Kennedy ist landarzt, und lebt in Colebrook, an der küste der Eastbay. Die hochebene, die hinter den roten dächern der kleinen stadt schroff sich hebt, drängt die malerische High Street gegen den wall‚ der sie vor der see abschirmt. Jenseits des deichs streckt sich meilenweit in gleichmäßigem bogen der öde kiesstrand, mit dem dorf Brenzett dunkel sich gegen das wasser abzeichnend, einem kirchturm in einer baumgruppe; und noch weiter weg markiert die senkrechte säule eines leuchtturms, der in der ferne nicht größer als ein bleistift aussieht, den punkt, wo das land sich verliert. Das land im rücken von Brenzett ist niedrig und flach; aber die bucht ist einigermaßen vor der see geschützt, und gelegentlich macht ein schiff, vom wind genötigt oder von schwerem wetter, gebrauch von dem ankerplatz anderthalb meilen genau nördlich von dir, wenn du vor der hintertür des Ship Inn von Brenzett stehst. Eine verfallene windmühle in der nähe, die ihre zerbrochenen arme auf einem hügel reckt, der nicht höher als ein müllhaufen ist, und ein Martello-turm, hart am wasser hockend, eine halbe meile südlich der hütten der küstenwache, sind den kleinen schiffern vertraut. Dies sind die offiziellen seezeichen für das stück sicheren fahrwassers, das auf den marinekarten durch ein unregelmäßiges oval von punkten wiedergegeben wird, das verschiedene sechsen umschließt, mit einem winzigen anker dazwischen eingraviert, und der aufschrift "schlamm und muscheln" drüberhin.
Der rand des hochlands überragt den eckigen kirchturm von Colebrook. Der abhang ist grün und von einer weißen straße beschlungen. Diese straße hochsteigend öffnet sich dir ein breites, flaches tal, eine weite grüne mulde aus wiesen und hecken, die landeinwärts in ein panorama von purpurtönen und fließenden linien taucht, die den blick schließen.
In diesem tal bis Brenzett und Colebrook hinunter und Darnford hinauf, der marktstadt vierzehn meilen entfernt, praktiziert mein freund Kennedy. Er hatte seine laufbahn als chirurg bei der marine begonnen, und war danach begleiter eines berühmten reisenden, in den tagen, als es kontinente mit unerforschtem innern gab. Seine schriften über deren fauna und flora machten ihn in wissenschaftlichen kreisen bekannt. Und jetzt war er zu einer landpraxis gekommen — freiwillig. Die durchdringende schärfe seines geistes, wie ein zersetzendes mittel wirkend, hatte seinen ehrgeiz zerstört, denke ich mir. Seine intelligenz ist von der wissenschaftlichen art, zum forschen angelegt, und von jener unersättlichen neugier, die glaubt, daß ein kern allgemeiner wahrheit in jedem rätsel steckt.
Vor einer ganzen reihe von jahren, bei meiner rückkehr aus dem ausland, lud er mich zu sich ein. Ich kam bereitwillig genug, und da er seine patienten nicht vernachlässigen konnte, um mir gesellschaft zu leisten, nahm er mich mit auf seine runden — manchmal dreißig meilen oder so an einem nachmittag. Ich wartete auf der straße auf ihn; das pferd schnappte nach belaubten zweigen, und hoch auf dem wagen sitzend konnte ich durch die halboffene tür irgendeiner hütte Kennedys lachen hören. Er hatte ein lautes, herzliches lachen, das zu einem mann doppelt so groß wie ihm gepaßt hätte, eine lebhafte art, ein gebräuntes gesicht, und ein paar graue, tief aufmerksame augen. Er hatte die gabe, die leute zum reden zu bringen, und eine unerschöpfliche geduld ihren geschichten zuzuhören.
Eines tages, als wir aus einem großen dorf auf ein schattiges stück straße trabten, sah ich linker hand einen niedrigen, schwarzen kotten mit rautenförmigen scheiben in den fenstern, überwachsener frontwand und ein paar rosen an dem wackligen spalier, das die winzige pforte einrahmte. Kennedy ließ das pferd schritt gehn. Eine frau war, im vollen sonnenlicht, damit beschäftigt ein tropfnasses hemd über eine leine zu werfen, die zwischen zwei alten apfelbäumen gespannt war. Und da der stummelschwänzige, langhalsige braune seinen kopf durchzusetzen versuchte und mit dem linken vorderfuß ausschlug, den ein dicker hundsleder-schuh bedeckte, rief der doktor über die hecke: »Wie gehts deinem kind, Amy?«
Ich hatte zeit ihr stumpfes gesicht zu sehn, rot, nicht wie leicht überhaucht, sondern als ob ihre flachen wangen heftig geschlagen worden wären, und ihre untersetzte gestalt wahrzunehmen, das spärliche, staubige braune haar, das am hinterkopf zu einem festen knoten gebunden war. Sie sah recht jung aus. Ihre stimme, mit einem deutlichen atemstocken, klang leise und ängstlich.
»Gut, danke.«
Wir trabten wieder. »Eine junge patientin von dir«, sagte ich; und der doktor, geistesabwesend dem braunen einen klaps versetzend, murmelte: »Ihr mann wars«
»Sie scheint ein stumpfes geschöpf zu sein«, bemerkte ich teilnahmslos.
»Genau«, sagte Kennedy. »Sie ist sehr passiv. Es genügt, die roten hände anzuschaun, die an den kurzen armen hängen, die trägen, vorstehenden braunen augen, um ihre geistige dumpfheit zu erkennen — eine dumpfheit die, sollte man meinen, sie vor allen überraschungen der einbildungskraft für immer sicherte. Und doch, wer von uns ist sicher? so wie du sie siehst, hatte sie jedenfalls genug einbildungskraft sich zu verlieben. Sie ist die tochter eines Isaac Foster, der vom kleinbauern zum schafhirten abgestiegen ist; sein mißgeschick fing an, als er mit der köchin seines verwitweten vaters durchbrannte und sie heiratete — eines wohlhabenden, apoplektischen Viehzüchters, der aufgebracht seinen namen aus seinem testament strich, und drohungen gegen sein leben hören ließ. Aber diese alte affäre, skandalös genug um als motiv für eine griechische tragödie zu dienen, erwuchs aus der ähnlichkeit ihrer charaktere. Es gibt andre tragödien, weniger skandalös und von feinerem stachel, die aus unvereinbaren unterschieden und der furcht vor dem Unbegreiflichen erwachsen, das über unser aller haupt hängt — über unser aller haupt...«
Der ermüdete braune fiel in schritt; und der rand der sonne, ganz rot in einem reinen himmel, berührte vertraulich die glatte kuppe einer gepflügten bodenwelle nahe der straße, wie ich sie unzählige male auf see die ferne kimm hatte berühren sehn. Die eintönige bräune des geeggten feldes glühte rosig, als ob die bestaubten schollen in winzigen perlen aus blut die fron ungezählter pflüger ausgeschwitzt hätten. Vom rand eines dickichts rollte ein lastkarren mit zwei pferden sanft den kamm entlang. Über unseren köpfen am horizont ragte er in die rote sonne, überwältigend groß, enorm, wie ein streitwagen von giganten den zwei langsam schreitende rosse von sagenhaften ausmaßen zogen. Und die plumpe gestalt des manns, der neben dem leitpferd herstapfte, hob sich von der unendlichkeit des hintergrundes mit heroischer ungeschlachtheit ab. Das ende seiner fuhrmannspeitsche bebte hoch oben im blauen. Kennedy fuhr fort.
»Sie ist die älteste einer großen familie. Mit fünfzehn gaben sie sie auf der New Barns Farm in dienst. Ich behandelte Mrs. Smith, die frau des pächters, und sah das mädchen dort zum ersten mal. Mrs. Smith, eine vornehme dame mit scharfer nase, ließ sie jeden nachmittag ein schwarzes kleid anziehn. Ich weiß nicht was mich bewog sie überhaupt wahrzunehmen. Es gibt gesichter die durch einen seltsamen mangel an bestimmtheit in ihrer gesamten erscheinung die aufmerksamkeit hervorrufen, wie man im nebel gehend aufmerksam auf einen vagen umriß starrt, der am ende vielleicht nichts ungewöhnlicheres oder seltsameres ist als ein wegweiser. Die einzige besonderheit die ich an ihr bemerkte war ein leichtes stocken in ihrer aussprache, eine art einleitendes stottern, das mit dem ersten wort vergeht. Wenn man sie anfuhr konnte es geschehen, daß sie sofort den kopf verlor; aber sie hatte ein grundgutes herz. Niemand hatte sie je eine abneigung gegen einen einzigen menschen äußern hören, und sie war lieb zu jedem lebenden wesen. Sie hing an Mrs. Smith, Mr. Smith, ihren hunden, katzen, kanarienvögeln; und was Mrs. Smiths grauen papagei betrifft, so übten seine eigenheiten eine positive faszination auf sie aus. Nichtsdestoweniger rannte sie, als dieser exotische vogel, von der katze angegriffen, in menschlichen lauten um hilfe schrie, auf den hof und hielt sich die ohren zu, und verhinderte das verbrechen nicht. Für Mrs. Smith war das ein weiterer beweis ihrer dummheit; andererseits war ihr mangel an Charme, in hinsicht auf Smiths wohlbekannte leichtlebigkeit, ein bedeutender vorzug. Ihre kurzsichtigen augen schwammen vor mitleid, wenn sie eine maus in der falle sah, und einmal war sie von einigen jungen beobachtet worden, wie sie ins gras kniete und einer kröte aus ihrer not half. Wenn es wahr ist, was irgendein deutscher gesagt hat, daß es ohne phosphor keine gedanken gibt, dann ist es noch wahrer, daß es keine herzensgüte ohne ein gewisses maß von einbildungskraft gibt. Sie hatte welche. Sie hatte sogar mehr als nötig ist, um leiden zu verstehen und mitleid zu fühlen. Sie verliebte sich unter umständen, die keinen zweifel daran zulassen; denn du brauchst einbildungskraft, um überhaupt eine vorstellung von schönheit zu fassen, und noch mehr um dein ideal in einer ungewohnten gestalt zu entdecken.
Wie sie zu dieser fähigkeit kam, wovon sie sich nährte, ist ein undurchdringliches geheimnis. Sie war im dorf geboren, und nie weiter von ihm weg gewesen als bis Colebrook oder vielleicht Darnford. Sie lebte vier jahre bei den Smiths. New Barns ist ein einzeln stehendes gehöft eine meile von der straße entfernt, und sie war zufrieden, tag für tag die gleichen felder, senken, anhöhen anzuschauen; die bäume und hecken; die gesichter der vier leute auf der farm, immer dieselben — tag für tag, monat für monat, jahr für jahr. Sie zeigte niemals das bedürfnis zu reden, und wußte nicht, wie mir schien, wie man lächelt. Manchmal an schönen sonntagnachmittagen zog sie ihr bestes kleid an, ein paar feste stiefel, einen breiten grauen hut mit einer feder geschmückt (ich habe sie in diesem aufzug gesehen), nahm einen absurd dünnen sonnenschirm, kletterte über zwei zauntritte, stampfte über drei felder und zweihundert yard die straße entlang — nie weiter. Da stand Fosters hütte. Sie half dann ihrer mutter, den jüngeren kindern den tee zu reichen, das geschirr zu spülen, küßte die kleinen und ging zur farm zurück. Das war alles. Alle ruhe, alle abwechslung, alle entspannung. Sie schien niemals mehr zu wünschen. Und dann verliebte sie sich. Sie verliebte sich still, eigensinnig — vielleicht hilflos. Es kam langsam, aber als es kam wirkte es wie ein mächtiger zauber; es war liebe wie die alten sie auffaßten: ein unwiderstehlicher und schicksalhafter zwang – eine besessenheit! Ja, es lag in ihr verfolgt zu werden, besessen zu sein von einem gesicht, einer anwesenheit, schicksalhaft, als sei sie eine heidnische anbeterin der form unter einem freudigen himmel — und schließlich geweckt zu werden von dieser geheimnisvollen selbstvergessenheit, von dieser verzauberung, dieser verzückung, durch eine angst, die dem unerklärlichen erschrecken eines viehs glich...«
Die sonne die tief am westlichen himmelsrand hing, verlieh dem ausgedehnten grasland, das die böschungen des ansteigenden geländes einfaßten, ein prächtiges und düsteres aussehen. Ein gefühl durchdringender traurigkeit, wie der, die eine ernste musik hervorruft, ging vom schweigen der felder aus. Die männer, die wir trafen, gingen vorbei, langsam, ohne zu lächeln, mit gesenkten lidern, als ob die melancholie einer überbürdeten erde ihre füße beschwert, ihre schultern gebeugt, ihre blicke nach unten gerichtet hätte.
»Ja«, sagte der doktor auf meine bemerkung, »Man möchte glauben ein fluch liege auf der erde, da von all ihren kindern diese, die am festesten an ihr haften, ungeschlachten körpers sind und ihr gang so bleiern ist, als ob ihre herzen selber mit ketten beladen wären. Doch hier auf dieser selben straße hättest du zwischen diesen massigen männern ein wesen sehen können, gelenkig, wendig und langgliedrig, grade wie eine pinie, mit etwas aufstrebendem in seiner erscheinung, als ob das herz in ihm schwimme. Vielleicht war es nur die gewalt des gegensatzes, aber wenn er an einem dieser dörfler hier vorbeiging, schienen mir seine fußsohlen den staub der straße nicht zu berühren. Er sprang über die zauntritte, nahm diese hänge mit langen federnden schritten, die ihn aus großer entfernung erkennbar machten, und hatte schwarzglänzende augen. Er war so verschieden von dem menschenschlag hier, daß er mich durch die freiheit seiner bewegungen, seinen sanften, ein wenig erschreckten blick, seinen olivfarbenen teint und seine anmutige haltung an ein geschöpf der wälder erinnerte. Er kam von dort.«
Der doktor wies mit seiner peitsche, und von der kuppe des abhangs erschien, jenseits der wogenden baumwipfel in einem park an der seite der straße, tief unter uns die ruhige see, wie der boden eines ungeheuren gebäudes, eingelegt mit dunklen wellenbändern, mit still glitzernden streifen, die in einem gürtel glasigen wassers am fuß des himmels endeten. Die leichten rauchschleier eines unsichtbaren dampfers vergingen vor der großen klarheit des horizonts wie der atemdunst auf einem spiegel; und näher am strand kamen die weißen segel eines küstenschiffs, als lösten sie sich langsam aus den zweigen, unter dem laub der bäume hervor.
»In der bucht gescheitert?« fragte ich.
»Ja; er war schiffbrüchiger. Ein armer auswanderer aus zentraleuropa unterwegs nach Amerika und bei einem sturm hier an land gespült. Und für ihn, der nichts von der welt wußte, war England ein unentdecktes land. Es dauerte einige zeit bis er seinen namen lernte; und soweit ich weiß mag er erwartet haben hier wilde tiere oder wilde männer zu finden, als er im dunkeln über den deich kroch und auf der andern seite in einen graben rollte, wo es ein zweites wunder war daß er nicht darin ertrank. Aber er kämpfte instinktiv wie ein tier unter einem netz, und dieser blinde kampf warf ihn auf ein feld hinaus. Er muß tatsächlich zäher gewesen sein, als er aussah, um solche schläge, seine gewaltigen anstrengungen und so viel angst zu überstehn, ohne zugrunde zu gehn. Später erzählte er mir selbst in seinem gebrochenen Englisch, das auf seltsame weise der sprache eines kleinen kindes glich, daß er sein vertrauen in Gott setzte, im glauben, nicht länger auf dieser welt zu sein, und wahrlich — fügte er hinzu — wie sollte er das wissen? er erkämpfte auf allen vieren seinen weg gegen den regen und den sturm, und kroch schließlich unter ein paar schafe, die sich im windschatten einer hecke aneinander gedrängt hatten. Sie rannten in alle richtungen davon, in der dunkelheit blökend, und er begrüßte die ersten vertrauten laute, die er an diesem gestade hörte. Es mußte da zwei uhr morgens gewesen sein. Und das ist alles was wir von der art seiner landung wissen, obwohl er keineswegs unbegleitet ankam. Nur begann seine greuliche gesellschaft erst viel später am tag an land zu kommen...«
Der doktor nahm die zügel zusammen, schnalzte mit der zunge; wir trabten den hügel hinab. Dann bogen wir unvermittelt um eine scharfe ecke in die High Street, rasselten über die steine und waren daheim.
Spätabends kam Kennedy, eine niedergeschlagenheit überwindend, die ihn befallen hatte, auf die geschichte zurück. Seine pfeife rauchend, durchmaß er den langen raum von einem ende zum andern. Eine leselampe versammelte all ihr licht auf die papiere auf seinem pult; und am offenen fenster sitzend sah ich nach dem windstillen, sengenden tag den kalten glanz einer diesigen see reglos unter dem mond daliegen. Kein wispern, kein plätschern, kein knirschen des kieses, kein fußtritt, kein seufzer kamen von da unten herauf — kein lebenszeichen als der duft kletternden jasmins: und Kennedys stimme, hinter mir, zog durch das breite fenster, um draußen in der kühlen und prunkenden stille zu verhallen.
»...die berichte von schiffbrüchen in alten zeiten erzählen uns von großem leiden. Oft wurden die gescheiterten nur vorm ertrinken gerettet um an einer öden küste elendig zu verhungern; andre erlitten einen gewaltsamen tod oder aber sklaverei und machten jahre einer unsicheren existenz durch, unter leuten, denen ihre fremdheit objekt des verdachts, der abneigung oder der angst war. Wir lesen von diesen dingen, und sie sind sehr erbärmlich. Es ist tatsächlich hart für einen mann, sich als verlorenen fremdling, hilflos, unverständlich und von geheimnisvoller herkunft, in irgendeinem obskuren winkel der erde zu finden. Doch unter all den abenteurern, die in wilden weltteilen schiffbruch erlitten, gibt es nicht einen, scheint mir, der je ein so völlig tragisches schicksal zu leiden hatte wie der mann, von dem ich rede, der unschuldigste der abenteurer, von der see in dieser bucht ausgeworfen, fast in sichtweite dieses fensters hier.
Er wußte nicht den namen seines schiffes. Tatsächlich entdeckten wir im lauf der zeit, daß er nicht einmal wußte, daß schiffe namen haben — „wie Christenmenschen“; und als er eines tages von der höhe des Galfourd-hügels das meer erblickte, wie es offen dalag, schweiften seine augen ins weite, verloren, mit einem ausdruck wilden erstaunens, als hätte er solch einen anblick nie zuvor gesehen. Und wahrscheinlich hatte er nicht. Soviel ich herausbekommen konnte, war er zusammen mit vielen andern an der Elbemündung in ein auswandererschiff gepfercht worden, zu verwirrt um von seiner umgebung notiz zu nehmen, zu müde irgendetwas zu sehn, zu verängstigt sich gedanken zu machen. Sie wurden nach unten ins zwischendeck getrieben und von anfang an eingeschlossen. Es war ein niedriger lattenverhau — wie er sagte — mit hölzernen balken an der decke, wie die häuser in seiner heimat, aber hinein ging man eine leiter hinunter. Er war sehr geräumig, sehr kalt, feucht, und düster, mit gelassen nach der art von hölzernen fächern, in denen die leute einer über dem andern schlafen mußten, und er hörte die ganze zeit nicht auf in alle richtungen gleichzeitig zu schwanken. Er kroch in eins dieser fächer und legte sich dort in den kleidern hin, in denen er sein heim viele tage zuvor verlassen hatte; sein bündel und seinen stock hielt er an seiner seite. Leute stöhnten, kinder weinten, wasser tropfte, und alles wurde so durchgeschüttelt daß man in seinem schmalen fach nicht den kopf zu heben wagte. Er hatte den kontakt zu seinem einzigen gefährten verloren (einem jungen mann aus dem selben tal, sagte er), und die ganze zeit machte draußen der wind großen lärm und schwere schläge fielen — bum! Bum! Eine entsetzliche übelkeit überkam ihn, die ihn sogar seine gebete vernachlässigen ließ. Außerdem konnte man nicht sagen ob es morgen oder abend war. Es schien an dem ort immer nacht zu sein.
Davor war er lange, lange zeit mit der eisenbahn gereist. Er schaute aus dem fenster, das ein wunderbar klares glas hatte, und die bäume, die häuser, die felder, und die langen straßen schienen immer um ihn im kreis herum zu fliegen bis sein kopf schwamm. Er gab mir zu verstehen daß er auf seiner fahrt unzählige mengen von menschen gesehen hatte — ganze völker — alle in solche kleider gekleidet wie sie die reichen tragen. Einmal ließ man ihn aus dem wagen aussteigen, und er schlief eine nacht lang auf einer bank in einem ziegelhaus mit seinem bündel unter dem kopf; und einmal mußte er viele stunden auf einem flachen steinboden sitzen, dösend, mit hochgezogenen knien und seinem bündel zwischen den füßen. Ein dach war über ihm, das aus glas zu sein schien und so hoch war, daß die größte berg-fichte die er je gesehen hatte unter ihm raum zum wachsen gehabt hätte. Dampfmaschinen rollten an einem ende herein und am andern hinaus. Leute schwärmten, mehr als man an einem festtag rund um das wundertätige Heilige Bild im hof des Karmeliterkonvents sehen kann, unten in der ebene, wohin er, bevor er sein heim verließ, seine mutter in einem hölzernen karren fuhr — eine fromme alte frau, die für seine sicherheit gebete darbringen und ein gelübde ablegen wollte. Er konnte mir kein bild machen wie geräumig und hoch und voll lärm und rauch und dunkel und eisenrasseln der platz war, aber jemand hatte ihm gesagt, daß er Berlin hieß. Dann ertönte eine glocke, und eine andere dampfmaschine kam herein, und wieder wurde er weiter und weiter gefahren durch ein land das seine augen durch seine flachheit ermüdete, ohne ein einziges kleines hügelchen irgendwo. Eine weitere nacht verbrachte er eingeschlossen in einem gebäude gleich einem schönen stall mit einer streu aus stroh auf dem boden, gegen eine menge von männern sein bündel bewachend, von denen keiner ein einziges wort verstand, das er sagte. Am morgen wurden sie alle an das steinige ufer eines äußerst breiten schlammigen flusses hinunter geführt, der nicht zwischen hügeln, sondern zwischen häusern floß, die ungeheuer groß schienen. Da war eine dampfmaschine die auf dem wasser fuhr, und sie alle standen auf ihr dichtgepackt, nur waren jetzt viele frauen und kinder mit ihnen, die viel krach machten. Ein kalter regen fiel, der wind blies in sein gesicht; er war durchnaß, und seine zähne klapperten. Er und der junge mann aus dem gleichen tal faßten einander bei der hand.
Sie dachten, sie würden nun geradewegs nach Amerika gebracht, doch plötzlich stieß die dampfmaschine gegen die seite von etwas wie einem großen haus auf dem wasser. Die wände waren glatt und schwarz, und sozusagen aus dem dach wachsend ragten kahle bäume in form von kreuzen auf, äußerst hoch. So kam es ihm damals vor, denn er hatte niemals zuvor ein schiff gesehen. Dies war das schiff, das den ganzen weg nach Amerika schwimmen würde. Stimmen schrieen, alles schwankte; da war eine leiter die auf und ab tauchte. Er stieg auf händen und knien hinauf, in tödlicher angst, in das wasser unter ihm zu fallen, das laut klatschte. Er wurde von seinem gefährten getrennt, und als er in das innere des schiffs hinabstieg, schien sein herz plötzlich in ihm zu schmelzen.
Damals war es auch, wie er mir erzählte, daß er ein für allemal den kontakt zu einem jener drei männer verlor, die im sommer zuvor durch alle kleinen städte in den vorbergen seiner heimat gezogen waren. Sie kamen an markttagen in einem bauernwagen gefahren, und schlugen in einem gasthof oder sonst einem judenhaus ein kontor auf. Sie waren zu dritt, von denen einer mit einem langen bart ehrwürdig aussah; und sie hatten rote tuchkragen um ihre hälse und auf ihren ärmeln goldtressen wie regierungsbeamte. Sie saßen stolz hinter einem langen tisch; und im nebenraum, damit das gemeine volk nichts hören konnte, hatten sie eine kunstreiche telegraphenmaschine, mittels welcher sie mit dem Kaiser von Amerika sprechen konnten. Die väter drückten sich an der tür herum, aber die jungen männer aus den bergen drängten sich zum tisch vor und stellten viele fragen, denn es war das ganze jahr arbeit zu bekommen in Amerika, für drei dollar am tag, und kein kriegsdienst zu leisten.
Aber der amerikanische Kaiser nahm nicht jeden. O nein! Er selbst hatte große mühe angenommen zu werden, und der ehrwürdige mann in uniform mußte mehrere male aus dem zimmer gehen, um seinetwegen den telegraphen in gang zu setzen. Der amerikanische Kaiser stellte ihn schließlich für drei dollar ein, da er jung und stark war. Indes machten viele fähige junge männer einen rückzieher, aus furcht vor der großen entfernung; außerdem konnnten nur die genommen werden, die geld hatten. Es gab einige die ihre hütten und ihr land verkauften weil es viel geld kostete nach Amerika zu gelangen; aber dann, einmal da, hatte man drei dollar am tag, und wenn man schlau war konnte man gegenden finden, wo schieres gold vom boden aufgesammelt werden konnte. Das haus seines vaters wurde übervoll. Zwei seiner brüder waren verheiratet und hatten kinder. Er versprach, von Amerika zweimal im jahr mit der post geld heimzuschicken. Sein vater verkaufte eine alte kuh, ein paar scheckige bergponies aus eigener zucht, und ein gerodetes stück guten weidelands auf dem sonnigen abhang eines fichtenbestandenen passes an einen jüdischen gastwirt, um die leute des schiffs zu bezahlen, das männer nach Amerika brachte, die in kurzer zeit reich werden wollten.
Er muß im herzen ein richtiger abenteurer gewesen sein, denn wie viele der größten unternehmungen bei der eroberung der erde begannen mit genau so einem verscherbeln der väterlichen kuh für das trugbild echten goldes weit weg! Ich habe dir mehr oder weniger in meinen eigenen worten erzählt was ich stückweise im verlauf von zwei oder drei jahren erfuhr, während deren ich selten eine gelegenheit zu einem freundlichen schwatz mit ihm ausließ. Er erzählte mir die geschichte seines abenteuers mit vielem blecken weißer zähne und lebhaften blicken aus schwarzen augen, zuerst in einer art eifrig-kindlichen stammelns, dann, als er die sprache lernte, mit großer geläufigkeit, aber immer mit jenem singenden, sanften, und gleichzeitig vibrierenden tonfall, der dem klang der vertrautesten englischen wörter eine seltsam durchdringende macht mitteilte, als seien sie die worte einer überirdischen sprache. Und er beschloß seine reden immer, unter vielem nachdrücklichen kopfschütteln, mit dem entsetzlichen gefühl seines in ihm, kaum daß er den fuß auf jenes schiff gesetzt hatte, schmelzenden herzens. Danach schien eine zeit völliger unwissenheit für ihn zu kommen, jedenfalls was tatsachen betrifft. Zweifellos muß er fürchterlich seekrank gewesen sein und furchtbar unglücklich — dieser sanfte und leidenschaftliche abenteurer, so aus allem bekannten herausgerissen und bitter, wie er in seiner auswandererkoje dalag, seine völlige einsamkeit fühlend; denn er war von hochempfindsamer natur. Das nächste, was wir sicher von ihm wissen ist, daß er sich in Hammonds schweinepferch versteckt hatte, an der straße nach Norton, sechs meilen in gerader linie vom meer entfernt. Von diesen erlebnissen sprach er ungern: sie schienen eine düstere art von staunen und entrüstung in seine seele gebrannt zu haben. Durch die gerüchte der gegend, die sich bis ziemlich lange nach seiner ankunft hielten, wissen wir, daß die fischer von West—Colebrook nachts durch schwere schläge gegen holzverschalte hüttenwände gestört und aufgeschreckt worden waren, und durch eine stimme die gellend unbekannte worte schrie. Einige von ihnen gingen sogar nach draußen, doch zweifellos war er in plötzlichem schreck über die rauhen wütenden laute, die sie einander in der dunkelheit zuriefen, geflohen. Eine art raserei muß ihm den steilen Norton-hügel hinaufgeholfen haben. Zweifellos war er es, der früh am nächsten morgen am straßenrand im gras liegend (bewußtlos, würde ich sagen) gesehn worden war, von dem fuhrmann aus Brenzett, der tatsächlich abstieg um ihn sich näher anzuschaun, sich aber zurückzog, eingeschüchtert von der vollkommenen unbeweglichkeit und etwas sonderbarem im aussehen dieses landstreichers, der so still im regen schlief. Als der tag vorrückte, kamen ein paar kinder in solcher angst in die schule von Norton gestürzt, daß die lehrerin hinausging und ungehalten zu einem „schrecklich aussehenden mann“ auf der straße sprach. Er schlich, mit hängendem kopf, einige schritt weit, und rannte dann mit außerordentlicher schnelligkeit fort. Der kutscher von Mr. Bradleys milchwagen machte kein hehl daraus, daß er nach so einem haarigen zigeunerkerl, der an einer biegung der straße bei den Vents aufgesprungen war und nach dem zaum des ponies gegriffen hatte, mit seiner peitsche geschlagen hatte. Und er zog ihm richtig eins über, quer übers gesicht, sagte er, was ihn um etliches schneller in den dreck fallen ließ, als er aufgesprungen war; aber es dauerte eine gute halbe meile bevor er das pony stoppen konnte. Mag sein daß der arme teufel in seinen verzweifelten bemühungen, hilfe zu finden, und in seiner not mit jemand in fühlung zu kommen, versucht hatte, den wagen anzuhalten. Auch gestanden drei jungen später, daß sie nach einem komischen landstreicher, der sich ganz naß und dreckig und, wie es schien, sehr betrunken, in der engen tiefen gasse bei den kalköfen herumgetrieben hatte, mit steinen geworfen hätten. All das war tagelang das gespräch dreier dörfer; doch wir haben Mrs. Finns (der frau von Smiths fuhrmann) unanfechtbares zeugnis, daß sie ihn über die niedrige mauer von Hammonds schweinepferch klettern und auf sie zu taumeln sah, laut stammelnd mit einer stimme die ausreichte um einen vor schreck sterben zu machen. Da sie im kinderwagen das baby bei sich hatte, rief Mrs. Finn ihm zu wegzugehn, und da er sich weiter näherte, schlug sie ihm beherzt ihren schirm über den kopf, und ohne einmal zurückzublicken, lief sie wie der wind mit dem kinderwagen bis zum ersten haus des dorfes. Dann blieb sie, außer atem, stehn, und sprach mit dem alten Lewis, der einen haufen steine behämmerte; und der alte bursche, indem er seine riesige brille aus schwarzem draht abnahm, stellte sich auf seine wackligen beine, um zu sehn, wo sie hinwies. Zusammen folgten sie mit den augen der gestalt des über ein feld rennenden mannes; sie sahen ihn hinfallen, sich aufraffen und wieder weiterrennen, taumelnd und seine langen arme über dem kopf schwenkend, in richtung auf die New Barns Farm. Von dem moment an ist er sichtlich in den fängen seines dunklen und ergreifenden schicksals. Es gibt von da an keinen zweifel über das, was ihm zustieß. Alles ist jetzt sicher: Mrs. Smiths tiefer schrecken; Amy Fosters stumpfsinnige überzeugung im gegensatz zu den nervenanfällen der anderen, daß der mann es „nicht böse meine“; Smiths ärger (bei seiner rückkehr vom Darnforder markt) den hund dabei zu finden, sich heiser zu bellen, die hintertür verschlossen, seine frau hysterisch; und alles wegen eines unglücklichen schmutzigen landstreichers, den man grad jetzt im mietenhof auf der lauer vermutete. War ers? er würde ihn lehren, frauen zu erschrecken.
Smith ist bekanntermaßen ein wüterich, aber der anblick eines unbestimmmbaren schmierigen wesens, das, die beine untergeschlagen, zwischen haufen losen strohs saß und sich hin und her wiegte wie ein bär im käfig, machte ihn stocken. Dann stand dieser landstreicher schweigend vor ihm auf, ein klumpen schlamm und dreck von kopf bis fuß. Smith, allein mit dieser erscheinung zwischen seinen mieten, im stürmischen zwielicht, das von dem wütenden bellen des hundes wiederhallte, spürte das grauen vor einer unerklärlichen fremdheit. Aber als dies wesen mit seinen schwarzen händen die langen verfilzten locken teilte, die ihm vor dem gesicht hingen, wie man die zwei hälften eines vorhangs teilt, und mit funkelnden, wilden, schwarz-weißen augen zu ihm hervorblickte, versetzte ihn die unheimlichkeit dieser schweigsamen begegnung in einige unruhe. Er hat hinterher zugegeben (denn die geschichte war hier in der gegend für jahre zu recht ein gesprächsgegenstand) daß er mehr als einen schritt rückwärts machte. Dann überzeugte ihn ein plötzlicher schwall schnellen, unsinnigen redens mit eins, daß er es mit einem entlaufenen irren zu tun hätte. In der tat verlor sich dieser eindruck niemals ganz. Innerlich hat Smith seine geheime überzeugung, der mann sei im grunde verrückt, bis zum heutigen tag nicht aufgegeben.
Als die kreatur sich ihm näherte, in einer höchst verwirrenden weise faselnd, fuhr Smith (nicht ahnend daß er als "gnädiger herr" angeredet und in Gottes namen beschworen wurde, ihm nahrung und unterkunft zu bewilligen) fort, eindringlich doch freundlich zu ihm zu sprechen, wobei er die ganze zeit über in den anderen hof zurückwich. Schließlich, als er die gelegenheit gekommen sah, beförderte er ihn kopfüber in den holzschuppen und schob augenblicklich den riegel vor. Darauf wischte er sich die stirn, obwohl es ein kalter tag war. Er hatte der gemeinde gegenüber seine pflicht getan, indem er einen streunenden und wahrscheinlich gefährlichen irren einsperrte. Smith ist durchaus kein hartherziger mensch, aber er hatte in seinem hirn nur für diesen einen gedanken von der verrücktheit platz. Er war nicht phantasievoll, genug sich zu fragen, ob der mann nicht vielleicht vor kälte und hunger zugrunde ging. Inzwischen machte der irre erst einmal eine menge krach in dem schuppen. Mrs. Smith heulte im obergeschoß, wo sie sich in ihr schlafzimmer eingeschlossen hatte; aber Amy Foster schluchzte jämmerlich an der küchentür, die hände ringend und „nicht! nicht!“ murmelnd. Ich glaube, Smith verbrachte an dem abend schlimme stunden bei dem einen und anderen lärm, und diese wahnsinnige, aufdringliche stimme, die hartnäckig durch die tür schrie, erhöhte nur seine gereiztheit. Er konnte unmöglich diesen lästigen verrückten mit dem schiffbruch in der Eastbay in verbindung gebracht haben, von dem auf dem Darnforder markt ein gerücht umlief. Und ich glaube, daß der mann da drin in jener nacht dem wahnsinn sehr nahe war. Bevor seine erregung sich legte und er bewußtlos wurde,, warf er sich im dunkeln gewaltsam umher, rollte auf ein paar schmutzige säcke und biß seine fäuste vor wut, kälte, hunger, staunen und verzweiflung.
Er war ein gebirgler aus dem östlichen teil der Karpaten, und das schiff, das die nacht vorher in Eastbay gesunken war, das Hamburger auswandererschiff Herzogin Sophia—Dorothea, schrecklichen angedenkens.
Wenige monate später konnten wir in den zeitungen die berichte über die betrügereien sogenannter "auswanderungs-agenturen" unter dem slavonischen landvolk in den entfernteren provinzen Österreichs lesen. Das ziel dieser schurken war, an haus und grund der armen unwissenden leute zu kommen, und sie waren mit den örtlichen wucherern im bunde. Sie exportierten ihre opfer meist über Hamburg. Was das schiff betrifft, das hatte ich aus diesem fenster hier beobachtet, wie es an einem bedrohlich dunklen nachmittag hart am wind mit gerefften segeln in die bucht einlief. Es ging, genau nach der karte, auf der höhe der küstenwache von Brenzett vor anker. Ich entsinne, mich daß ich vor einbruch der nacht noch einmal nach den umrissen seiner takelage schaute, die sich dunkel und scharf gegen einen hintergrund von zerklüfteten, schieferfarbenen wolken abhob, wie ein zweiter und schmalerer turm links von dem der kirche von Brenzett. Am abend kam wind auf. Um mitternacht konnte ich in meinem bett die furchtbaren böen und die geräusche eines heftigen schauers hören.
Ungefähr um diese zeit meinten die leute der küstenwache die lichter eines dampfers über dem ankergrund zu sehen. Nach einem moment verschwanden sie; aber es ist klar daß ein anderes schiff in dieser scheußlichen, stockdunklen nacht in der bucht zuflucht gesucht, das deutsche mittschiffs gerammt hatte (ein loch — wie einer der taucher mir hinterher erzählte — „daß man einen Themse-kahn durchsteuern könnte“), und war dann entweder heil oder beschädigt, wer weiß das, ausgelaufen; war jedenfalls ausgelaufen, unbekannt, ungesehn, und verhängnisvoll, um auf geheimnisvolle weise auf see unterzugehn. Nichts von ihm kam jemals ans licht, und doch würde der allgemeine aufschrei, der sich erhob, es ausfindig gemacht haben, wenn es noch irgendwo auf der oberfläche der meere existiert hätte.
Eine abgeschlossenheit ohne anhaltspunkt und ein verstohlenes schweigen wie nach einem geschickt verübten verbrechen charakterisieren dies mörderische desaster, das, wie du dich vielleicht erinnerst, traurige berühmtheit erlangte. Der wind dürfte die lautesten hilferufe verschluckt haben bevor sie die küste erreichten; es war offenbar keine zeit mehr für notsignale. Es war ein tod ohne aufsehen. Das schiff aus Hamburg lief sofort voll, schlug um als es sank, und bei tageslicht war nicht einmal das ende einer spiere über wasser zu sehn. Natürlich vermißte man es, und zunächst vermutete die küstenwache, daß es irgendwann während der nacht entweder den anker gelichtet oder das tau gekappt hätte und auf die offene see getrieben wäre. Dann, nach dem gezeitenwechsel, mußte das wrack sich ein wenig verlagert und einige der leichen freigegeben haben, denn ein kind — ein kleines hellhaariges kind in einem roten rock — trieb am Martello-turm an land. Am nachmittag konnte man auf drei meilen die küste entlang dunkle gestalten mit bloßen beinen in den schaumigen brechern hin und herspülen sehen, und man trug rauh aussehende männer, frauen mit harten gesichtern, und meist hellhaarige kinder, steif und tropfend, auf bahren, auf flechtwerk, auf leitern, in langer prozession an der tür des ShipInns vorbei, um sie in einer reihe unterhalb der nordmauer der kirche von Brenzett zu bestatten.
Offiziell ist die leiche des kleinen mädchens im roten rock das erste, was von dem schiff an land kam. Aber ich habe patienten unter der seefahrenden bevölkerung von West—Colebrook, und inoffiziell bin ich unterrichtet worden, daß sehr früh an jenem morgen zwei brüder, die zum strand hinuntergingen um nach ihrem boot zu sehen, das sie auf den strand gezogen hatten, ein gutes stück von Brenzett entfernt einen gewöhnlichen schiffshühnerkäfig fanden, der trocken hoch auf dem strand lag, mit elf ertrunkenen enten darin. Ihre familien aßen die vögel, und der hühnerkäfig wurde mit einem beil zu feuerholz zerhackt. Es ist möglich daß ein mann (angenommen er war zur zeit des unglücks gerade an deck) auf diesem hühnerkäfig an land getrieben wurde. Vielleicht. Ich gebe zu es ist unwahrscheinlich, aber da war der mann — und tage—, nein wochenlang kamen wir nicht auf die idee daß wir die einzige lebende seele die dem verderben entronnen war unter uns hatten. Der mann selbst, auch als er gelernt hatte, sich zu verständigen, konnte uns sehr wenig sagen. Er entsann sich, daß er sich besser gefühlt hatte (nachdem das schiff vom anker gegangen war vermute ich) und daß die dunkelheit, der wind und der regen ihm den atem verschlugen. Das hört sich an als ob er während der nacht eine zeitlang an deck war. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß er aus allem bekannten herausgerissen, daß er seekrank war und vier tage lang unter deck eingesperrt, daß er keine allgemeine vorstellung von einem schiff oder dem meer hatte, und deshalb nicht genau wissen konnte, was mit ihm geschah. Den regen, den wind, die dunkelheit kannte er; er verstand das blöken der schafe, und er entsann sich der pein seiner not und seines elends, seines herzzerbrechenden staunens daß sie weder bemerkt noch verstanden wurde, seines schreckens alle männer wütend und alle frauen wild zu finden. Er hatte sich ihnen als ein bettler genähert, das wohl, sagte er; aber in seiner heimat redete man freundlich zu bettlern auch wenn man nichts gab. Die kinder in seiner heimat wurden nicht gelehrt, mit steinen nach leuten zu werfen die um mitleid baten.
Smiths vorgehen überrumpelte ihn völlig. Was würde man ihm als nächstes antun?... Kein wunder, daß Amy Foster in seinen augen die aureole eines lichten engels umgab. Das mädchen hatte vor sorge um den armen mann nicht schlafen können, und am morgen, bevor die Smiths auf waren, schlich sie nach draußen und über den hinteren hof. Indem sie die tür des holzschuppens halb auf hielt, schaute sie hinein und streckte ihm einen halben laib weißbrot entgegen — “solches brot, wie in meiner heimat die reichen essen“, pflegte er zu sagen.
Daraufhin erhob er sich langsam aus allerlei abfall, steif, hungrig, zitternd, elend und unschlüssig. „Kannst du das essen?“ fragte sie mit ihrer sanften und ängstlichen stimme. Er muß sie für eine "gnädige dame" gehalten haben. Er schlang gierig, und tränen fielen auf die rinde. Plötzlich ließ er das brot fallen, ergriff ihr handgelenk, und drückte einen kuss auf ihre hand. Sie fürchtete sich nicht. Sie hatte trotz seiner traurigen verfassung bemerkt, daß er gut aussah. Sie schloß die tür und ging langsam in die küche zurück. Lange danach erzählte sie es Mrs. Smith, der bei dem bloßen gedanken, von diesem wesen berührt zu werden, schauderte.
Durch diesen akt spontanen erbarmens wurde er in den bereich menschlicher beziehungen zu seiner neuen umgebung zurückgebracht. Er vergaß ihn nie — niemals.
An genau dem selben morgen kam der alte Mr. Swaffer (Smiths nächster nachbar) herüber um ihn zu beraten, und nahm ihn am am ende mit sich. Er stand unsicher auf seinen beinen, sanftmütig und mit halbtrockenem dreck überschmiert, während die beiden männer neben ihm in einer unverständlichen sprache redeten. Mrs. Smith hatte sich geweigert, herunter zu kommen, ehe der irre das anwesen verlassen hätte; Amy Foster spähte von weitem durch die offene hintertür der dunklen küche; und er gehorchte den zeichen, die man ihm machte, so gut er konnte. Aber Smith war voller mißtrauen. „Bedenk, herr, das alles kann eine list sein“, rief er wiederholt im ton einer warnung. Als Mr. Swaffer die stute in bewegung setzte, fiel das bedauernswerte wesen, das brav an seiner seite saß, vor schwäche fast über die lehne des hohen zweirädrigen wagens. Swaffer brachte ihn sofort nach hause. Und dann betrat ich die szene.
Ich wurde durch den simplen vorgang hereingerufen, daß der alte mann mir über das tor seines hauses hinweg mit dem zeigefinger winkte als ich zufällig vorbeifuhr. Ich stieg natürlich aus.
„Ich habe hier was“, murmelte er und führte mich zu einem nebengebäude in einiger entfernung von den andern gebäuden des hofes.
Es war dort daß ich ihn zuerst sah, in einem langen niedrigen raum der die größe einer wagenremise hatte. Er war kahl und weißgetüncht, mit einer kleinen quadratischen öffnung am hinteren ende die mit einer gesprungenen staubigen scheibe verglast war. Er lag auf dem rücken auf einem strohlager; man hatte ihm ein paar pferdedecken gegeben, und er schien den rest seiner kraft bei der anstrengung, sich zu säubern, verbraucht zu haben. Er war fast sprachlos; seine hastigen atemzüge hoben seine brust unter den decken bis zum kinn, seine funkelnden, ruhelosen schwarzen augen erinnerten mich an einen wilden vogel in der falle. Während ich ihn untersuchte, stand der alte Swaffer schweigend an der tür und fuhr mit den fingerspitzen über seine rasierte oberlippe. Ich gab einige anordnungen, versprach eine flasche arznei zu schicken, und stellte natürlich einige fragen.
„Smith hat ihn im mietenhof in New Barns gefangen“, sagte der alte knabe in seiner bedächtigen, ungerührten weise, und als ob der andere tatsächlich eine art wildes tier sei. „So kam ich an ihn. Eine richtige rarität, nicht wahr? nun sagen Sie mir, doktor — Sie sind in der welt herumgekommen — glauben Sie nicht, daß es sowas wie ein Hindu ist, was wir da erwischt haben?“
Ich war sehr überrascht. Sein langes, schwarzes, über das strohkissen fallende haar stach gegen die olivfarbene bleichheit seines gesichtes ab. Mir kam der gedanke, er könnte ein Baske sein. Daraus folgte nicht zwangsläufig, daß er spanisch verstand; aber ich versuchte es mit den wenigen worten die ich kenne, und auch auf französisch. Die geflüsterten laute, die ich aufschnappte, indem ich mein Ohr zu seinen lippen beugte verdutzten mich völlig. Am nachmittag versuchten es die jungen damen aus dem pfarrhaus (eine von ihnen las Goethe mit einem wörterbuch, und die andere hatte sich jahrelang mit Dante abgequält), die Miss Swaffer besuchten, mit ihrem deutsch und italienisch vom eingang aus. Sie zogen sich zurück, noch am wenigsten von dem schwall leidenschaftlicher rede verschreckt, den er, sich auf seinem lager drehend, auf sie losließ. Sie gaben zu, daß der klang angenehm war, sanft, musikalisch aber in verbindung mit seinen blicken vielleicht jagte er einem angst ein, so erregbar und völlig anders als alles was man je gehört hatte. Die dorfjungen kletterten auf die bank um durch die kleine quadratische öffnung zu lugen. Jedermann fragte sich, was Mr. Swaffer mit ihm tun würde. Er behielt ihn schlicht und einfach.
Swaffer würde für exzentrisch gehalten, wäre er nicht so überaus geachtet. Man wird dir erzählen, daß Mr. Swaffer bis zehn uhr nachts aufbleibt, um bücher zu lesen, und man wird dir auch erzählen, daß er einen scheck über zweihundert pfund ausstellen kann, ohne es sich zweimal zu überlegen. Er selbst würde dir sagen daß die Swaffers zwischen Darnford und hier seit dreihundert jahren land besessen hätten. Er muß jetzt fünfundachtzig sein, aber er sieht kein bißchen älter aus, als da ich zuerst hierher kam. Er ist ein gewaltiger schafzüchter, und betreibt einen ausgedehnten viehhandel. Er besucht die markttage in weitem umkreis bei jedem wetter, und fährt, im sitzen tief über die zügel gebeugt, sein strähniges graues haar über dem kragen seines warmen mantels sich lockend, und mit einer grünen schottendecke um seine beine. Die ruhe des vorgeschrittenen alters gibt seiner haltung feierlichkeit. Er ist glattrasiert; seine lippen sind dünn und fein; etwas starres und mönchisches im schnitt seiner gesichtszüge verleiht ihnen eine gewisse hoheit. Er ist bekannt dafür, daß er meilenweit im regen fährt, um in jemandes garten eine neue rosenart zu sehen, oder einen riesengroßen kohl, den ein kätner gezogen hat. Er liebt es, von etwas erzählen zu hören oder es gezeigt zu bekommen was er "exotisch" nennt. Vielleicht war es gerade das exotische des mannes das den alten Swaffer beeinflußte. Vielleicht war es nur eine unerklärliche laune. Alles was ich weiß ist, daß ich nach drei wochen Smiths verrückten zu gesicht bekam, wie er in Swaffers küchengarten grub. Sie hatten herausgefunden, daß er mit einem spaten umgehn konnte. Er grub barfuß.
Sein schwarzes haar wallte über seine schultern. Ich vermute daß es Swaffer war, der ihm das gestreifte alte baumwollhemd gegeben hatte; aber er trug noch die einheimische hose aus braunem tuch (in der er an land gespült worden war), die den beinen fast wie ein trikot anlag; er war mit einem breiten mit kleinen messingknöpfen beschlagenen ledergürtel gegürtet, und hatte sich noch nicht ins dorf gewagt. Das land auf das er blickte schien ihm wohlbestellt, wie der grund um einen gutshof; die größe der kutschpferde machte ihn starr vor staunen; die straßen glichen gartenwegen, und das aussehen der leute, besonders sonntags, verriet wohlstand. Er fragte sich, was sie so hartherzig machte und ihre kinder so frech. Er bekam sein essen an der hintertür, trug es in beiden händen vorsichtig zu seinem häuschen und machte, auf seinem lager sitzend, jedesmal das zeichen des kreuzes, bevor er anfing. Neben dem selben lager kniete er in der frühen dunkelheit der kurzen tage und betete laut das Vaterunser, bevor er schlafen ging. Wann immer er den alten Swaffer sah machte er eine tiefe ehrerbietige verbeugung, und stand aufrecht, während der alte mann ihn schweigend, mit den fingern auf seiner oberlippe, musterte. Er verbeugte sich auch vor Miss Swaffer, die ihrem vater auf frugale weise den haushalt führte — einer breitschultrigen, starkknochigen frau von fünfundvierzig, die kleidtasche voller schlüssel und mit grauen, ruhigen augen. Sie gehörte zur anglikanischen kirche (während ihr vater einer der kuratoren der Baptistengemeinde war) und trug ein kleines stahlkreuz an der hüfte. Sie kleidete sich streng in schwarz, zur erinnerung an einen der unzähligen Bradleys aus der nachbarschaft, mit dem sie vor einigen fünfundzwanzig jahren verlobt gewesen war — einen jungen bauern der sich am vorabend des hochzeitstags auf der jagd den hals brach. Sie hatte das unbewegte aussehen der tauben, sprach sehr selten, und ihre lippen, dünn wie die ihres vaters, verblüfften einen manchmal durch ein rätselhaft ironisches kräuseln.
Das waren die leute, denen er treue schuldete, und eine niederschmetternde einsamkeit schien vom bleiernen himmel jenes winters ohne sonne zu fallen. Alle gesichter waren traurig. Er konnte mit niemandem reden, und hatte keine hoffnung jemals jemanden zu verstehen. Es war als gehörten diese gesichter menschen aus der andern welt — toten — pflegte er mir später zu erzählen. Auf mein wort, ich staune, daß er nicht verrückt wurde. Er wußte nicht wo er war. Irgendwo weit entfernt von den bergen — irgendwo jenseits des meeres. War das Amerika? fragte er sich.
Wenn nicht das stahlkreuz an Miss Swaffers gürtel gewesen wäre, würde er, wie er gestand, nicht gewußt haben, ob er überhaupt in einem christlichen land war. Er pflegte heimliche blicke darauf zu werfen und fühlte sich dann getröstet. Hier war nichts so wie in seiner heimat! Die erde und das wasser waren anders; es gab keine bildnisse des erlösers am straßenrand. Selbst das gras war anders, und die bäume. Alle bäume außer den drei norwegischen fichten auf dem rasenplatz vor Swaffers haus, und die erinnerten ihn an seine heimat. Einmal war er nach einbruch der dunkelheit entdeckt worden, wie er mit der stirn gegen den stamm von einer von ihnen lehnte und schluchzte und mit sich selbst redete. Sie waren zu jener zeit wie brüder für ihn, versicherte er. Alles andere war fremd. Stell dir ein dasein vor, das von den alltäglichen stofflichen erscheinungen überschattet, bedrückt wird wie von den visionen eines albtraums. Nachts, wenn er nicht schlafen konnte, dachte er an das mädchen, das ihm das erste stück brot gegeben hatte, das er in diesem fremden land aß. Sie war weder wild noch wütend gewesen, auch nicht erschreckt. Ihres gesichtes entsann er sich als des einzig verständlichen unter all den gesichtern, die so verschlossen, so rätselhaft und so stumm waren wie die gesichter der toten, die mit einem wissen begabt sind, das über den verstand der lebenden geht. Ich frage mich, ob die erinnerung an ihr mitgefühl ihn davon abhielt, sich die gurgel durchzuschneiden. Aber ach was! Ich glaube ich bin ein sentimentaler greis und vergesse die instinktive liebe zum leben, die zu besiegen es die ganze stärke einer ungemeinen verzweiflung braucht.
Er tat die arbeit, die man ihm gab, mit einer geschicklichkeit, die den alten Swaffer überraschte. Nach und nach entdeckte man, daß er beim pflügen helfen, die kühe melken, die ochsen im viehgehege füttern und sich bei den schafen nützlich machen konnte. Er begann auch sehr schnell wörter aufzuschnappen; und eines schönen frühlingsmorgens plötzlich rettete er ein enkelkind des alten Swaffer vor einem vorzeitigen tod.
Swaffers jüngere tochter ist mit Willcox verheiratet, einem anwalt und stadtschreiber von Colebrook. Regelmäßig zweimal im jahr kommen sie den alten mann für ein paar tage besuchen. Ihr einziges kind, zu jener zeit ein kleines mädchen von nicht einmal drei jahren, lief in seinem weißen kleidchen allein aus dem haus, tapste über das gras eines terrassierten gartens und stürzte über eine niedrige mauer kopfüber in die pferdeschwemme im hof darunter.
Unser mann war mit dem fuhrmann und dem pflug draußen auf dem feld, das dem haus am nächsten lag, und als er das gespann herumlenkte, um eine neue furche anzufangen, sah er durch den spalt eines gatters, was für jeden andern ein bloßes flattern von etwas weißem gewesen wäre. Aber er hatte gerade blickende, flinke, weitreichende augen, die nur vor der unendlichkeit des meeres zu blinzeln und ihre erstaunliche schärfe zu verlieren schienen. Er war barfuß, und sah so exotisch aus wie es sich Swaffer nur wünschen konnte. Er ließ die pferde in der krümme stehn, sprang zum unaussprechlichen ärger des fuhrmanns davon, die gepflügte erde in langen Sätzen querend, tauchte plötzlich vor der mutter auf, drückte ihr das kind in die arme, und schritt hinweg.
Die schwemme war nicht sehr tief; und doch würde das kind, wenn er nicht so gute augen gehabt hätte, gestorben sein — elendig erstickt in dem fuß oder so von zähem schlamm am grund. Der alte Swaffer ging langsam aufs feld hinaus, wartete bis der pflug auf seine seite herüberkam, warf ihm einen anerkennenden blick zu und ging ohne ein wort zu sagen zum haus zurück. Aber von der zeit an bekam er seine mahlzeiten am küchentisch; und anfangs kam Miss Swaffer, ganz in schwarz und mit einem undurchdringlichen gesicht, an die tür zum wohnzimmer, um ihn sein großes kreuz schlagen zu sehn, bevor er zugriff. Ich glaube, daß Swaffer von jenem tag an auch anfing, ihm regelmäßig lohn zu zahlen.
Ich kann nicht schritt für schritt seiner entwicklung folgen. Er schnitt sein haar kurz, wurde im dorf und auf der straße gesehen, wenn er zur arbeit ging und von der arbeit kam, wie jeder andere. Die kinder hörten auf, hinter ihm her zu rufen. Er wurde gesellschaftliche unterschiede gewahr, war aber lange zeit verblüfft über die nackte armut der kirchen zwischen so viel reichtum. Er konnte auch nicht verstehn, warum sie an wochentagen verschlossen gehalten wurden. Es gab nichts zu stehlen in ihnen. Sollte es die leute davon abhalten, zu oft zu beten? die pfarrersfamilie kümmerte sich zu jener zeit sehr um ihn, und ich glaube die jungen damen versuchten, den boden für seine bekehrung vorzubereiten. Sie konnten ihn jedoch nicht von seiner gewohnheit abbringen, sich zu bekreuzigen, doch ging er so weit, die kette mit einem paar messingmedaillen von der größe eines groschens, einem winzigen metallkreuz und einer art quadratischen skapuliers abzunehmen, die er um den hals trug. Er hing sie an die wand neben seinem bett, und man konnte ihn noch jeden abend das Vaterunser beten hören, in unverständlichen worten und in langsamem, inbrünstigem tonfall, wie er seinen alten vater jeden abend seines lebens hatte beten hören, vor der ganzen knienden familie, groß und klein. Und obwohl er kordhosen bei der arbeit trug und sonntags einen pfeffer-und-salz-anzug von der stange, drehten sich fremde auf der straße doch nach ihm um. Seine fremdartigkeit hatte ein besonderes und unauslöschliches gepräge. Schließlich gewöhnten sich die leute daran, ihn zu sehen. Aber sie gewöhnten sich niemals an ihn. Sein schneller leichter gang; seine dunkle gesichtsfarbe; sein schief aufgesetzter hut; seine angewohnheit, an warmen abenden die jacke über der schulter zu tragen, wie den Dolman eines husaren, seine art über die zauntritte zu springen, nicht um seine gelenkigkeit zu beweisen, sondern im gewöhnlichen lauf seiner fortbewegung — alle diese besonderheiten waren, wie man sagen darf, ebensoviele steine des anstoßes und gründe zur verachtung. Sie würden zur essenszeit nicht flach auf dem rücken im gras liegen und an den himmel starren. Auch gingen sie nicht auf den feldern umher und sangen trübselige weisen. Viele male habe ich hinter der kuppe einer abfallenden schafweide hervor seine hohe stimme gehört, eine leichte stimme, die, wie die einer lerche, doch mit einem melancholischen menschlichen ausdruck, über unsere felder aufstieg, die nur den gesang der vögel kennen. Und ich selbst war dann beunruhigt. Ah, er war anders; im herzen unschuldig und voll guten willens, den niemand wünschte, dieser gestrandete, der wie ein mensch, der auf einen andern planeten verpflanzt wurde, durch einen ungeheuren raum von seiner vergangenheit und eine ungeheure unwissenheit von seiner zukunft getrennt war. Seine rasche, feurige sprechweise schockierte absolut jeden. "einen reizbaren teufel“ nannten sie ihn. Eines abends im schankraum des gasthofs brachte er sie alle auf (er hatte etwas whisky getrunken) indem er ein liebeslied seiner heimat sang. Sie schrien ihn nieder, und er war beleidigt; aber Preble, der lahme wagner, und Vincent, der fette grobschmied, wollten, wie auch die anderen notabeln, ihr abendliches bier in ruhe trinken. Bei einer andern gelegenheit versuchte er ihnen zu zeigen, wie man tanzt. Staubwolken wirbelten vom sandbestreuten boden auf; er sprang mitten zwischen die fichtenholztische, schlug die hacken zusammen, hockte sich auf einem fuß vor den alten Preble, das andere bein nach vorn werfend, stieß wilde jauchzende schreie aus, sprang auf und wirbelte auf einem fuß, über seinem kopf mit den fingern schnippend - und ein fremder fuhrmann, der hier gerade einen trank, fing an zu fluchen und verzog sich mit seinem halben maß in der hand an die theke. Aber als er plötzlich auf einen tisch sprang und zwischen den gläsern zu tanzen fortfuhr, schritt der wirt ein. Er wollte keine "zirkusnummern im schankraum". Sie hielten ihn fest. Mr. Swaffers ausländer, der ein glas oder zwei getrunken hatte, versuchte zu protestieren, wurde gewaltsam hinausgeworfen und bekam ein blaues auge.
Ich glaube, er fühlte die feindseligkeit der menschen, die ihn umgaben. Aber er war zäh — zäh an körper und seele gleichermaßen. Nur der gedanke an die see weckte in ihm jenes unbestimmte entsetzen, das ein schlechter traum hinterläßt. Seine heimat war weit weg; und nach Amerika wollte er jetzt nicht mehr. Ich hatte ihm oft erklärt, daß es keinen ort auf der erde gibt, wo man pures gold offen daliegend findet und es nur noch aufzuheben braucht. Wie könnte er dann, fragte er, jemals mit leeren händen heimkehren, wenn eine kuh, zwei ponies und ein stück land verkauft worden waren, um seine reise zu bezahlen? dabei füllten sich seine augen mit tränen, er wandte sie ab von dem unermeßlichen schimmern der see und warf sich mit dem gesicht nach unten ins gras. Aber manchmal konnte er, den hut mit überlegener miene schiefrückend, über meine weisheit spotten. Er hatte sein stück pures gold gefunden. Es war Amy Fosters herz; das war "ein goldenes herz, und zu leuten im elend mild“, pflegte er im tonfall unerschütterlicher überzeugung zu sagen.
Er hieß Yanko. Er hatte erklärt, daß dies "Kleiner Hans" bedeute; aber da er auch sehr oft wiederholte, daß er ein gebirgler war (ein wort das in seiner heimatsprache wie Goorall klang) bekam er es als nachnamen. Und das ist die einzige spur von ihm, die die kommenden zeiten im heiratsregister des kirchspiels finden dürften. Da steht es — Yanko Goorall — in der handschrift des pfarrers. Das krumme kreuz, das der gestrandete zog, ein kreuz das zu zeichnen ihm zweifellos als der feierlichste teil der ganzen zeremonie erschien, ist alles was bleibt, um die erinnerung an seinen namen zu erhalten.
Seine werbung hatte einige zeit gedauert — von da an, als er in der gemeinde unsicher genug fuß gefaßt hatte. Sie begann damit, daß er in Darnford für Amy Foster ein grünes satin-band kaufte. So machte man das in seiner heimat. Man kaufte am markttag beim juden ein band. Ich glaube nicht, daß das mädchen wußte, was sie damit anfangen sollte, aber er schien zu denken, daß seine ehrbaren absichten nicht mißverstanden werden könnten.
Erst als er seine absicht erklärte zu heiraten verstand ich ganz wie – soll ich sagen verhaßt? — er aus hundert nichtigen und nicht stichhaltigen gründen der ganzen gegend war. Jedes alte weib im dorf war in heller aufregung. Smith, der ihn in der nähe des hofes überraschte, versprach ihm den schädel einzuschlagen, wenn er ihn nochmal hier fände. Aber er zwirbelte seinen kleinen schwarzen schnurrbart mit einer so kriegerischen miene und rollte seine großen schwarzen augen so grimmig gegen Smith, daß aus dem versprechen nichts wurde. Jedenfalls sagte Smith zu dem mädchen, sie müsse verrückt sein, sich mit einem mann einzulassen, der offenbar nicht ganz richtig im kopf sei. Dennoch ließ sie, wenn sie ihn in der abenddämmerung von jenseits des gartens her ein paar takte einer düsteren und trauervollen melodie pfeifen hörte, fallen was immer sie grad in der hand hatte — ließ Mrs. Smith mitten im satz stehen — und folgte seinem ruf. Mrs. Smith nannte sie eine schamlose schlampe. Sie erwiderte nichts. Sie sagte überhaupt zu niemandem etwas, und ging ihren weg, als sei sie taub. Sie und ich waren glaube ich die einzigen in der ganzen gegend, die seine wirkliche schönheit sehen konnten. Er sah sehr gut aus und war höchst anmutig in seiner haltung, mit einer gewissen wildheit wie eines geschöpfs der wälder in seinem aussehn. Ihre mutter stöhnte und jammerte ihretwegen, so oft das mädchen sie an ihrem freien tag besuchen kam. Der vater war mürrisch, aber gab vor nichts zu wissen; und Mrs. Finn sagte ihr einmal glattweg „Dieser mann, meine liebe, wird dir eines tages noch etwas antun.“ und so ging es fort. Man konnte sie auf den straßen sehn, sie schwerfällig in ihrem sonntagsstaat einherstampfend - graues kleid, schwarze feder, feste stiefel, auffällige weiße baumwollhandschuhe die den blick aus hundert yard entfernung auf sich zogen; und er, die jacke malerisch über eine schulter geworfen, schritt an ihrer seite, in galanter haltung und dem mädchen mit dem goldenen herzen zärtliche blicke zuwerfend. Ich frage mich, ob er sah, wie häßlich sie war. Vielleicht konnte er unter einem menschenschlag, der so verschieden war von allem, was er gesehn hatte, darüber nicht urteilen; oder vielleicht verführte ihn die göttliche eigenschaft ihres erbarmens.
Yanko war inzwischen in großer unruhe. In seiner heimat nimmt man einen alten mann als brautwerber. Er wußte nicht wie er vorgehn sollte. Eines tages jedoch nahm er mitten zwischen schafen auf einem feld (er war jetzt Swaffers unterschafhirte zusammen mit Foster) vor ihrem vater seinen hut ab und erklärte sich in aller bescheidenheit. „So wahr ich hier stehe, sie ist dumm genug dich zu heiraten“ war alles was Foster sagte. „Und dann“, erzählte er später, „setzt er seinen hut auf den kopf, guckt mich finster an, als ob er mir die kehle durchschneiden wollte, pfeift dem hund, und weg ist er und läßt mich die arbeit machen.“ die Fosters mochten natürlich nicht das geld verlieren, das Amy verdiente. Das mädchen pflegte ihren ganzen lohn ihrer mutter zu geben. Aber es gab in Foster eine aufrichtige abneigung gegen diese verbindung. Er behauptete, daß der kerl mit schafen gut umgehn könne, aber für kein mädchen zum heiraten geeignet sei. Einmal pflege er die hecken entlang zu streichen und mit sich selbst zu reden wie ein verdammter narr; und dann benehmen sich diese ausländer manchmal sehr sonderbar frauen gegenüber. Und vielleicht wollte er sie irgendwohin mitnehmen — oder selber davonlaufen. Es war nicht sicher. Er hielt seiner tochter vor, daß der kerl sie irgendwie mißhandeln könne. Sie antwortete nicht. Es war, sagte man im dorf, als ob der mann sie verhext hätte. Man erörterte die angelegenheit. Es gab eine ganz schöne aufregung, und die zwei fuhren fort im angesicht ihrer feinde "miteinander zu gehen". Dann ereignete sich etwas unvorhergesehenes.
Ich weiß nicht, ob der alte Swaffer jemals begriff, wie sehr er von seinem ausländischen dienstmann als vater angesehen wurde. Jedenfalls war ihre beziehung eigenartig feudal. So ersuchte Yanko förmlich um eine unterredung „mit der Miss auch“ (er nannte die strenge, taube Miss Swaffer einfach Miss) um ihre erlaubnis zu heiraten zu bekommen. Swaffer hörte ihn unbeweglich an, entließ ihn mit einem nicken, und schrie dann die mitteilung in Miss Swaffers besseres ohr. Sie zeigte keine überraschung und bemerkte bloß grimmig mit verschleierter dumpfer stimme: „Ein anderes mädchen, das ihn heiratet, wird er auch nicht finden.“
Es ist Miss Swaffer, der das ganze verdienst für diese wohltat gebührt: denn nach wenigen tagen kam heraus daß Mr. Swaffer Yanko einen kotten geschenkt hatte (den kotten, den du heute morgen gesehn hast) und ungefähr einen morgen land — er hatte ihm beides zu alleinigem besitz übereignet. Willcox fertigte den vertrag aus, und ich entsinne mich, daß er mir gesagt hat, es wäre ihm ein großes vergnügen gewesen ihn fertigzumachen. Er besagte: „In anbetracht der lebensrettung meines geliebten enkelkinds, Bertha Willcox".
Natürlich konnte sie danach keine macht der erde vom heiraten abhalten.
Ihre betörung dauerte an. Man sah sie abends ausgehn, um ihn zu treffen. Sie starrte fasziniert, ohne mit den augen zu blinzeln, die straße hinauf wo er auftauchen mußte, freien ganges, mit einem wiegen der hüfte und ein liebeslied seiner heimat summend. Als der junge geboren wurde, trank er sich im gasthof Zur Post einen rausch an, versuchte wieder zu singen und zu tanzen, und wurde wieder hinausgeworfen. Die leute bekundeten ihr mitgefühl für eine frau, die mit diesem springteufel verheiratet war. Ihm wars egal. Es gab jetzt einen mann (erzählte er mir prahlerisch) mit dem er in seiner heimatsprache singen und reden, und dem er nach und nach zeigen konnte, wie man tanzt.
Aber ich weiß nicht. Mir schien er einen weniger federnden schritt angenommen zu haben, an gewicht schwerer und weniger scharfsichtig geworden zu sein. Einbildung, zweifellos; aber es scheint mir jetzt, als ob das netz des schicksals sich schon fester um ihn zugezogen hätte.
Eines tages traf ich ihn auf dem fußpfad über den Talfourd-hügel. Er erzählte mir, daß „frauen komisch wären". Ich hatte bereits von häuslichen streitigkeiten gehört. Die leute sagten, daß Amy Foster herauszufinden begann, was sie für einen mann geheiratet hatte. Er schaute mit gleichgültigen, blicklosen augen auf das meer. Seine frau hatte ihm eines tages das kind aus den armen gerissen, als er auf der türschwelle saß und ihm ein lied trällerte, wie es in seinen bergen die mütter den babies singen. Sie schien zu glauben, er tue ihm etwas zuleide. Frauen sind komisch. Und sie hatte ihm sein lautes beten am abend vorgehalten. Warum? er erwartete, daß der junge ihm das gebet mit der zeit laut nachsagte, wie er es seinem alten vater nachzusprechen pflegte, als er ein kind war — in seiner heimat. Und ich entdeckte, daß er sich wünschte, ihr junge wüchse heran, so daß er einen menschen hätte, mit dem er in der sprache reden könnte, die für unsere ohren so verstörend, so leidenschaftlich und so bizarr klang. Warum seine frau den gedanken nicht mögen sollte, konnte er nicht sagen. Aber das würde vorbei gehn, meinte er. Und indem er wissend den kopf neigte, schlug er sich ans brustbein, um anzudeuten, daß sie ein gutes herz hätte: nicht hart, nicht wild, dem mitleid offen, den armen wohltätig!
Ich setzte nachdenklich meinen weg fort; ich fragte mich, ob sein anderssein, seine fremdheit dies stumpfe wesen, das sie zuerst unwiderstehlich angezogen hatten, jetzt nicht mit widerwillen erfüllten. Ich fragte mich das...«
Der doktor kam ans fenster und schaute hinaus auf den kalten glanz der see, unermeßlich im dunst, als ob sie die ganze erde mit all den zwischen leidenschaftlicher liebe und leidenschaftlicher angst verlorenen herzen umschließe.
»Physiologisch«, sagte er, sich abrupt umdrehend,»war es jedenfalls möglich. Es war möglich.«
Er verstummte. Fuhr dann fort:
»Auf alle fälle war er krank, als ich ihn das nächstemal sah — lungenleiden. Er war zäh, aber wohl doch nicht so gut eingewöhnt, wie ich geglaubt hatte. Es war ein schlimmer winter; und natürlich bekommen auch diese gebirgler anfälle von heimweh; und eine phase der niedergeschlagenheit würde ihn verwundbar machen. Er lag halb angezogen unten auf einer couch.
Ein tisch mit einer dunklen wachstuchdecke nahm die mitte des kleinen raums ein. Auf dem boden stand eine korbwiege, ein kessel auf dem kamineinsatz stieß dampf aus, und ein paar windeln lagen zum trocknen auf dem gitter. Der raum war warm, aber die tür führt unmittelbar in den garten, wie du vielleicht bemerkt hast.
Er hatte hohes fieber und redete fortwährend mit sich selbst. Sie saß auf einem stuhl und schaute ihn über den tisch hinweg mit ihren braunen, trüben augen unverwandt an. „Warum liegt er nicht oben?“ fragte ich. Auffahrend und verwirrt stammelnd sagte sie: „Oh! Ah! Ich könnte oben nicht bei ihm sitzen, Herr.“
Ich gab ihr bestimmte anweisungen; und als ich hinausging, sagte ich noch einmal, daß er oben im bett liegen sollte. Sie rang die hände. „Ich kann nicht. Ich kann nicht. Er sagt dauernd etwas — ich weiß nicht was.“ mich an all das gerede gegen den mann erinnernd, mit dem man ihr in den ohren gelegen hatte, schaute ich sie mir genauer an. Ich schaute in ihre kurzsichtigen augen, ihre stumpfen augen, die einmal in ihrem leben eine verzaubernde gestalt gesehn hatten, aber jetzt, da sie mich anstarrten, überhaupt nichts zu sehen schienen. Aber ich sah, daß sie sich nicht wohlfühlte.
„Was ist los mit ihm?“ fragte sie in einer art leerer angst. „Er sieht nicht sehr krank aus. Ich hab niemals jemanden so ausschaun sehn...“
„Glaubst du“, fragte ich ungehalten, „daß er sich verstellt?“
„Ich kann nichts dafür, Herr“, sagte sie stumpfsinnig. Und plötzlich schlug sie ihre hände zusammen und guckte nach rechts und links. „Und da ist das baby. Ich habe solche angst. Er hat gerade verlangt, ich solle ihm das baby geben. Ich kann nicht verstehn, was er zu ihm sagt..“
„Kannst du nicht einen nachbarn bitten, heut nacht herzukommen?“ fragte ich.
„Bitte, Herr, niemand scheint lust zu haben zu kommen“, murmelte sie, mit einemmal stumpf ergeben.
Ich schärfte ihr die notwendigkeit größter sorgfalt ein, und mußte dann gehen. In jenem winter waren viele leute krank. „Oh ich hoffe er redet nicht”, rief sie leise aus, als ich gerade wegging.
Ich weiß nicht wie es kam, daß ich nicht sah — aber ich sah nicht. Und doch sah ich sie, als ich den wagen drehte, vor der tür zögern, sehr still und als ob sie eine flucht die schlammige straße hinauf vorhabe.
Zur nacht hin nahm das fieber zu.
Er hustete, stöhnte und murmelte dann und wann klagend. Und sie saß, den tisch zwischen sich und der couch, und beobachtete jede bewegung und jeden laut, und das entsetzen, das unsinnige entsetzen vor diesem mann, den sie nicht verstehen konnte, kroch über sie. Sie hatte die korbwiege dicht an ihre füße gezogen. Nichts war jetzt in ihr als der mütterliche instinkt und diese unerklärliche angst.
Plötzlich zu sich kommend, durstig, verlangte er einen trunk wasser. Sie rührte sich nicht. Sie hatte ihn nicht verstanden, wenn er auch gemeint haben mag, er spräche englisch. Er wartete, schaute sie an, vor fieber brennend, erstaunt über ihr regloses schweigen, und schrie dann ungeduldig: „Wasser! Gib mir wasser!“
Sie sprang auf die füße, riß das kind an sich, und stand still. Er sprach zu ihr, und seine leidenschaftlichen vorwürfe vergrößerten nur ihre angst vor diesem seltsamen mann. Ich glaube er sprach lange zeit zu ihr, bittend, fragend, erklärend, befehlend, vermute ich. Sie sagt daß sie es aushielt solange sie konnte. Und dann bekam er einen wutausbruch.
Er setzte sich auf und schrie fürchterlich ein wort — irgendein wort. Dann stand er auf, als ob er überhaupt nicht krank gewesen wäre, sagt sie. Und als er in fiebriger bestürzung, empörung, und verwunderung versuchte, um den tisch herum zu ihr zu gelangen, öffnete sie einfach die tür und rannte mit dem kind im arm hinaus. Sie hörte ihn zweimal die straße hinunter ihr nach rufen, mit schrecklicher stimme — und floh... Ah! Doch du solltest gesehn haben, wie sich hinter dem stumpfen, trüben blick dieser augen das gespenst der angst regte, das sie in jener nacht dreieinhalb meilen weit bis zur tür von Fosters kotten gejagt hatte! Ich sah es am tag danach.
Und ich war es, der ihn mit dem gesicht nach unten und dem körper in einer pfütze liegend fand, gerade vor dem kleinen tor aus weidengeflecht.
Ich war in jener nacht zu einem dringenden fall ins dorf gerufen worden, und fuhr auf meinem rückweg bei tagesanbruch an dem kotten vorbei. Die tür stand offen. Mein diener half mir ihn hineinzutragen. Wir legten ihn auf die couch. Die lampe qualmte, das feuer war aus, die kälte der stürmischen nacht sickerte aus der scheußlichen gelben tapete. "Amy!“ rief ich laut, und meine stimme schien sich in der leere dieses winzigen hauses zu verlieren als ob ich in eine Wüste gerufen hätte. Er öffnete die augen. „Weg!“ sagte er deutlich. „Ich hatte nur nach wasser gefragt — nur nach einem bißchen wasser...“
Er war schmutzig. Ich deckte ihn zu und wartete schweigend, dann und wann ein schmerzhaft hervorgekeuchtes wort aufschnappend. Sie waren nicht mehr in seiner muttersprache. Das fieber hatte ihn verlassen und die lebensglut mit sich genommen. Und mit seinem stoßweisen atem und seinen glänzenden augen erinnerte er mich wieder an ein wildes tier im netz, einen vogel in der falle. Sie hatte ihn verlassen. Sie hatte ihn verlassen — krank — hilflos — durstig. Der speer des jägers war in seine innerste seele gedrungen. „Warum?“ schrie er in dem durchdringenden und entrüsteten tonfall eines mannes der einen verantwortlichen schöpfer anruft. Ein windstoß und ein prasseln von regen antworteten.
Und als ich mich umdrehte um die tür zu schließen sprach er das wort „Barmherziger!“ und verschied.
Ich bescheinigte schließlich herzversagen als unmittelbare todesursache. Sein herz mußte in der tat versagt haben, denn sonst mochte er auch dies ausgesetztsein in nacht und sturm überstanden haben. Ich schloß ihm die augen und fuhr davon. Nicht sehr weit vom kotten traf ich Foster der entschlossen zwischen den tropfenden hecken einherstapfte, mit seinem collie an den fersen.
„Weißt du wo deine tochter ist?“ fragte ich.
„Etwa nicht?“ rief er. „Ich werde ein wörtchen mit ihm reden. Eine schwache frau so zu ängstigen.“
„Er wird sie nicht mehr ängstigen“, sagte ich. „Er ist tot.“
Er stieß seinen stock in den dreck.
„Und das kind?“
Dann, nachdem er eine weile angestrengt nachgedacht hatte: „Vielleicht ist es am besten so.“
Das ist was er sagte. Und sie sagt überhaupt nichts mehr. Kein wort von ihm. Nie. Ist sein bild so völlig aus ihrem gedächtnis verschwunden wie seine geschmeidig schreitende gestalt, seine singende stimme von unsern feldern? er ist nicht länger vor ihren augen, um ihre phantasie zu leidenschaftlicher liebe oder furcht zu erregen; und die erinnerung an ihn scheint aus ihrem stumpfen hirn verschwunden zu sein wie ein schatten auf einem weißen schirm vergeht. Sie lebt in dem kotten und arbeitet für Miss Swaffer. Sie ist für jedermann Amy Foster, und das kind ist "Amy Fosters junge". Sie nennt ihn Johnny — was Kleiner Hans bedeutet.
Es ist unmöglich zu sagen, ob dieser name sie an etwas erinnert. Denkt sie jemals an die vergangenheit? Ich habe sie in einer wahren raserei mütterlicher zärtlichkeit über dem bett des jungen hängen sehn. Der kleine kerl lag auf seinem rücken, ein wenig bange vor mir, aber ganz still, mit seinen großen schwarzen augen, seinem verschreckten ausdruck eines vogels in der falle. Und als ich ihn anschaute, schien ich wieder den andern zu sehen — den vater, den auf rätselhafte weise die see auswarf, damit er in der äußersten not der einsamkeit und verzweiflung untergehe.«
Übersetzt von Wilfried Käding