wie in einer schwebenden Waage festgehalten und in festen Räumen gesichert ist, während der Deutsche seine Kunst ins Intimere einbezirkt oder ins Unbegrenztere hinausweitet. In Raffaels zauberhafter Kunst ist diese italienische Harmonie am meisten Wirklichkeit geworden. Seine Jugend, da er mit siebenunddreißig Jahren starb (geboren 1483, gestorben 1520, je an einem Karfreitag, wie wenigstens Vasari mitteilt), ist eine Blüte ohne Elegie geworden, welche immer wieder den Kunstsinn der ganzen Welt bezaubert. Wenn man dann noch das altertümliche Baptisterium S. Giovanni besucht, das noch ein Hauptpunkt von Urbino ist, mit seinen noch gotisch reich entbundenen Wandmalereien von den Brüdern da San Severino, geht der Name Raffaels mit, der in diesem Kirchlein getauft wurde und diese Bilder noch gesehen hat.
Die Natur habe Raffael sterben lassen, um nicht von ihm besiegt zu werden, heißt es ungefähr in seiner römischen Grabschrift. Was ist die Natur? Und was ist die Natur des Deutschen, daß sie immer wieder mit der italienischen Schönheit weiterringt?
[Urbino, Herzoglicher Palast]
[Urbino, Herzoglicher Palast, Studiolo]
Wie denkt man an Ravenna zurück; und wie ist das Gefühl des nachgebliebenen Glückes, das man vielleicht von keiner anderen Stadt einmalig und gleich einem schönen Lebensdatum mitnehmen darf wie von dieser? Wenn Glück wie das Leben selber stets mehr eine Weggenommenheit ist, als daß man es besitzt, und wenn die frühen christlichen Orte und ihre Bilder eine solche Art von Glück sind, weil sie wie aus dem menschlichen Raum in eine reinere Geschichte weggenommen sind — daher ihre zwischen Tod und Leben um so stiller leuchtende Stärke —, dann ist mit diesem Zwiespalt des Gefühls Ravenna gekennzeichnet und seine alte christliche Schönheit, die in der Erinnerung nachbleibt.
Ravenna hat heute eine rein geschichtshafte Stille und ist doch gegenwärtig wie der nie verblichene Tag einer alten großen Erzählung. Die Erzählung steht an den Wänden in musivischen Bildern, welche wie ein Gemüt sind, das starr geworden und in glanzhaften Erstarrungen, beschrieben von größten Schicksalszeiten, einem ewigen Anblick nicht mehr ausweichen kann. Es ist die erste große, unausweichliche Geschichte der Kirche, welche, wie erste Gesetze vorhanden und Schiff über Schiff gehoben, die geheiligten großen Hausformen der alten Basilika hier in ihre Richtung gestellt hat. Ziegelgebaute Türme stehen neben ihnen als lotrechte hohe Mauerzylinder, welche in solcher überklarer Rundung neben den in die Länge beschlossenen Bauten gewissermaßen keinen angegliederten Ort, aber um so mehr nach überall Umblick haben. Denn solche wie mit Reifen gefaßten Türme sind wie lebloser als andere und wie bloße Behälter des Endlichen und scheinen doch neben der zweckvolleren Schärfe von Firsten und Giebeln, Kanten und Kuben zu leuchten. Noch andere Bauwerke sind selber solche um sich kreisende Gebilde, sinnhafter nach außen im Vieleck oder in der Kreuzform auf die Erde geheftet, die aber mit ihren inneren Zirkeln groß oder wuchtend den größeren Himmel abdrängen, um ihn mit einem triumphalen oder schweren Geiste in ihre Kuppeln und Schalen hineinzuziehen und zu bergen.
Solcher Art ein geschichtliches Stilleben, solch eine geformte Ausschließlichkeit von Bauten wie von Kristallen einer bewegten Geschichte ist Ravenna. Die Sonne steht über der Ebene der Stadt und die Ebene ist wie eine schweigende Ebbe, weggebrandet von den in der Luft und Hitze ziegelhaft zerbrechlichen und doch mit der ersten Schärfe unversehrbar gezeichneten Grundzeugen einer geistigen Planhaftigkeit, um welche die kleine Stadt geschart ist und von welchen auch einzelne außer ihr stehen. Der Himmel aber fällt über das flache, strandhafte Land und über den dunkleren Hintergrund der Pineta und über das Meer, das manchmal die blaue italienische Himmelskuppel silberner und schweigender werden läßt über der alten langen Geschichte. Der Orient hat hier dem Okzident lange Zeit die Hand gereicht.
Hier also ist Ravenna; und während bald anderthalb Jahrtausenden ist hier der geschichtliche Estrich des alten Christentums um etwas in den Boden gesunken. Aber er ist heute begehbar wie einst, als das Christentum nicht mehr vergraben war in den Katakomben, sondern begonnen hatte, den Boden der Erde zu pflügen und einen neuen Estrich der Geschichte zu bilden. Dieser Estrich ist in Ravenna heute noch offen und nur als ein etwas tieferer Spiegel (man denkt dabei an unser altes Regensburg) in die Erde gebettet. Es gehört hier zu dem besonderen Gefühl eines Gehenden, daß er den Horizont und die im Zeitlaufe langsam vom Meer abgerückte Ebene um sich weiß, indem sein Fuß in die heiligen Bezirke und auf den Estrich der Geschichte tritt. Kaum irgendwo ist der Besuch der Kirchen und Denkmale so, als ob der brennende Dornbusch Gottes in dem vom Lichte aufgesogenen bäuerlichen Lande wäre und mit den Augen mitginge und immer wieder einen heiligen Ort anzeigte. Die italienische Erde, die nicht idyllisch, sondern auch im kleinen groß geraten ist, gehört zu diesem Bilde, und es gehört dazu, daß auch heute noch mit den Schiffen die blaue Adria als ein anderer Himmelsblick bis in den Hafen der Stadt hereinfließt. Es gehört auch dazu, daß der Alltag und die Natur so fremd und nah zugleich zusammenliegt mit der großen Geschichte und den Stätten der Weihe, wie dies gerade in Italien ist, eines vom anderen gewissermaßen nichts fordernd und um so deutlicher mit seinen Grenzen aneinander gerückt. Hier sind die kleinen Schächte der Straßen, die sich mit ihren gleichsinnigen Hausfluchten leicht, Bezirk an Bezirk sich schließend, in die größer gewinkelten Plätze aufsperren, wie ruhige Führer des Gehenden, dessen Sinn in der glücklichen Waage eines halben Vergessens ausruht, bis wieder eines der großen Zeichen der Vergangenheit an ihn kommt. Viele solche Zeichen sind hier in nahen Abständen, und in Ravenna ist die Geschichte wie ein größeres Aufwachen aus der bloßen Gegenwart.
Die Geschichte ist das wachere Leben und sie ist wie ein anderer jenseitigerer Tag. Die Renaissance, die das Humane wieder auf eine gloriose Weise in einen vollkommeneren irdischen Tag gestellt hat, mußte dabei jenen anderen geschichtlicheren Sinn und Tag verlassen, den unser Mittelalter hatte. Und dieser Tag, der unser Mittelalter noch füllte, ist in Ravenna in seinem großen frühchristlichen Aufgang aus dem Osten. Die christliche Sonne gab der Menschheit neue Farben. Die Schatten der Menschen, welche im alten Hades dunkel in Bewegung blieben, haben im Christentum ein unverlierbares Blut getrunken. Die alte Menschheit und die neue germanische Welt haben sich darin im Kampfe erkannt und neue Formen und Sinnbilder gefunden, welche fern vom blassen, vernünftigen Tage einen neuen inneren Plan von geschichtlicher Bestimmung ausfertigen. Der neue christliche Tag hat eine herrlichere innere Ausrüstung als das alte vernünftige Licht der Menschen.
Das alte Rom, der Osten und die Goten sind auf dem Estrich von Ravenna zusammengekommen. Mit Honorius sind die letzten römischen Kaiser teilweise in der brandenden Völkerwanderung hier ihrem Ende entgegengefallen. Die kaiserliche Schwester Galla Placidia, die Vielgereiste und Vielgeprüfte, hat hier mit einem schon ganz aus dem Römischen ins Christliche übergegangenen Kunstsinne ihr eigenes Grab geschmückt. Der Germanenführer Odoaker, der mit dem letzten Namen Romulus Augustulus die weströmische Kaiserreihe ausstrich, ist hier gewaltsam gestorben; und der große Ostgotenkönig Dietrich von Bern hat mit seinem germanischen Grabmal hier das lastendste Gewicht in den italienischen Boden eingesetzt. Justinian und Theodora, das kaiserliche Paar von Byzanz, steht mit seinem Gefolge in den weltberühmten, in einem eigentümlichen Gegensatz von vitaler Weltlichkeit und sakraler Größe wirksamen Mosaiken des Chores von San Vitale. Deutsche Kaiser am Anfang des Mittelalters pflegten diese Stadt noch zu besuchen. Und in ihrer Mitte steht, umgeben von Sarkophagen, an deren steinernen Gehäusen Ravenna so reich ist, das Grabmahl des Dante. Als Verbannter hat der große Dichter hier seine Zuflucht gehabt am Hofe des Guido da Polenta, des Vaters jener Francesca da Rimini, deren Schicksal mit Paolo Malatesta er in seiner großen Dichtung dem leidenschaftlichen Schmerze der Gedächtnisse überliefert hat. Dante ist der Geist, in welchem das bildhafte Dasein des früheren Ravenna mit einer merkwürdigen Fügung eine dichterfigürliche, wesenhafte Fortsetzung im Mittelalter bekommen hat. Das Drama der Geschichte mündet noch mehr, als daß es davon ausgeht, in die große Elegie des persönlichen Daseins. Wir stellen uns Dante vor mit der Pineta... die Mitte des Weges und den Wald des Lebens.
Aber der eigentliche innere Sinn von Ravenna mag sich einem fühlenden Betrachter in jenen gegensätzlichen zwei Gestalten verkörpern, die ihre Grabmäler ähnlich und doch ganz verschieden in Ravenna erstellt haben, in der edlen Römerin Galla Placidia und in dem Ostgotenkönig Theoderich. Der Grabraum der Römerin, kreuzförmig und innen voll eines musivisch glühenden, aber wieder in edler Bekennerschönheit gedämpften Feuers, der Grabraum des Goten, zwei kahle Geschosse, in einem unverrückbaren steinernen Rundwerk, mit dem Anker des Kreuzes in seinem Innern hingesetzt; das sind wohl zwei Seelen der neuen Christenheit, die, ob vielleicht feindlich und verschieden, doch an einem einigen Zeichen ausharren. Eine solche stumme Sprache ist immer wieder die Eigenheit Ravennas. Sie spricht aus den großen berühmten Basiliken, in denen die zweifachen Folgen der selbstherrlichen Säulen eingefangen sind in den mauerhaften Zwang und hierarchisch gerichteten Zusammenschluß der neuen Christengemeinschaft. Und dies wird die neue Grunddisposition der Geschichte. Aber noch näher aus dem Stadtbilde kommen zu uns diese Gestalten der Frau und des Mannes, in denen sich, nur um eine Generation getrennt, die Gesichter zweier entscheidender Völker unter dem gleichen Zeichen gegeneinander kehren. So gewissermaßen rückblickend tritt die Römerin aus der Pforte der Geschichte, während der Germane eintritt.
Unvergeßlich ist der Vormittag eines stillfeierlichen Herbstsonntags, wenn man, da die Fremden schon spärlich geworden, in den heute museal betreuten mächtigen Kuppelraum von San Vitale kommt. Es ist eine zeitgenössische Schwester des architektonischen Wunderwerks der Hagia Sophia von Konstantinopel. Man kommt durch eine schöne Renaissance-Loggia in einen abgezirkten Platz, Sarkophage sind im Freien, altchristliche steinerne Reste und Denkmale in Gängen und Museumsräumen; dann steht man vor San Vitale und wenige Schritte über einen Rasenweg davon weg ist auch das Mausoleum der Galla Placidia zu erblicken. Man geht ein wenig tiefer und betritt durch den großen altchristlichen Quervorraum den Raumumlauf der Kuppelkirche, der durch ein großes offenes Nischenspiel der Säulen mit dem Zentralraum zusammenläuft. Eine exklusive Kraft von Nischen und Kreisen wendet diesen Raum wie eine stete Himmelspforte in sich selber um; und nur der kurze Chor nach Osten gibt einen unrückbaren Halt und Hebel. In diesem Chor sind mit anderem die berühmten Mosaiken des Justinian und der Theodora sowie das große Apsismosaik des zwischen Gestalten thronenden Christus. Man verdeutlicht sich, indem man diese Werke betrachtet, daß nichts Geschichtliches so vorbildlich ist, daß es nicht sein eigenes Problem noch in sich behielte; daß hier mit einer unglaublichen künstlerischen Stärke von Zahl und Geometrie in den Figuren und Stellungen doch etwa eine naturalistische Eigenwilligkeit nicht immer die Sprache gestattet, die manchen romanischen Schöpfungen später gelingt; daß hier das Hieratische in einem schweren Zeitkampfe sich heraldisch teilt und bindet. Die letztliche Zergliederung und Neubildung im musivischen Werk ist hier nicht nur Mittel, sondern selber ein symbolisches Gesetz der Geschichte.
Vor diesen Bildwerken, vor den architektonischen Fügungen dieses zweizonigen Baues, in Betrachtung der ravennatischen Kapitäle, deren positive Verknotung gebrochen und in Gefäße und sonderbare pflanzliche Anschaulichkeit verwandelt ist, gibt es Augenblicke, wo man das Bewußtsein des Daseins vergißt. Die wenigen anschauenden Besucher gehen wie wesenlos herum und alles ist in die schweigende Größe gezogen, bis man etwa auf einmal ein kleines Italienermädchen erblickt, das mit seinem einfachen Vater hereingekommen ist. Während der Italiener, der seine kurze Pfeife hat ausgehen lassen, den Aufseher grüßt, ist das kleine Mädchen plötzlich von selber hingekniet. Die kleine Kniende auf dem weiten steinernen Boden ist in diesem Augenblick das Lebendigste unter den Wölbungen und in dem fast düsteren, doch unbleichbaren Glänze dieses alten großen Ortes.
Zu der großen Basilika Sant'Apollinare in Classe muß man hinausfahren. Der Kutscher hat für seinen starken Rappen einige Zuckerrüben als Futter mitgenommen. Man sieht das heiße Herbstland und wie die büffelartigen Gespanne der Bauern mit der Zuckerrübenernte zur Verfrachtung fahren. Classe, die von Augustus gegründete Hafenstadt, hat heute neben einem kleinen Bahnhof nur noch die Kirche. Diese ist der Inbegriff eines großen basilikalen Hauses. Die Säulen tragen ihre Archivolte unter dem offenen Sparrendach wie geometrische Wellen nach Osten. Aus der Apsis leuchtet musivisch das Kreuz über dem Symbol der Herde. Wie oft und mit welch ankerhafter Schwere ist Ravenna durch die Kreuzform gezeichnet! In der andern Basilika, Sant'Apollinare Nuovo, wieder in der Stadt, deren Bau der Arianer Theoderich als Hofkirche für sich begonnen hatte, sind an den Hochwänden beiderseits die berühmten Mosaikfriese, die in manchem kartonhaft, in der ganzen Anlage mächtig zum Chore verlaufen. Wie Raum und Fläche, Front und Richtung in großen Formen sich her- und abwenden und, was sich repräsentativ zeigen will, zugleich dann wieder heftiger dienen muß, das ist hier das künstlerische Erlebnis.
Die beiden alten Taufkirchen Ravennas, das Baptisterium der Orthodoxen, dessen Kuppel mit den Mosaiken von Figuren und Bildern voll von einer altchristlichen Fürstlichkeit ist, und das Baptisterium der Arianer mit einer sozusagen protestantischeren Kargheit der musivischen und anderen Ausstattung sind noch zwei Hauptwerke auf dem altchristlichen Boden, zu denen dann noch Kirchen von italienisch mittelalterlichem Gepräge kommen. An der Stelle einer weiteren alten Basilika steht heute der große Dom von Ravenna in einem starren Barock. Vieles einzelne wäre noch zu nennen in dieser Stadt, die in ihrem eigenen Gedächtnisse mit der natürlichen Sicherheit des italienischen Daseins ruht. Zu den profanen Werken gehört noch, während andere Kaiserpaläste verschwunden sind, die große Ruine des sogenannten Theoderich-Palastes, ein großes Architekturfragment an einer Hauptstraße der Stadt. Auf dem Hauptplatze Ravennas stehen Säulen eingebaut, die ravennatische Kapitäle haben mit dem Namenszug Theoderichs. Auf diesem architektonisch hoch eingefaßten Platze sieht man auch die Namen der im Weltkrieg Gefallenen von Ravenna auf Steintafeln an die Wand geschrieben. Ein frischer Kranz war dabei, der ihnen gewidmet war von Teilnehmern an dem dritten internationalen Kongreß für christliche Archäologie, der soeben in Ravenna getagt hatte.
Das Wesentliche von Ravenna ist, wie die bloß positive Existenz und Aktivität des antiken Sinnes in das christliche Vorgebot einer größeren Sichtform umschlägt, das heißt auch, wie die bloß positive Lebensform gewissermaßen innerlich aufgeschnitten wird, um der größeren Geschichte Raum zu geben. Hier ließe sich eine Metaphysik der Kunst und der Geschichte anknüpfen. Noch mehr als das ewige Rom ist Ravenna in seiner strengen Bezirkung für den formenlesenden Sinn der Schrein einer neuen Weltzeit.
[Ravenna, Sant'Apollinare in Classe]
[Ravenna, Sant'Apollinare in Classe]
[Ravenna, San Vitale, Kuppelraum mit Chornische]
[Ravenna, San Vitale, Kaiserin Theodora mit Gefolge]
Wo sich Bauernfelder mit kleinen Anwesen am Rande der Stadt mischen und wo das alte venezianische Bollwerk der Rocca di Brancaleone in die Trümmer seiner Ziegelbestandteile zurückfällt, hebt sich die staubige Straße mittels einer höheren Brücke über die Eisenbahn. Jenseits nach links und wie zufällig geht ein abbiegender Weg zu Theoderichs Grabmal, und schon von hier aus wird man des flach überkuppelten runden Steinwerkes zwischen unscheinbaren Gärtchen plötzlich ansichtig. Mitinnen steht es ziemlich vertieft und ragt doch herauf und bietet einen verschlossenen Anblick; nämlich mit einer zeitfernen Helle unter dem blauen, von weißen Wölkchen marmorierten Himmel, weil es ganz aus gequaderten Steinen besteht und deshalb kälter ist und nicht mit der altertümlich nahen Gelassenheit der anderen ruhmreichen ziegelfarbigen Bauwerke Ravennas in der heißen Luft wetteifert. Die eigentümlichen henkelartigen Aufsätze, die das Kuppelhaupt umkränzen, vollenden den steinern geschlossenen Eindruck, indem sie ihn zugleich lastend verschärfen und kronenhaft erleichtern. Es befällt den Kommenden eine sonderbare und ungewisse Stimmung. Hier wartet eine fremde Größe; aber noch ist sie stumm und wie von ihrer steinernen Stummheit verschlungen.
Man macht sich wohl zunächst auf dem Wege, ehe noch die ganze Schwere der Erscheinung zu wirken beginnt, spielendere Gedanken. Man denkt vielleicht sogar, indem man das Steinhaupt zwischen Baumgrün erhoben sieht, hier sei mit drohender Ruhe in der Kuppe verborgen die Form der germanischen Sturmhaube, das stumme und knapp gewappnete Haupt der Pflicht, das mit einer soldatischen Unabwendbarkeit voranschreitet. Und dann vergleicht man wieder zu einem romantischeren und zierlicheren Gegensatz das wartende Bild mit einem Ritterhelm, um dessen Kopf ein Krönlein gelegt ist. So spielt man näherkommend mit der ziehenden Luft der Zeiten und mit leichteren Vergleichen, bis man dies germanische Totenmal erreicht hat. Dann aber steht man davor; man sieht, wie sein Untergeschoß, von einem schweren Bogenreigen umgeben, in der Zeit tiefer gesunken ist, wie in eine Grube, und daß trotzdem sein Obergeschoß, zu dessen Umgang Treppen hinaufgeschwibbt sind, hochragt wie ein Gewicht, und daß die ganze schwere Form ist wie ein Magnetberg, welcher jetzt in seinen Bann zieht. Und hier ist dann für die Gedanken nichts mehr zu spielen. Denn dieses germanische Mal ist eine Last, die auf ein Kreuz gelegt ist, eines mit dem andern im Grundriß, im Raum und Dasein auf Erden verklammert, wovon nichts mehr spielend frei wird. Hier ist ein Rassenschicksal verankert und verkettet.
Dietrich von Bern oder Verona hat sich in Raben oder Ravenna sein Totenmal bereitet. Hier hat der Fürst der Ostgoten, der mächtige Held der Geschichte und noch mächtigere der Sage, seinen Fuß in die Grube gesetzt und sich wie im freien Kampffelde eine germanische Grabkammer gerüstet. Man weiß nicht, hat man sich das Mal größer vorgestellt oder spricht nicht, so wie es unverbunden und doch wie ein Gefangener in der geringen Umgebung steht, alsbald die schlichte, steinerne Stärke seines in zwei Baugürteln mit einem Umgang außen um die Mitte übereinander gesetzten Anblicks um so größer, weil sie eine Ausbeutung nach den Begriffen von klassischen Größen abwehrt, während sie in sich gestellt und begriffen ist wie ein steinerner Glaube und zugleich wie mit der »Ohnmacht« einer Festung. Mit diesem Zwiespalt der empfindenden Sinne, mit den Worten »Ohnmacht« und »Festung« sagt man es zu sich selber, weil dieser Bau, rund und kantig in sich beschlossen, doch nicht wie ein bloßes Ganzes ist von Größe und schöner Endlichkeit, sondern weil er noch wie ein weiterer und schwererer Teil und eine in sich befestigte Last ist, hängend aber im Unendlichen. Ein Leben ist hier in sein Ziel gegangen, in einem Grabraum, der wie eine Kasematte unter der Wölbung einer einzigen steinernen Panzerkuppel ist und welcher selber wieder über einem Raume liegt, dessen vier gedrungene Arme ein eingefangenes Kreuz sind.
Denn hier denkt man nicht an den üblichen Sinn von Grundriß, sondern man steht mit in dem Banne, in welchem sich das Zeichen des Raumes und das Material des Steines verklammert halten; in dieser germanischen Sinnhaftigkeit, welche nicht aufhört mit dem ausgeglichenen schönen Objekte antiker Anschauung, sondern welche sich stärker auseinandersetzt und in der inneren Aus- und Gegenwirkung sowohl das Material wichtiger und deutlicher macht als auch die Transzendenz des Zeichens über die bloße räumliche Grundform hinausträgt. Diese Verklammerung ist in dem Grabmal des Theoderich. Und mit diesem Sinn und Ende ist der Bau wie eine letzte Bestimmung und eine Festung, welche zuletzt keine andere Macht mehr hat als eine solche des Widerstandes. Ist es nicht darin wie ein letzter Schritt von Hilflosigkeit im fremden Lande, und der doch mit um so mehr Mächtigkeit geschehen ist? Die neue christlich-germanische Welt hat sich daran im Vor- und Gegenprall gebildet. Aber das große Ostgotengeschlecht hat sich noch mehr als andere in seinem Vordrang furchtbar verzehrt. Theoderich, der große Schützer der Arianer und ebenso des römischen Christentums, war zuletzt eine von Zwiespalten politisch-religiöser Art umdrängte Gestalt, welche neue Umklammerungen in einer einsameren, tragisch gewordenen Position fühlen mußte. Und als der mächtige Tote im Jahre 526 in seine Grabkammer gebettet war, hatte das Jahrhundert kaum noch Zeit, seine erste Hälfte vollends zu überschreiten, dann war der Untergang der Ostgoten, der schon mit Theoderichs Tochter Amalaswintha begonnen hatte, bis zur Auslöschung des Stammes gediehen. Es gehört zum germanischen Wesen, daß es transzendentere Zeichen auf die Erde schreibt als andere Völker, während es mehr als andere dabei untergeht.
Im Innern der oberen runden Grabkammer steht man unter der flachen Wölbung der Steinkuppel. Der ganze düster steinerne Raum, aus welchem der Leichnam des toten Helden schon früh im Kampf der Bekenntnisse weggekommen ist, hat ringsum keinen farbigen Schmuck und nur über dem Haupte sieht man hineingemalt in die Kuppelschale ein großes rötliches Kreuz. Es sitzt angesaugt unter dem Steine. So unvermittelt und als bloßes Zeichen in seiner Farbe gegen Raum und Rundung gewinnt es wie aus einem schwächeren Dasein um so mehr jenseitige Kraft. Es ist hingeschrieben als die epische Signatur einer Weltwende; und indem man hier oben steht und es bedenkend weiß, daß der andere Raum, den man unter den Füßen hat, in seinem ganzen Grundriß ein großes Raumkreuz ist und also wie die gekreuzte Form einer vierarmigen Lücke unter der oberen Runde, fühlt man diesen Raumbau gleichsam fußlos und entkernt, das Untere vom Oberen blind getrennt und doch zusammengefaßt und alles Feste wie in einer Erschütterung. Dies ist kein Raumbegriff von einer schönen und sicheren Bleibe; er hat keine in klassischer Stummheit ausruhende Optik und Rhetorik; er ist noch stummer, aber wie ein Haus des Rechts gespannt durch ein inneres unsagbares Wort, und dieses Wort ist eingeschlossen in einem Übermaß von Wucht. Es ist das unsagbare Wort des Christentums, das seinen rätselhaften Gang der geschichtlichen Schicksale mittels der Völker angetreten hat.
Die ganze Kuppel ist ein einziger Stein, an dessen Seite man einen Sprung sieht. Die Sage berichtet, dem Theoderich sei geweissagt worden, daß ein Blitz ihn töten werde. Er habe sich in sein Grabmal geflüchtet, und der Blitz, der ihn traf, habe auch die Kuppel durchgespalten. Trotz des Sprunges, der in einer Segmentrichtung an der Seite der gewölbten Schale verläuft, ruht die Kuppel heute noch über dem mörtellosen Steingefüge des Baues so schweigend und beschlossen wie am ersten Tage. Es pflegt betont zu werden, daß gerade dieser einzige, zur Kuppel behauene und gehöhlte Monolith, welcher ein Gewicht von etwa sechstausend Zentnern hat, eine Eigentümlichkeit germanischen Wesens sei. Er erinnert an die Art der germanischen Gräber unter Steinen; und man sagt, daß auch die Düsterkeit eines Felsen- oder Höhlengefühls in dem Grabmal ausgeprägt sei. Dies letztere wird man jedoch nur mit Einschränkung gelten lassen. Es ist vielmehr doch auch gerade so, daß das ganze Denkmal durch eine starke »Geometrie«, durch eine »Technik« exklusiver Kanten und Zirkel von einer bloßen naturalen und unbestimmten Gemütswirkung weggelöst ist und gerade dadurch gegenüber dem Naturgemüt in eine scharfe geschichtliche Sinnfälligkeit gesetzt wird; eine Sinnfälligkeit, wie sie gerade die germanische und deutsche Kunst dann weiter auszubauen hatte.
Man hat die besonderen germanischen Merkmale an Theoderichs Grabmal herauszuheben versucht. Dabei spielt das um den Kuppelrand laufende nordische Zangen- und Spiralen-Ornament eine deutlichste Rolle. Man wird aber wie von Naturstimmungen, so auch von Einzelmerkmalen aufs Ganze weitergehen und, so schwer dies im Formulieren ist, einen größeren germanischen Formsinn erkennen müssen, der mehr »abstrakt« gegenüber dem optischen Wohllaut der Antike, doch in anderer Weise eine neue Konkretheit und Zeichenhaftigkeit erreicht. Der ganze Form- und Raumsinn wird ein anderer. Zu fühlen ist es beispielsweise am stärksten in der Einheit des Aufbaus vom Zehneck zur Kreisform, welche Einheit zugleich den stärksten Gegensatz in sich enthält. Denn aus der Schärfe der Kanten, welche den Bau einschließen und exklusiv machen, hebt sich die obere Runde nicht mit einem bloßen optischen Wohllaut, sondern es entsteht — was weniger und mehr ist als dies — um so stärker das Gefühl eines kronenhaften, königlichen Reifens. Das heißt, daß der Bau gewissermaßen vom bloßen schönen Raumsinn etwas wegtut, um dafür einen weiteren Sinnesertrag zu gewinnen. Dies scheint aber ein ursprünglicher und wesentlicher germanischer Sinn zu sein, wie es dann auch eine Wesenheit der frühchristlichen und mittelalterlichen Kunst wurde.
An solchen fühlbaren Gedanken bleibt unser Sinn am meisten haften. Hier fühlt man Bindung und Trennung der germanischen Sinnesform von der römischen. Und wenn wir nun wieder das ganze Grabmal des Theoderich wie ein Symbol betrachten, so ist seine Last wie eine sprengende Wucht, drohend zugleich und wie von sich selber verloren; aber um die Lücke des Kreuzes in seinem Grundkerne ist es wie ein Siegel zusammengehalten. Und wenn Friedrich Hebbel das große Drama der Nibelungen mit den Worten Dietrichs von Bern beschließt: »Im Namen dessen, der am Kreuz erblich!«, so hat man davon hier in Ravenna eine noch größere Anschauung. Selten, daß man beim Besuche eines Denkmalwerkes die Kunst zugleich so sehr als Schicksal sieht; und man beeilt sich, wenn man das zweitemal kommt, gewissermaßen nicht, sondern man hält sich mit Nebendingen auf, um nicht dem blinden Schicksal — denn dieses Denkmal hat außen mit seinen Bogen und dem von Lünetten oder Mondscheiben besetzten Mauerlauf des oberen Gürtels etwas Blindes — alsobald wieder ins Angesicht sehen zu müssen. Hier will Neugier nicht wachsen, sondern sich dämpfen. Man sieht die Äcker an, die in der Nähe am Wege sind, und sieht, daß in Beeten geordnet das Gemüse darauf wächst oder daß es Äcker sind mit der tiefen grünen Farbe des Klees. Es ist wie zu Hause im deutschen Lande. Dann ist das steinerne Rundwerk wieder da, zu dessen unterem Eingang ein gegen die gestiegene Höhe der Erde vertiefter Weg an einer Seite hineinführt. Nun fängt die Schicksalsform wieder an zu sprechen, und Einzelnes, wie etwa die hakenförmige Verzahnung der Scheitel- und Bogensteine, die wie ein Blitzeszeichen ist, kann auch wie ein Blitz ins Gemüt fallen. Nun ist auch ein Gewitter am Himmel und es tröpfelt warm und leise in die Äcker.
Aber wir stellen uns vor, wie Theoderich in seiner Zeit sein Grabmal einsam und erhaben außer der Stadt Ravenna, die er mit Kirchen schmückte, auf das offene Land gestellt hat. Da stand das wuchtige nordische Steinwerk in jener Zeit noch angesichts des südlichen Meeres und war still und mächtig unter der Heiterkeit des Himmels.
[Ravenna, Grabmal der Galla Placidia]
[Ravenna, Grabmal des Theuderich]